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NAHOST/014: Bagdad letzter Stein - das Recht des Volkes ... (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 27. Februar 2017
(german-foreign-policy.com)

Die Spaltung des Irak


BAGDAD/ERBIL/BERLIN - Die von Berlin protegierte Regionalregierung im kurdischsprachigen Norden des Irak fordert die Spaltung des Landes und die Gründung eines eigenen Staates. Ein Referendum über die Sezession sei "ein natürliches, gottgegebenes Recht des Volkes in Kurdistan", erklärt Masud Barzani, der Präsident der Kurdischen Regionalregierung (KRG). Es gehe um die staatliche Unabhängigkeit, bekräftigt KRG-Außenminister Falah Mustafa. Absprachen darüber sollen am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz getroffen worden sein. Barzani bezieht die kurdischsprachigen Gebiete Syriens und der Türkei ausdrücklich nicht in seine Staatsgründungspläne ein. Experten warnen schon lange, der Irak könne nach einem Sieg über den IS zerbrechen oder aber in einem neuen Bürgerkrieg versinken. Die KRG kann sich bei ihren Forderungen nach Eigenstaatlichkeit auf deutsche Vorarbeiten stützen: Berlin hat sich stets in besonderem Maß um Unterstützung für die kurdischsprachigen Gebiete des Irak bemüht und seit September 2014 sogar die KRG-Streitkräfte ("Peschmerga") trainiert und aufgerüstet - im Rahmen des Krieges gegen den IS. Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen und von US-Experten, die Peschmerga betrieben im Windschatten dieses Krieges "ethnische Säuberungen", um missliebige Araber aus dem erstrebten "Kurdistan" zu vertreiben, wurden von Berlin konsequent ignoriert.

Vor dem nächsten Bürgerkrieg

Vor einem Zerfall des Irak oder dem Versinken des Landes in einem neuen Bürgerkrieg mit neuen Fronten nach der erhofften Rückeroberung der Großstadt Mossul warnen Beobachter schon lange. Hintergrund ist die tiefgreifende soziopolitische Spaltung, die dem Irak seit dem US-geführten Überfall des Jahres 2003 und der anschließenden Besatzungsherrschaft schwer zu schaffen macht. Faktisch sei das Land schon längst in drei Teile zerfallen, konstatiert etwa der Publizist Wilfried Buchta, ein ehemaliger politischer Analyst der UN-Mission in Bagdad (UNAMI), in einer Publikation der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS): Den schiitisch dominierten Territorien im Süden des Landes und in der Hauptstadt stünden die sunnitischen Gebiete vor allem im Westen sowie der kurdische Norden jeweils unversöhnlich gegenüber. Gegenwärtig würden die drei Blöcke, die mittlerweile zutiefst verfeindet seien, vor allem noch durch den gemeinsamen Kampf gegen einen gemeinsamen Feind, den IS, mit knapper Mühe zusammengehalten. Ob es der Regierung in Bagdad aber gelingen werde, nach dem erhofften Sieg über den IS die Einheit des zerrütteten Landes zu wahren, sei völlig unklar. Erschwerend komme hinzu, erläutert Buchta, dass diverse äußere Mächte intervenierten - neben den NATO-Staaten vor allem Iran und, trotz NATO-Mitgliedschaft in einer besonderen Rolle, die Türkei.[1] "Ich rechne mit einer Fortsetzung des Bürgerkriegs, und das auf Jahre", warnt der Mittelostspezialist.[2]

Der Casus Belli

Zu Jahresbeginn hat Buchta ausdrücklich auf die Rolle der Kurdischen Regionalregierung (KRG) im nordirakischen Erbil hingewiesen. Die KRG verfüge seit der Annahme der neuen irakischen Verfassung im Oktober 2005 über "verbriefte Autonomierechte", konstatiert der Experte - "inklusive einer eigenen Armee (Peshmerga), Verfassung, Parlament und eigenem ausschließlich kurdischsprachigen Schul- und Universitätswesen".[3] Inzwischen strebe sie offen und "immer vehementer die vollkommene Unabhängigkeit an". Dabei sei es ihr im Sommer 2014 gelungen, in einer ersten Offensive gegen den IS "die öl- und gasreichen Regionen um Kirkuk" einzunehmen und damit ihr Territorium um rund 40 Prozent zu vergrößern. "Die Frage, wem Kirkuk gehört, ist bis heute nicht einvernehmlich zwischen Bagdad und Erbil geklärt", erinnert Buchta: "Nach der Befreiung Mossuls dürfte die Kirkuk-Frage zusammen mit der Frage, wem die von Kurden besetzten Gebiete in und um Mossul nun gehören, über kurz oder lang den Casus Belli für eine direkte militärische Eskalation zwischen Bagdad und Erbil schaffen."

