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NAHOST/002: Bagdad letzter Stein - blutiger Mummenschanz ... (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Juni 2014

Irak: Mossul-Flüchtlinge als Opfer der siegreichen Revolution

von Jewan Abdi


Bild: © Jewan Abdi/IPS

Flüchtlinge aus Mossul bei der Ankunft im Lager von Khazar
Bild: © Jewan Abdi/IPS

Khazar, Irak, 17. Juni (IPS) - "Männer mit langen Bärten, die wie Afghanen angezogen waren, drangen in unser Viertel ein, nachdem sie es bombardiert hatten. Wir hatten Glück, dem Albtraum zu entkommen", berichtet Aum Ahmad aus Mossul, einer Stadt 400 Kilometer nordwestlich von Bagdad.

Inzwischen lebt die 46-Jährige im Flüchtlingslager in Khazar, 25 Kilometer östlich von Mossul. "Die Kämpfer sprachen untereinander klassisches Hocharabisch. Es war uns allen klar, dass sie nicht aus dem Irak kamen", sagt die Frau, die sich mit ihrer Familie notdürftig in einem Zelt eingerichtet hat, das sie mit anderen Flüchtlingen teilt.

Bisher sind in Khazar erst wenige der etwa 500.000 Menschen angekommen, die nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars UNHCR aus Mossul geflohen sind, nachdem die Stadt am 10. Juni erobert worden war.

Schätzungsweise 300.000 Flüchtlinge aus Mossul haben offenbar Zuflucht in der irakischen Kurdenregion gesucht, die bisher von den gewaltsamen Auseinandersetzungen in den anderen Teilen des Landes weitgehend verschont blieb. Erbil, die fast 400 Kilometer nördlich von Bagdad gelegene Verwaltungshauptstadt des Kurdengebietes, dürfen jedoch nur diejenigen betreten, die dort Verwandte haben oder von anderen aufgenommen werden.


Zahlreiche Leichen auf den Straßen

Samia Hamoud, eine Mutter von acht Kindern, gehört nicht zu den Glücklichen. Sie will in dem Lager bleiben, weil sie sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder macht. "Auf meiner Straße lagen viele Leichen. Wegen der Scharfschützen konnte sie niemand wegbringen", erzählt die 48-Jährige, die bei einem Angriff auf den Stadtbezirk Nabi Yunus am Ostufer des Tigris von ihrem Mann getrennt wurde.

Es gibt eine Reihe politischer Beobachter, die den Fall der Stadt Mossul radikalislamischen ISIS-Kämpfern zuschreiben. Die Gruppe aus Dschihadisten, die früher mit dem Terrornetzwerk Al Qaeda verbunden war, beansprucht Gebiete im Irak und in Syrien.

Hamoud dagegen ist der Meinung, dass es sich bei den Angreifern um "sunnitische Milizionäre in Zivilkleidung" handelte, die "gut organisiert waren". Sie hätten an Kontrollpunkten Stellung bezogen, die Ausweise der Flüchtlinge geprüft und auf Laptops mit Internetanschluss entsprechende Informationen gesucht. "Ich glaube, sie waren auf der Suche nach Männern, die mit den irakischen Sicherheitskräften in Verbindung standen", sagt sie.


Gouverneur konnte sich in Sicherheit bringen

Dem Gouverneur der Provinz Ninive, Atheel al Nujaifi, gelang während der Attacke die Flucht aus Mossul nach Erbil. Er schließt nicht aus, dass auch andere Gruppen als ISIS hinter dem Angriff stehen. Um die Extremisten zu bekämpfen, müsse eine sunnitische Truppe gebildet und bewaffnet werden, meint er und fügt hinzu: "Die irakischen Sunniten waren nach der US-Invasion im Irak die ersten Opfer von Gruppen, die mit Al Qaeda verbündet waren."

Wie andere Städte im Westen des Landes hat Mossul zwischen Dezember 2012 und März vergangenen Jahres massive Proteste erlebt. Die Sunniten machen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 20 und 40 Prozent der rund 32 Millionen Iraker aus. Sie beklagen sich darüber, dass sie durch die überwiegend aus Schiiten bestehende politische Führungsriege zunehmend marginalisiert werden.

Ghanim Alabed war einer der bekanntesten Teilnehmer der Demonstrationen in Mossul. Der 40-jährige Buchhalter kam im April nach Erbil, nachdem die Proteste den Westen des Landes nach dem Höhepunkt der religiös motivierten Gewalt zwischen 2006 und 2008 in ein beispielloses Chaos gestürzt hatten.


"Sieg der Revolution"

"Der Fall von Mossul bedeutet einen Sieg der Revolution", sagt Alabed. Dieser Sieg sei einer gemeinsamen Operation islamischer Gruppen wie Ansar al-Sunna, der Mudschaheddin-Armee und der Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens (JRTN) zu verdanken. JRTN formierte sich 2006 nach der Hinrichtung von Ex-Diktator Saddam Hussein. Die Gruppe wird nach unbestätigten Angaben von Izzat Ibrahim al Duri befehligt, einem früheren hochrangigen Militäroffizier und Vizepräsidenten des Hussein-Regimes. Mossul war der letzte Rückzugsort von Saddam Husseins Baath-Partei.

Laut Alabed sind viele Flüchtlinge inzwischen nach Mossul zurückgekehrt. Die Straßensperren in der Stadt seien wieder entfernt worden, sodass sich die Bewohner "frei und unbehelligt" bewegen könnten. "Zu Hause feiern sie den Sieg, nachdem sie die Besatzungstruppen von Präsident Maliki losgeworden sind", sagt Alabed, der ebenfalls in seine Heimatstadt zurückgehen will.

Beobachter fragen sich allerdings, wie eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern binnen weniger Stunden erobert werden konnte. Örtliche Sunniten-Gruppen waren seit der Invasion der US-Truppen nie als sonderlich stark hervorgetreten. ISIS-Kämpfern war es zudem zwei Jahre lang nicht gelungen, kurdische Dörfer im Nordosten Syriens zu erobern.


Armeekommandeure setzten sich ab

Der ehemalige Armeesoldat Salem, der seinen vollen Namen nicht nennen will, sieht sich und seine Kameraden von den eigenen Kommandeuren verraten. "Als wir merkten, dass sie alle weg waren, zogen wir die Uniformen aus", erzählt der 35-Jährige, während er für ein Flugticket von Erbil nach Bagdad ansteht.

Salem hatte mehr als drei Jahre in Mossul in der Armee gedient. Wie die meisten der im überwiegend sunnitischen Westirak stationierten Soldaten ist auch er Schiite. Ob die Angreifer ISIS-Kämpfer oder militante Sunniten waren, weiß er nicht. Salem verspürt nach eigenen Angaben kein großes Bedürfnis, Menschen zu verteidigen, die die Schiiten hassen. Er ist sich sicher, dass viele Bewohner Mossuls froh darüber sind, dass die Armee nicht mehr da ist. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/06/mosul-refugees-victims-of-victory-of-the-revolution/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2014