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HUNGER/229: "Oder bleiben die Armen wieder auf der Strecke?" (Böll Thema)


Böll THEMA - Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung - Ausgabe 2/2010
Landwirtschaft und Klimawandel

"Oder bleiben die Armen wieder auf der Strecke?"

Die Nahrungsmittelproduktion muss bis 2050 um 70 Prozent gesteigert werden, so die FAO. Doch wem wird das zugutekommen? Und wie soll produziert werden?
Ein Streitgespräch zwischen Alexander Müller FAO (UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung) und Barbara Unmüssig Heinrich-Böll-Stiftung


Barbara Unmüssig: Die Heinrich-Böll-Stiftung wird den Zusammenhang von Klimawandel und Landwirtschaft in den nächsten Jahren noch weiter ins Zentrum ihrer Arbeit holen. Das Thema Ernährungssicherung und Klimawandel ist in vielen Ländern, in denen wir arbeiten, bedeutsam. In unserem Gespräch hier wollen wir uns auf die Rolle der FAO und insbesondere auf deren Forderung, dass weltweit die Nahrungsmittelproduktion um 70 Prozent gesteigert werden müsse, konzentrieren.

Alexander Müller: Wobei das nur ein Teil unserer Strategie ist. Die Produktion ist das eine, doch die Verteilung und der Zugang zu Lebensmitteln sind, wie die soziale Gerechtigkeit, mindestens genauso wichtig. Warum? Heute produzieren wir noch genug Nahrung, trotzdem ist die Zahl der Hungernden gestiegen. Also kann der Hunger nicht an der bloßen Menge der Nahrungsmittel liegen.

Unmüssig: Bitte skizzieren Sie kurz das Strategiepapier der FAO "How to feed the people till the year 2050". Was sind die Annahmen, um die es da geht? Warum 70 Prozent Steigerung bis 2050?

Müller: Die Landwirtschaft weltweit steht vor gewaltigen Herausforderungen durch Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Klimawandel und die sich verändernden Konsumgewohnheiten. Um die Menschheit zu ernähren - die Weltbevölkerung wird von heute 6,5 Milliarden Menschen auf über 9,2 Milliarden bis 2050 wachsen -, muss die Produktion um 70 Prozent steigen. Das Bevölkerungswachstum wird fast ausschließlich in den Entwicklungsländern stattfinden, und die zusätzlichen rund 2,5 Milliarden Menschen werden in städtischen Ballungszentren leben. Darauf muss sich die Landwirtschaft einstellen. Deshalb die Forderung: Mehr Produktion, aber unter den Bedingungen des Klimawandels und einer nachhaltigen Entwicklung.

Unmüssig: Unbestritten ist, dass wir einen Zuwachs brauchen. Auffallend ist jedoch, dass sich dieses Strategiepapier fast ausschließlich auf die Produktion und damit auf die Angebotsseite konzentriert, also: Wie werden 70 Prozent mehr Nahrung verfügbar gemacht? Und nicht: Wie wird Nahrung für alle zugänglich gemacht? Für wen soll Nahrung zur Verfügung stehen? Wie soll produziert werden? Diese Fragen kommen kaum zur Sprache. Ist das nicht eine Steilvorlage für alle, die auf Spitzentechnologien setzen und Gentechnik befürworten? Es wird so getan, als seien die Konsumgewohnheiten unabänderlich. Warum gibt es im Papier keine politischen Empfehlungen, wie der hohe Fleischkonsum der globalen Mittelklassen reduziert werden könnte? Es gibt auch keine Empfehlungen dazu, wie die Konkurrenz zwischen Energiepflanzen und Nahrungsmittelpflanzen politisch gesteuert werden könnte, um eine Milliarde Hungernde zu ernähren.

Müller: Hinter Ihrer Frage steht ein Missverständnis. Es gibt nicht das Strategiepapier der FAO zur Welternährung, es gibt viele Strategiepapiere. Und "How to feed the people till the year 2050?" konzentriert sich auf eben dies. Auf einem anderen Blatt steht, welche politischen Vorgaben bei der Produktionssteigerung gemacht werden müssen. Unsere Strategie ist klar: Der Zuwachs muss in den Entwicklungsländern stattfinden.

