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SYRIEN/107: Dominostein Damaskus - der Knüppel beim Hund ... (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 4. Mai 2016
(german-foreign-policy.com)

Totalitäre Milizen


BERLIN/DAMASKUS - Nach einem Raketenangriff syrischer Rebellenmilizen auf ein Krankenhaus in Aleppo kündigt Außenminister Frank-Walter Steinmeier für den heutigen Mittwoch Verhandlungen mit einem syrischen Oppositionsführer in Berlin an. Ziel ist es, die Rebellenmilizen zur Wiederaufnahme der Genfer Friedensgespräche zu bewegen und nach Möglichkeit auch den Waffenstillstand wiederherzustellen. Dieser steht seit gut drei Wochen vor dem totalen Kollaps - insbesondere, weil der Al Qaida-Ableger Al Nusra, für den die Waffenruhe nicht gilt und der deshalb nicht von ihr profitiert, in Aleppo neue Terrorangriffe gestartet und zwei verbündete Milizen in sie eingebunden hat. Die beiden Milizen (Ahrar al Sham, Jaish al Islam) sind von engen Kooperationspartnern der Bundesrepublik finanziert und aufgerüstet worden; Außenminister Steinmeier hat sich trotz ihrer Kooperation mit Al Qaida für ihre Beteiligung an den Genfer Gesprächen stark gemacht. Aktuelle Berichte zeigen, welche Herrschaftsverhältnisse Syrien erwarten, sollten nach einem Sturz von Bashar al Assad Organisationen wie Jaish al Islam an die Macht kommen: Der Miliz, die ein Gebiet östlich von Damaskus kontrolliert, werden die blutige Unterdrückung Andersdenkender, schwere Folter und willkürliche Hinrichtungen vorgeworfen.


Syrien-Verhandlungen in Berlin

Für den heutigen Mittwoch kündigt das Auswärtige Amt neue Verhandlungen über eine Rückkehr zu den Genfer Friedensgesprächen und zum Waffenstillstand in Syrien an. Außenminister Frank-Walter Steinmeier wird dazu den syrischen Oppositionsführer Riad Hijab und den UN-Sondergesandten Staffan de Mistura in Berlin empfangen. Anreisen wird auch der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault. Ziel ist es, "die Bedingungen für eine Fortsetzung der Syrien-Friedensgespräche in Genf" auszuloten.[1] Derzeit gilt es als zumindest unklar, ob die Gespräche wie ursprünglich geplant Mitte des Monats fortgesetzt werden können; die syrische Opposition droht, sie künftig zu boykottieren. Mit der Durchführung des heutigen Treffens in Berlin trägt das Auswärtige Amt auch dem Bemühen der Bundesregierung Rechnung, im Nahen und im Mittleren Osten künftig noch stärker als bisher aktiv zu werden. Washington dringt seit geraumer Zeit auf Entlastung in der Region durch die EU, weil es sich stärker auf den Konkurrenzkampf gegen die Volksrepublik China konzentrieren will.


Kein Waffenstillstand

Der Bruch des Waffenstillstands, der die Fortsetzung der Friedensgespräche akut gefährdet und zu den heutigen Berliner Verhandlungen geführt hat, ist in hohem Maße durch die Miliz Ahrar al Sham verursacht worden, die von engen Verbündeten Berlins, insbesondere von Saudi-Arabien und der Türkei, gefördert und aufgerüstet worden ist - obwohl sie unmittelbar mit dem Al Qaida-Ableger Jabhat al Nusra zusammenarbeitet. Ahrar al Sham kämpft auch in diesen Tagen in Aleppo an der Seite von Al Nusra. Der Al Qaida-Ableger hatte vor gut drei Wochen neue Angriffe gestartet, weil er von dem Waffenstillstand ausgenommen ist und deshalb keinen Nutzen aus ihm zieht. Ahrar al Sham, eigentlich an den Waffenstillstand gebunden, hatte sich an den Al Qaida-Attacken beteiligt und damit tatkräftig zu der neuen Eskalation beigetragen.[2] Unklar ist, ob auch der gestrige Raketenangriff auf ein Krankenhaus in einem von der Regierung kontrollierten Viertel von Aleppo, bei dem mindestens 19 Menschen getötet und mehr als 80 verletzt wurden, von Ahrar al Sham verübt wurde; Beobachtern zufolge könnten auch Jabhat al Nusra oder die Miliz Jaish al Islam die mörderische Attacke zu verantworten haben. Die Urheberschaft ist schwer festzustellen: Alle drei genannten Milizen kämpfen gemeinsam für einen salafistischen "Gottesstaat" in Aleppo.


