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NAHOST/012: Bagdad letzter Stein - mürbe, zwangsverletzt und widersprüchlich ... (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. September 2015

Irak: Leben an der Front - Peschmerga- und PKK-Kämpfer gemeinsam gegen den IS

von Karlos Zurutuza



Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Ein PKK-Kämpfer in Nouafel, einem arabischen Dorf westlich von Kirkuk im Nordirak
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KIRKUK, IRAK (IPS) - An die Anwesenheit irakischer Soldaten erinnern im Militärlager KI nur noch Wandgemälde an Mauern und Toren. Sie zeigen die Militärs, wie sie vor der Landesflagge salutieren, in die Zielfernrohre ihrer Waffen blicken oder von jubelnden Familien begrüßt werden. Doch als die Kämpfer des Islamischen Staats im Juni 2014 in die Stadt einmarschierten, ergriffen die Truppen die Flucht und ließen alles zurück.

Heute wird die Garnison von Peschmerga-Einheiten - kurdischen Armeesoldaten - und Kämpfern der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gehalten. Es ist der gemeinsame Feind IS, der die beiden Fraktionen zusammenschweißt. Feinde, die sich in den 1990er Jahren noch gegenseitig bekämpft hatten.

Ein Besuch an der gemeinsamen Front ermöglicht einen Blick auf die komplexe ethnische und ideologische Dynamik in der Region und auf die Beziehung zwischen den bewaffneten Gruppen und der lokalen Bevölkerung. Nach einer kurzen Einführung bietet Heval Rebar, Kurdisch für 'Kamerad Rebar' eine Rundfahrt Richtung Süden an. Es geht vorbei an Schutzwällen, Militärposten und Dörfern, die vom IS rückerobert wurden. Einige wurden durch die Luftangriffe der USA und deren Verbündete völlig zerstört.

Wie der Peschmerga-Oberst Masim Jafar von einem Bunker in der Nähe eines 15 Meter hohen Felsvorsprungs aus berichtet, werde "ständig" gekämpft. "Wir werden von Scharfschützen aus Häusern und einem vom Feind neu errichteten Turm beschossen. Zudem greift uns der IS mit improvisierten Sprengkörpern aus Gaskanistern an. Der letzte Schusswechsel liegt nur eine Stunde zurück", sagt er.


"Gemeinsam gegen die Gefahr für die gesamte Menschheit"

Man sei dankbar für die Unterstützung der PKK-Einheit, zu der man gute Beziehungen unterhalte, versichert er. "Wir kämpfen nicht nur gemeinsam für das kurdische Volk, sondern auch gegen den IS, der eine Gefahr für die gesamte Menschheit darstellt", betonte Jafar, und Kamerad Rebar zu seiner Rechten nickt.


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Peschmerga-Oberst Jamal Masim Jafar
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Nach der obligatorischen Tasse Tee geht es zu einem Felsvorsprung, der den Blick auf Al Noor freigibt, eine der vielen Siedlungen, die der ehemalige, gestürzte Machthaber Saddam Hussein auf kurdischem Land für arabische Siedler bauen ließ.

Al Noor steht zwar immer noch unter der Kontrolle des IS. Doch in der ersten Septemberwoche konnten die kurdischen Truppen im Rahmen einer größeren Offensive neun Dörfer und ein 24 Quadratkilometer großes Areal zurückerobern.

"Diese Gewinne waren nur aufgrund der internationalen Unterstützung in Form von Nachschub und Luftangriffen möglich", berichtet Jafar, während er sich auf ein Militärfahrzeug zubewegt.

"Wir haben gerade einige französische Maschinengewehre auf den Ladeflächen unserer Pick-ups installiert", berichtet er. "Außerdem erhalten wir Nachtsichtgeräte, die in einem solchen feindlichen Umfeld extrem wichtig sind, und Milan-Lenkraketen aus Deutschland. Und wann immer wir Deckung aus der Luft benötigen, bekommen wir sie auch", versichert der kurdische Kämpfer, der nach eigenen Angaben sieben Jahre mit US-amerikanischen Truppen im Irak stationiert war. Er würde die Ankunft ausländischer westlicher Truppen in der Region begrüßen, meint er.