Unmüssig: Maßnahmen zur Steigerung, Ausweitung und Intensivierung der Produktivität sind wichtig. Nur ist es ein großes Versäumnis, wenn die FAO in diesem richtungsweisenden Papier nicht differenziert: Was brauchen die Armen, um ihre Ernährung zu sichern? Wenn für die Steigerung der Nahrungsproduktion viele Millionen Hektar Land neu erschlossen werden sollen, stellen sich doch wieder die alten Fragen nach den Besitz- und Eigentumsverhältnissen. Für mich ist Landwirtschaftspolitik in hohem Maß Verteilungspolitik, die Entwicklung von politischen Vorgaben, die den Zugang zu Land regeln. Auch dazu findet sich nichts im Papier.

Müller: Erstens: Die FAO ist die einzige Organisation, die das Menschenrecht auf Nahrung mit Leitlinien versehen hat. In einem drei- bis vierjährigen Prozess hat sie sich mit der Unterstützung aller Mitglieder darauf geeinigt, wie die Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung gerade für die Ärmsten aussehen muss. An diesen Leitlinien, die von einigen Regierungen sogar zum Verfassungsrecht erklärt wurden, orientieren sich u. a. die Nichtregierungsorganisationen. Also diese Strategie gibt es.

Zweitens: Wir organisieren zurzeit auf allen Kontinenten Konferenzen zur Frage: Wie können wir den Zugang zu Land verbessern und Landrechte sichern? Wie gehen wir künftig mit den gestiegenen Anforderungen an das Land um? Wie können wir kommunitäre Strukturen weiter aufrechterhalten? Unser Ziel ist es, bis Ende Land und weiteren natürlichen Ressourcen vorzulegen. Was mich dabei stört, ist, dass es von den Industrieländern keine klaren Aussagen dazu gibt, dass die Konsummuster auf der nördlichen Erdhälfte nicht nachhaltig sind. In Europa wird diese Debatte überhaupt nicht geführt, die muss aber geführt werden.

Unmüssig: Genau, aber in dem Strategiepapier "How to feed the world ..." fehlt dazu der Anstoß. Wir sehen ja jetzt schon, dass viele Regierungen des Nordens das FAO-Papier als Steilvorlage benutzen, nicht um die Gesamtstrategie der FAO umzusetzen, sondern nur das, was dem Norden günstig erscheint: keine Änderungen in der Konsumfrage, Einsatz von Spitzentechnologie, Forcierung von Gentechnologie. Spitzentechnologie ist ja nicht die Lösung zur Hungerbekämpfung. Zugang zu Boden, Eigentum, Investitionen und Kleinkrediten, Beratung, Vorratsspeicherung: das sind die relevanten Faktoren, wenn Hunger- und Armutsbekämpfung Hand in Hand gehen sollen.

Müller: Ich will noch einmal feststellen: Dieses Papier ist von keiner FAO-Konferenz verabschiedet worden. In der verabschiedeten Schlusserklärung des Welternährungsgipfels 2009 wurden Prinzipien festgelegt, wie die Grundursachen des weltweiten Hungers bekämpft werden sollen. Und es wundert mich schon, dass ein Expertenpapier jetzt dafür herhalten soll, die entwicklungsfeindliche Subventionspolitik zu rechtfertigen: Für die Produktion von Bioenergie z. B. werden in der EU Milliarden investiert, während für die Implementierung des Menschenrechts auf Nahrung viel geringere Beiträge geleistet werden. Also, es ist letztendlich eine politische Entscheidung, die man nicht auf das eine oder andere Strategiepapier reduzieren kann.

Unmüssig: Natürlich ist es eine Sache der politischen Auseinandersetzung, die wir in vielem auch gemeinsam führen werden.

