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WESTSAHARA/025: Zusammenfassung des Amnesty-Berichts zu den Ereignissen in Al-Aaiun am 8.11.2010 (ai)


Amnesty International

Marokko und Westsahara - Menschenrechte vor dem Hintergrund von Protesten, Gewalt und Unterdrückung mißachtet

Von Françoise Guillitte - Montag, 20. Dezember 2010


Öffentliche Erklärung
Index AI: MDE 29/020/2010 (Public)
ÉFAI
20. Dezember 2010

In einem neuen Bericht, der am 20. Dezember der Öffentlichkeit präsentiert wurde, appelliert Amnesty International an die marokkanischen Behörden, eine gründliche, unabhängige und unparteiische Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen durchzuführen, die sich in Zusammenhang mit den Ereignissen des 8. November 2010 in Al-Aaiun in der Westsahara unter marokkanischer Verwaltung zugetragen haben, und die für diese Verstöße Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.

Es kam zu gewalttätigen Zusammenstößen, als die marokkanischen Sicherheitskräfte am Montag, den 8. November bei Tagesanbruch in das Zeltlager Gedeim Izik eindrangen, um es zu räumen. Dieses war Anfang Oktober von Saharauis einige Kilometer von Al-Aaiun entfernt in der Wüste errichtet worden, um gegen die Marginalisierung, der sie sich ausgesetzt sehen, sowie gegen Arbeitslosigkeit und die schlechten Wohnbedingungen zu protestieren.

Der Bericht von Amnesty International 'Rights Trampled: Protests, Violence and Repression in Western Sahara'(*) bezieht sich auf eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen, die am Montag, den 8. November sowohl im Zeltlager als auch in Al-Aaiun begangen wurden. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen, als die Sicherheitskräfte eingriffen, um das Lager zu räumen; die Unruhen haben sich schließlich nach Al-Aaiun ausgeweitet, wo sich protestierende Saharauis und ortsansässige Marokkaner Auseinandersetzungen lieferten - Wohnhäuser, Läden und Firmen sowie öffentliche Gebäude wurden in Brand gesteckt. Zahlreiche Saharauis wurden verhaftet, geschlagen, gefoltert oder auf andere Weise schlecht behandelt.

Dreizehn Personen - elf Mitglieder der Sicherheitskräfte und zwei Saharauis - sind im Zuge der Gewalt im Zeltlager und in Al-Aaiun ums Leben gekommen. Die schwerste Bilanz in Zusammenhang mit der Zerstörung des Zeltlagers hatten die Sicherheitskräfte zu verbuchen, die neun ihrer Männer verloren, die bei den Zusammenstößen oder durch bewußte Angriffe von Saharauis starben, die sich der Zerstörung ihres Lagers widersetzten. Die genauen Umstände sind noch nicht geklärt, aber die Ermittler von Amnesty International, die Ende November vor Ort waren, befragten zahlreiche Zeugen, die ihnen bestätigten, daß die Mitglieder der Sicherheitskräfte nicht zögerten, auf alte Frauen mit dem Gummiknüppel einzuschlagen, um sie aus ihren Zelten zu treiben, bevor diese zerstört wurden. Einige wiesen zwei Wochen später noch deutlich sichtbare Verletzungen auf.

Aufgrund seiner eigenen Recherchen ist Amnesty International zu dem Schluß gekommen, daß die marokkanischen Sicherheitskräfte möglicherweise nicht die Absicht hatten, exzessive Gewalt zu gebrauchen, um das Zeltlager zu zerstören und die Protestierenden auseinanderzutreiben, sondern daß sich in mehreren Fällen deutlich exzessive Gewalt gegen Protestierende richtete, die keine Gefahr darstellten und keinen Widerstand leisteten.

Die Nachricht von der Räumung des Lagers durch die Sicherheitskräfte erreichte schnell Al-Aaiun, wo sie - genährt durch extrem schreckenverbreitende Gerüchte, die von Toten unter den Saharauis und Gewalttaten der Sicherheitskräfte berichteten - gewalttätige Proteste der Saharauis provozierte, die sich gegen öffentliche Gebäude, Banken, Autos und andere Habe im Besitz marokkanischer Bürger oder von Saharauis richteten, die als der marokkanischen Verwaltung Westsaharas zugeneigt gelten. Nach einer kurzen Zeit der Beruhigung brachen neue Gewalttätigkeiten aus, diesmal wendeten sich die marokkanischen Anwohner gegen Häuser, Läden und Firmen, die den Saharauis gehörten; mehrere saharauische Anwohner wurden verprügelt. Die Sicherheitskräfte vor Ort schritten nicht ein, als die Häuser und Geschäfte der Saharauis angegriffen wurden, und leisteten den Angreifern in einigen Fällen sogar Hilfe.