Ad acta gelegt

Die Chance auf Sezession verdanken die KRG und der sie dominierende Barzani-Clan in hohem Maße Berlin. Das gilt bereits für die Verfassungsbestimmungen aus dem Jahr 2005, die ihnen eine weitreichende Autonomie garantierten: Während der Ausarbeitung der Verfassung überzeugte eine Vorfeldorganisation der deutschen Außenpolitik, die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung, im Sommer 2005 in einer Serie von Veranstaltungen und Seminaren einflussreiche irakische Politiker und Experten von der "Funktionalität föderaler Institutionen in der Praxis" - und trug damit dazu bei, dass sich letzten Endes auch Anhänger des Zentralstaats, die von Beginn an eine Abspaltung der kurdisch dominierten Gebiete befürchteten, auf die Gewährung umfassender Autonomierechte einließen.[4] In den folgenden Jahren hat Berlin systematisch darauf hingearbeitet, Erbil politisch und ökonomisch zu stärken und damit die Eigenständigkeit des Gebiets zu fördern; dies führte schon vor Jahren zu heftigem Streit mit der Regierung in Bagdad (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Der jüngste Coup Berlins ist die Ausbildung und Bewaffnung der Peschmerga, der KRG-Streitkräfte, im Rahmen des Krieges gegen den IS gewesen. Beobachter hatten bereits vor dem Beginn der Maßnahmen gewarnt, Erbil werde, sollte es eine durchsetzungsfähige Truppe erhalten, die Abspaltung seiner Territorien vornehmen: "Eine ausschließliche Bewaffnung der Kurden" bedeute "faktisch die Anerkennung der Teilung" des Irak, urteilte etwa der Politikwissenschaftler und Publizist Abdel Mottaleb El Husseini; "den Irak als Staat" könne man dann "ad acta" legen.[6]

"Was aus Jugoslawien wurde"

Die KRG-Führung in Erbil hat nun tatsächlich die Abspaltung der kurdischsprachigen Landesteile gefordert. Wie KRG-Präsident Masud Barzani am vergangenen Freitag im Gespräch mit einer führenden deutschen Tageszeitung bekräftigte, werde er dazu ein Referendum organisieren: "Ein Referendum abzuhalten" sei "ein natürliches, gottgegebenes Recht des Volkes in Kurdistan". "Ich glaube nicht, dass sich Bagdad gegen das natürliche Recht unseres Volkes sperren wird", erklärte Barzani: "Und täte es das, würde uns das trotzdem nicht zurückhalten."[7] Der stets von Berlin unterstützte KRG-Präsident ergänzte: "Wir wissen alle, was aus Jugoslawien geworden ist"; man müsse akzeptieren, "dass die offiziellen Grenzen nichts mehr bedeuten und Geschichte sind". Barzani hat allerdings darauf hingewiesen, dass er seine Abspaltungsforderung keinesfalls auf die kurdischsprachigen Gebiete Syriens oder gar der Türkei angewandt wissen will; er kooperiert seit Jahren eng mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan.[8] Am Wochenende hat KRG-Außenminister Falah Mustafa die Forderung nach Abspaltung bekräftigt und erklärt, "das Recht auf Selbstbestimmung" müsse "auf den Tisch": "Wir müssen dieses ungesunde Verhältnis [zu Bagdad] beenden."[9] Staatliche "Unabhängigkeit" dürfe nicht ausgeschlossen werden. Wie berichtet wird, hat KRG-Präsident Barzani am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz, zu der er eingeladen war, entsprechende Absprachen getroffen - unter anderem mit US-Vizepräsident Mike Pence. Laut KRG-Außenminister Mustafa kommt eine Teilrückgabe von den Peschmerga eroberter Gebiete an die Regierung in Bagdad als Gegenleistung gegen die Gewährung der Eigenstaatlichkeit in Betracht.

Ethnische Säuberungen

Die Abspaltungsforderungen bestätigen den Verdacht, dass es sich bei gewissen Operationen der Peschmerga in Ortschaften, die sie seit dem Sommer 2014 erobern konnten - teils mit Hilfe deutscher Waffen -, um langfristig geplante Maßnahmen handelte. Menschenrechtsorganisationen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Peschmerga gezielt Häuser arabischsprachiger Einwohner zerstörten und ihnen damit die Lebensgrundlage raubten. Nachgewiesen ist dies für 21 Dörfer, darunter 17 rings um Kirkuk; klare Hinweise, insbesondere Satellitenfotos, liegen für mindestens 62 weitere Ortschaften vor (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Proteste der Bundesregierung, deren Rückendeckung die KRG genießt, gegen die offenkundig gezielte Vertreibung arabischsprachiger Bevölkerungsteile sind nicht bekannt. US-Experten hatten bereits im Sommer 2015 geurteilt, es handle sich - im Windschatten des Krieges gegen den IS - um eine "Kampagne ethnischer Säuberungen" zugunsten "eines künftigen kurdischen Staats".[11]


Anmerkungen:

[1] Wilfried Buchta: Verfrühte Abgesänge auf den IS. Die Mossul-Offensive und ihre möglichen Folgen. Bundesakademie für Sicherheitspolitik: Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 29/2016.

[2] Christian Böhme: "Am Ende könnte der IS profitieren".
www.tagesspiegel.de 23.02.2017.

[3] Wilfried Buchta: Die irakische Mossul-Offensive. In: Politische Studien 471, Januar/Februar 2017. S. 37-47.

[4] S. dazu Reformkurs.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/53900

[5] S. dazu Im Windschatten des Krieges.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59487

[6] "Die Kurden könnten Deutschland noch richtig ärgern".
www.focus.de 23.08.2014.
S. dazu Von Kurdistan nach Alawitestan.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58931

[7] "Die Tage des Iraks als Zentralstaat sind gezählt". Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.02.2017.

[8] S. dazu Ein verzweifelter Abwehrkampf.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58967

[9] Mark Townsend: Kurds offer land for independence in struggle to reshape Iraq.
www.theguardian.com 25.02.2017.

10] S. dazu Die Schlacht um Mossul (II)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59481
und Im Windschatten des Krieges
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59487

[11] Sara Elizabeth Williams: Destroying Homes for Kurdistan.
foreignpolicy.com 23.07.2015.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2017

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