Müller: Eine der wesentlichen Aussagen dieses Papiers ist, dass die Armen selbst auch mehr produzieren müssen. Das Bevölkerungswachstum wird in den Entwicklungsländern stattfinden - da, wo heute der Hunger herrscht. Wir befinden uns in einem dramatischen Zirkel: Junge unterernährte Frauen bekommen Kinder, die fehlernährt sind, was sich negativ auf ihre weiteren Lebenschancen auswirken wird. In Afrika werden 1,8 Tonnen Mais im Durchschnitt produziert, obwohl mit heutiger Technologie vier bis fünf Tonnen möglich wären.

Unmüssig: Die vom Hunger Hauptbetroffenen sind meist Frauen und Kinder. Das belegt der Welthungerindex, den u. a. die Deutsche Welthungerhilfe und IFPRI jährlich vorlegen. Man hätte sich ja wünschen können, dass die Erkenntnis sich durchsetzt, dass es vor allem wichtig ist, in die Ausbildung von Frauen zu investieren und ihnen Zugang zu Eigentum und Krediten zu verschaffen. Das wäre ebenfalls ein wichtiger Faktor für die Steigerung landwirtschaftlicher Produktivität, das sagen viele Untersuchungen.

Müller: Der Welternährungsgipfel hat genau dies beschlossen: Der Schwerpunkt muss auf die gefährdetsten Gruppen der Bevölkerung gelegt werden, das sind oftmals Frauen und Kinder sowie die Kleinbauern in den ärmsten Regionen.

Unmüssig: Ich sage noch einmal, was ich problematisch finde. In diesem Strategiepapier wird von Annahmen ausgegangen, die durchgerechnet eine Produktionssteigerung von 70 Prozent nötig machen. Wenn man bei der Rechnung aber die Überwindung der Ungleichheit der Geschlechter auslässt, fließt in den Text auch nicht ein, dass allein über die Abschaffung der Geschlechterungleichheit eine 10- bis 20-prozentige Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion möglich wäre.

Müller: In anderen Papieren gehen wir von noch stärkeren Steigerungsraten aus. Wenn der Zugang von Frauen zu natürlichen Ressourcen wie Land und Krediten endlich ernst genommen wird, kann in Afrika der Hunger schon heute stark reduziert werden.

Unmüssig: Ein anderes Thema: Was ist die Position der FAO zur Gentechnologie? Welche Rolle soll diese bei der Produktionssteigerung spielen? Was gibt es für Konfliktlinien?

Müller: Die FAO hat immer wieder betont, dass der heute Hunger auch ohne gentechnisch veränderte Produkte bekämpft werden kann. Mit den vorhandenen Technologien und dem verbesserten Zugang zu natürlichen Ressourcen kann genug produziert werden. Es gibt aber in der FAO keinen Konsens über die künftige Rolle der Gentechnik.

Unmüssig: Wo sind die Konfliktlinien?

Müller: Die gehen querbeet. Einige Länder haben ihre Position auch verändert, zum Beispiel Brasilien. Dort wird ja seit einigen Jahren gentechnisch verändertes Soja angebaut. Andere Entwicklungsländer, insbesondere afrikanische Länder, weigern sich, im Rahmen der Nahrungsmittelhilfen gentechnisch verändertes Getreide zu akzeptieren. Auch über die nötigen Sicherheitsmaßnahmen gibt es keine Einigkeit.

Unmüssig: Ein anderes Thema, das uns in der Heinrich-Böll-Stiftung zunehmend beschäftigen wird, ist die Fragmentierung und Zersplitterung der Organisationen, die sich mit Landwirtschaft und Hungerbekämpfung im globalen Süden beschäftigen. Welche Rolle soll da die FAO in Zukunft spielen?

Müller: Dazu zwei Aussagen: Durch die hohen Lebensmittelpreise in den Jahren 2007/2008 und die damit verbundenen Hungerunruhen ist das Thema Welternährung wieder ganz oben auf der politischen Agenda aufgetaucht. Vorher war das eher ein Thema für Experten.