Im Bündnis mit Al Qaida

Die Beteiligung von Ahrar al Sham und Jaish al Islam an den Genfer Friedensgesprächen führt aktuell zu ernsten Auseinandersetzungen bei den Vereinten Nationen. Für die Einbindung der beiden Milizen hatte sich unter anderem Außenminister Steinmeier eingesetzt (german-foreign-policy.com berichtete [3]); sie wird weiterhin von den westlichen Mächten befürwortet. Die russische Regierung hat nun am 26. April beim Counter-Terrorism Committee Executive Directorate (CTED) der Vereinten Nationen einen Antrag eingereicht, beide Milizen offiziell auf die UN-Liste terroristischer Organisationen zu setzen. Auf nationaler Ebene haben diesen Schritt im Falle von Ahrar al Sham unlängst die Vereinigten Arabischen Emirate vollzogen. Moskau begründet seinen Antrag damit, dass beide Milizen eng mit dem Al Qaida-Ableger Al Nusra kooperieren. Im Fall Ahrar al Shams hat dies erst vor kurzem eine Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bestätigt, die detailliert beschreibt, wie Ahrar al Sham und Al Nusra gemeinsame Kriegsoperationen gestalten - terroristische Taktiken inklusive. "Das Bündnis zwischen Ahrar und Nusra ist intakt", urteilt der Autor, der warnt, dass, wer Ahrar al Sham "aufwertet, indirekt die Nusra-Front und damit al-Qaida stärkt".[4]


Folter und Mord

Eine vielleicht noch folgenreichere Rolle als Ahrar al Sham spielt Jaish al Islam, eine Miliz, die insbesondere von Saudi-Arabien, ebenfalls einem zentralen Verbündeten Berlins, aufgebaut wurde. Ihr politischer Führer Mohammed Alloush ist im Januar vom syrischen Oppositionsführer Riad Hijab, dem heutigen Gesprächspartner von Außenminister Steinmeier, zum Chefunterhändler bei den Genfer Friedensgesprächen ernannt worden. Dies ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil seine Miliz mit dem Al Qaida-Ableger Al Nusra kooperiert. Jaish al Islam ist zudem stärkste Kraft in einem Milizenbündnis, das den östlichen Teil der Region Ghuta bei Damaskus kontrolliert. Beobachter urteilen, die Herrschaftsverhältnisse dort könnten als Modell dafür gelten, was für Syrien nach einem eventuellen Sturz von Bashar al Assad zu erwarten sei. Der schwedische Islamismus-Experte Aron Lund hat kürzlich die Lage in der östlichen Ghuta beschrieben. Demnach gibt es dort zwar ein übergeordnetes Herrschaftsgremium ("Unified Judiciary Council"), doch hat keine der regionalen Milizen die Kontrolle über ihre Waffen und ihre finanzielle und militärische Unabhängigkeit aufgegeben. Ein Aufstand Andersdenkender wurde 2015 blutig niedergeschlagen; von zahllosen Toten und mehr als 1.300 Gefangenen ist die Rede. Viele Milizenführer unterhielten Privatgefängnisse, heißt es; insbesondere Jaish al Islam werde beschuldigt, Geheimverliese zu betreiben.[5] Ehemalige Gefangene berichten von brutaler Folter, Schlägen mit Metalldraht und Elektroschocks. Selbst Jugendliche unter 16 Jahren würden in den Folterkerkern interniert, Kritiker von Jaish al Islam würden dort 18 Monate oder sogar länger festgehalten.[6] Mittlerweile ist von einer zunehmenden Zahl willkürlicher Hinrichtungen die Rede. Die Herrschaft von Jaish al Islam wird in Berichten als "totalitär" bezeichnet.


Der Zauberlehrling

Außenminister Steinmeier will Riad Hijab, der den Jaish al Islam-Führer Mohammed Alloush im Januar zum Genfer Chefunterhändler der syrischen Opposition ernannte, am heutigen Mittwoch veranlassen, die Genfer Syrien-Friedensgespräche fortzuführen. Es gehe darum, "eine effektive Übergangsregierung ... mit exekutiven Aufgaben zu bilden", wird Steinmeier zitiert [7]; dies müsse "mit Vertretern der Opposition und des Regimes" gemeinsam geschehen. Dabei könne es "noch nicht darum" gehen, "Baschar al-Assad sofort und unmittelbar als Präsident abzulösen", erklärt Steinmeier. Dies sei erst mittel- bis langfristig möglich, heißt es inzwischen auch in Berlin. Die Frage ist lediglich, ob die mit Al Qaida kooperierenden Foltermilizen sich zu einer gemeinsamen Übergangsregierung bereiterklären. Die westlichen Mächte befinden sich in Syrien mittlerweile in zumindest partieller Abhängigkeit von Salafisten und Jihadisten, die von Verbündeten des Westens mit dessen Billigung aufgebaut und aufgerüstet wurden, deren Bereitschaft zur Unterordnung unter die Pläne der EU- und NATO-Staaten nun aber zumindest in Frage steht.


Mehr zum Thema: Kampf um Syrien, Kampf um Syrien (II), Kampf um Syrien (III), Kampf um Syrien (IV) und Im Bündnis mit Al Qaida.


Anmerkungen:

[1] Syrien-Gespräche in Berlin. Pressemitteilung des Auswärtigen Amts. Berlin, 03.05.2016.

[2] Erneut Krankenhaus angegriffen: Mindstens 19 Tote.
www.tagesspiegel.de 03.05.2016.

[3] S. dazu Steinmeier und das Oberlandesgericht
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59296

[4] S. dazu Im Bündnis mit Al Qaida.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59343

[5] Aron Lund: An Islamist Experiment: Political Order in the East Ghouta.
carnegieendowment.org 18.04.2016.

[6] Youmna al-Dimashqi: Iron Rule: Jaish al-Islam in Eastern Ghouta.
www.newsdeeply.com 22.03.2016.

[7] "Die Türkei bleibt für Europa ein Schlüsselland für Migration".
www.welt.de 30.04.2016.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2016

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