Die marokkanischen Sicherheitskräfte haben am Montag, den 8. November und den darauf folgenden Tagen und Wochen rund 200 Saharauis verhaftet. Indessen fanden bis zum heutigen Tag, nach unserer Kenntnis, weder Überprüfungen noch strafrechtliche Verfolgungen in Zusammenhang mit den von den marokkanischen Anwohnern begangenen Überfällen auf Saharauis, ihre Häuser oder ihren Besitz statt.

Alle Saharauis, die von Amnesty International befragt wurden, haben die Art und Weise beschrieben, wie sie geschlagen oder gefoltert wurden oder die schlechte Behandlung, der sie zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung oder während ihres Arrests durch die marokkanischen Behörden ausgesetzt waren. Die meisten von ihnen hatten Narben und sichtbare Verletzungen, die ihre Zeugenaussage stützten. Dennoch haben die marokkanischen Behörden keinerlei Maßnahmen ergriffen, um solche Anschuldigungen wegen Folter oder anderer schlechter Behandlung zu untersuchen, wie es die 'Konvention der Vereinten Nationen gegen die Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe' und der 'Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte', die der Staat Marokko unterzeichnet hat, vorsehen.

Die marokkanischen Behörden sind für den Schutz der öffentlichen Sicherheit und die Bestrafung krimineller Handlungen verantwortlich, dürfen dabei jedoch keine Unterschiede machen und müssen vollständig die Menschenrechte achten. Wenn sie vor dem Hintergrund von Protesten die Ordnung schützen, dürfen die Sicherheitskräfte nicht auf exzessive Gewalt zurückgreifen, sondern müssen ihren Einsatz auf das unverzichtbare, absolute Minimum beschränken und auf Verhältnismäßigkeit achten. Gewaltakte gegen Personen unter Arrest, die keine Gefahr darstellen, sind immer illegal und dürfen nicht toleriert werden.

Der Bericht von Amnesty International hebt auch die Tatsache hervor, daß die Familien der Verhafteten unter Bruch marokkanischen Rechts - in einigen Fällen zwei Wochen lang - von den Behörden keine Nachricht über die Verhafteten erhielten. Das korrespondiert mit der Einschränkung des Zugangs zu Informationen durch die marokkanischen Behörden, insbesondere für Journalisten, die über die Ereignisse berichten wollten, und denen der Zugang nach Al-Aaiun verweigert wurde, was unnötige Sorge bei den Familien auslöste, von denen einige befürchteten, ihre Angehörigen seien getötet worden.

Gegen mehr als 130 Saharauis wird nach den Ereignissen von Montag, dem 8. November derzeit gerichtlich ermittelt. 19 von ihnen werden vor einem Militärtribunal erscheinen, auch wenn es sich um Zivilisten handelt; einige von ihnen sind bereits bekannte, politisch militante Saharauis, die sich für die Selbstbestimmung der Westsahara einsetzten. Ihre Verhaftung läßt von neuem befürchten, daß die Behörden versuchen, Personen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen oder friedlichen Widerstand leisten, wegen ihrer politischen Überzeugungen mit den Ereignissen des 8. November in Zusammenhang zu bringen.

Einige der Beschuldigten sind ohne anwaltlichen Beistand vor dem Untersuchungsrichter erschienen und etliche haben auf sichtbare Anzeichen von Folter und anderen Mißhandlungen hingewiesen und sich über die erlittene Gewalt beklagt. Nicht einer von ihnen wurde indes von einem Arzt untersucht, und es scheint, daß die Ermittlungen bezüglich ihrer Klagen nicht eben nachdrücklich betrieben wurden. Die Inhaftierten haben erklärt, daß sie am Ende ihres Verhörs ihren Namen oder ihren Daumenabdruck unter Erklärungen hätten setzen müssen, die sie nicht lesen durften, was Anlaß zu der Befürchtung gibt, daß die Erklärungen, die unter Folter oder Zwang abgegeben wurden, in ihrem Prozeß unter Verletzung internationalen Rechts als Belastungsmaterial gegen sie verwendet werden könnten.