Wir haben als Reaktion darauf die Zusammenarbeit im Rahmen der high level taskforce von Generalsekretär Ban Ki Moon verstärkt. Die FAO ist im Augenblick dabei, das Komitee für Nahrungssicherheit (CFS) als übergeordnete Einheit, die sich mit der gesamten Frage der Regierungsführung, Regierungsverantwortlichkeit und Koordination bei der Welternährung beschäftigt, neu zu etablieren. Wenn CFS mit Beteiligung von NGOs eine stärker koordinierende Position bekommt, ist das ein großer Fortschritt und auch ein Ergebnis des Welternährungsgipfels.

Unmüssig: Diesem Komitee für Nahrungssicherheit geben Sie also eine große Chance? Dass es eine koordinierende Funktion übernehmen darf, könnte ja bedeuten, dass die Nationalstaaten tatsächlich ein Quäntchen an Souveränität und Handlungs- und Entscheidungskompetenz an ein solches Komitee abgeben. Ist das realistisch?

Müller: Um es ganz deutlich zu sagen: Ohne diese koordinierende Funktion wird es uns nicht gelingen, die Millenniums-Development-Ziele zu erreichen. Bei der Hunger- und Armutsbekämpfung sind wir ja zurzeit auf keinem guten Weg. Es wird sich in den nächsten ein, zwei Jahren herausstellen, ob die Lippenbekenntnisse tatsächlich in Aktionen umgesetzt werden - inklusive einer Stärkung des CFS.

Unmüssig: Auch Nichtregierungsorganisationen und die Grünen legen großen Wert auf die Stärkung des Komitees. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben ihre Anforderungen an das CFS formuliert. Wir werden uns als Stiftung daran beteiligen, das Komitee bekannt zu machen und seine Funktion zu stärken, weil wir auch der Meinung sind, dass es ohne Koordination und mehr Kohärenz nicht geht. Sonst hätte es keine Auswirkungen als normative Orientierung für Organisationen wie die Weltbank, die auch aktiv ist bei der ländlichen Entwicklung und der Agrarförderung.

Müller: Wir brauchen dieses Komitee auch, um andere internationale Prozesse zu beeinflussen. Wir arbeiten sehr intensiv daran, Landwirtschaft und Welternährung stärker in die Klimaschutzverhandlungen zu integrieren. Das ist uns nur bis zu einem gewissen Maß gelungen. Auch in der Welthandelsrunde ist die Hungerbekämpfung nicht an vorderster Front. Da brauchen wir ein starkes Komitee, das zusätzlich zur Koordinierungsfunktion bei den anderen Verhandlungen die Position der Welternährung und Hungerbekämpfung vertritt. Das ist eine politische Herausforderung, die auch im Rahmen von G8 und G20 diskutiert werden muss. Da darf das Komitee für Nahrungssicherheit kein Feigenblatt sein.

Unmüssig: Da haben Sie die Heinrich-Böll-Stiftung auf Ihrer Seite. Uns treibt die Frage um: Nimmt die FAO-Strategie wirklich die 800 Millionen bis eine Milliarde dauerhaft Hunger leidender Menschen in den Blick? Oder kommt diese Produktionssteigerung doch wieder ausschließlich dem Norden oder den wachsenden urbanen Mittelklassen zugute - und die Armen bleiben wieder auf der Strecke?

Müller: Genau. Es wäre ja politisch naiv, diese Fragen nicht zu stellen. Wir sind ja in der Situation, dass genug produziert wird und trotzdem ist die Zahl der Hungernden in den letzten Jahren nach unseren Schätzungen auf über eine Milliarde gestiegen. Von daher ist die Frage: Cui bono? Für wen? sehr relevant. Ich möchte eine zweite Frage hinzufügen: Wie wird produziert?

Unmüssig: Für wen und wie - das sind die großen Fragen.


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Quelle:
Böll THEMA - Ausgabe 2/2010, Seite 7-9
Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2010