Traditionell erheben Kurden, arabische Sunniten und Turkmenen gleichermaßen Anspruch auf die ölreiche Stadt Kirkuk, die in den sogenannten 'umstrittenen Territorien' liegt, die wiederum von Bagdad und nordwestlich gelegenen kurdischen Stadt Erbil beansprucht werden. Schon vor der Erhebung und dem Einmarsch des IS war es zu ethnischen und religiösen Zusammenstößen in diesem Teil des Landes gekommen. Die Zivilbevölkerung geriet ständig zwischen die Fronten.

Nouafel ist ein arabisches Dorf in unmittelbarer Nähe eines Schutzwalles, der von den PKK-Kämpfern gehalten wird. Die genaue Zahl der hier stationierten Kämpfer will Kamerad Selim aus militärisch-strategischen Gründen nicht nennen. "Es reicht, um den IS zu bekämpfen", erklärt er mit einem verschmitzten Lächeln. Von einem kleinen Hügel aus beobachtet ein weiterer Kämpfer, Kamerad Farashin, mit einem Feldstecher Wastaniya, das nächstgelegene Dorf unter IS-Kontrolle.

Mit leichten Waffen für Heckenschützen und einigen Maschinengewehren wirken die PKK-Rebellen längst nicht so gut bewaffnet wie ihre Peschmerga-Kollegen. Doch Kamerad Aso macht klar, dass die PKK-Kämpfer keinen Grund haben, sich vernachlässigt zu fühlen.

"Im Frühjahr wurden wir von zwei italienischen Ausbildern in den Häuserkampf unterwiesen. Ich habe viel zu dem, was man mir in Kandil [dem militärischen Stützpunkt der Kurden im Gebirge] beigebracht hat, hinzugelernt", versichert der Mann aus der nahegelegenen Stadt Tus Chormato, einem vorwiegend turkmenischen Bezirk 170 Kilometer nördlich von Bagdad entfernt.

"Sie waren schon sehr professionell", fügt der knapp über 20-Jährige hinzu. "Wir durften sie nie fotografieren und sie haben uns auch nicht verraten, für welche Organisation sie tätig sind."


Lokalbevölkerung geblieben

Was diesen Militärposten besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass die lokale Bevölkerung geblieben ist. Bei dem Besuch eines Privathauses werden die Kämpfer scheinbar freundschaftlich begrüßt. Es werden Grüße ausgetauscht, und manche der Kämpfer versuchen mit einigen arabischen Worten das Eis zu brechen. In der Zwischenzeit serviert der Gastgeber Arkan Ali Bader arabischen Kaffee, den alle aus einer gemeinsamen Tasse trinken.

Aus der Ferne sind Gewehrsalven zu hören, doch die Gesichter der Dorfbewohner bleiben unbeweglich. Offenbar sind sie nach einem Jahr Erfahrung an die Schüsse gewöhnt. Bedauerlich sei, so Ali Bader zu IPS gewandt, dass das Land der meisten Dorfbewohner im Niemandsland zwischen Kurden und IS liege.


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

PKK-Kämpferinnen in der nordirakischen Stadt Kirkuk
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Juma Hussein Toma berichtet, dass sich in den sieben Monaten unter der Kontrolle des IS für die Menschen ihres Dorfes wenig geändert habe. "Als der IS kam, ließ er über die Lautsprecher der Moschee den Sieg über die Ungläubigen verkünden. "Doch keiner unserer Dorfbewohner wurde bedroht."

"Der IS hat einige Leute in Al Noor getötet, die einem Erweckungsrat angehörten, doch von uns wurde niemandem ein Haar gekrümmt", berichtet seinerseits Mohamed al Ubeid. Erweckungsräte sind von den USA im Kampf gegen Al Kaida unterstützte irakische Milizen.

Die Einwohner von Nouafel versicherten, sehr froh über die Ankunft der PKK-Kämpfer zu sein. Doch da sie die Äußerungen in Anwesenheit von Peschmerga- und PKK-Kämpfern machen, ist unklar, ob sie tatsächlich meinen, was sie sagen, oder ob sie dazu gezwungen werden.

Bei dem Austausch höflicher Abschiedsfloskeln zeigt ein PKK-Kämpfer auf den Graben, der das Militärquartier in Nouafel umschließt. "Den mussten wir ziehen, weil wir den Dorfbewohnern nicht trauen", räumt er ein, bevor er wieder seinen Posten an dem Schutzwall einnimmt. (Ende/IPS/kb/10.09.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/09/in-and-behind-the-trenches-against-isis/

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IPS-Tagesdienst vom 10. September 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2015

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