Der Bericht von Amnesty International umfaßt die folgenden Empfehlungen an die marokkanischen Behörden:

• Die marokkanischen Behörden müssen Sorge tragen, daß eine gerichtliche Untersuchung aller Menschenrechtsverletzungen stattfindet, die in Zusammenhang mit den Ereignissen von Montag, dem 8. November begangen wurden - entweder durch Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens in jedem einzelnen Fall oder durch Einsetzung einer unabhängigen und unparteiischen Untersuchungskommission mit der Befugnis, Zeugen zu berufen, die über einen freien Zugang zu allen sachdienlichen Informationen, insbesondere zur amtlichen Dokumentation und zu allen Filmmitschnitten und Videobändern, die für Montag, den 8. November registriert wurden, verfügt, sowie Zugang zu allen Haftanstalten erhält. Sie müssen darüber hinaus garantieren, daß die für Gewalttaten, Folter und andere Mißhandlungen Verantwortlichen sowie die Urheber von Gewalt gegen Personen und Angriffen auf Eigentum in Übereinstimmung mit den internationalen Standards für ein faires Verfahren strafrechtlich verfolgt werden;

• Die Behörden müssen darüber wachen, daß sich die internierten Personen vor dem Staatsanwalt oder dem Untersuchungsrichter und vor Gericht von einem Anwalt ihrer Wahl vertreten lassen können, und darauf achten, daß ihr Prozeß die internationalen Standards für ein faires Gerichtsverfahren erfüllt; keine Information, die unter der Folter oder unter Zwang gewonnen wurde, darf als Belastungsmaterial gegen sie in ihrem Verfahren verwendet werden. Die Behörden müssen sicherstellen, daß kein Zivilist von einem Militärtribunal abgeurteilt wird.


Zusatzinformationen

Die Schlußfolgerungen dieses Berichts basieren auf einer Untersuchungsmission, die Amnesty International vom 22. November bis zum 4. Dezember in Marokko und in Westsahara durchgeführt hat. Im Rahmen dieses Besuchs hat Amnesty International Regierungsverantwortliche in Rabat und Al-Aaiun getroffen und mit den Familien der Saharauis und der Mitglieder der Sicherheitskräfte, die getötet oder verwundet wurden, mit Angehörigen der Inhaftierten, mit Angehörigen bereits seit längerem Inhaftierter, mit Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten und weiteren Personen gesprochen.

Der Status der Westsahara - deren Annektierung durch Marokko 1975 umstritten ist - bleibt in den Augen der marokkanischen Behörden, die weiterhin den Beweis antreten, wie wenig Toleranz sie für jeden aufbringen, der sich öffentlich für die Unabhängigkeit Westsaharas ausspricht, eine sensible Angelegenheit. Die marokkanischen Behörden zielen nach wie vor nicht nur auf militante Saharauis ab, die für das Recht der Westsahara auf Selbstbestimmung kämpfen, sondern auch saharauische Menschenrechtsverteidiger, die über die Lage der Menschenrechte auf dem Territorium wachen, Rechtsbrüche in der Region an die Öffentlichkeit bringen. Sie sind noch immer das Objekt von Einschüchterungsversuchen, Schikanen und sogar gerichtlicher Verfolgung.


Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

(*) Morocco/Western Sahara: Rights Trampled: Protests, violence and repression in Western Sahara
(Rechte mit Füßen getreten: Proteste, Gewalt und Unterdrückung in Westsahara)
http://www.amnesty.org/en/library/asset/MDE29/019/2010/en/6bf12076-da0c-4809-bd1d-c586177d69f6/mde290192010en.html
http://www.amnesty.org/en/library/asset/MDE29/019/2010/en/8ca78c77-7496-4686-b94e-4606a13bd910/mde290192010en.pdf

Link zum französischsprachigen Original (Index AI: MDE 29/020/2010):
http://www.amnestyinternational.be/doc/article17033.html


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Quelle:
Amnesty International, 20.12.2010
Index AI: MDE 29/020/2010 (Public)
mit freundlicher Genehmigung von Amnesty International
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Französischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2011