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HUNGER/293: Aufforderung zum Dialog über Agrarspekulation (idw)


Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa - 20.12.2012

Wissenschaftler widersprechen Bundespräsident Gauck

Aufforderung zum Dialog über Agrarspekulation



Halle (Saale), 20. Dezember 2012 - Agrarökonomen, Volks- und Betriebswirte, Wirtschaftsethiker und Juristen warnen vor einer Instrumentalisierung und Fehlinterpretation der Wissenschaft. Populäre Vorurteile dürfen keine Grundlage für folgenschwere politische Entscheidungen werden, mit denen die Hungersnöte weltweit weiter verschärft werden können. In einem offenen Brief reagieren 40 Wissenschaftler verschiedener Universitäten und Institute auf eine Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck. Anlässlich des Festaktes "50 Jahre Welthungerhilfe" am 14. Dezember sagte Gauck: "Wenn [...] schwankende Preise armen Menschen sprichwörtlich die Mittel zum Leben abschöpfen, ist Handeln aus politischer, sozialer und natürlich auch aus ethischer Notwendigkeit dringend geboten. Ich finde es darum gut, wenn deutsche Banken Verantwortungsbewusstsein zeigen und entsprechend ausgelegte Fonds prüfen und hoffentlich zurückziehen."

Bundespräsident Gauck griff damit die Kritik einiger zivilgesellschaftlicher Organisationen an der Finanzspekulation mit Agrarrohstoffen auf. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die von ihm aufgegriffene Forderung nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht und bitten den Bundespräsidenten, einen Dialog in Gang zu setzen, in dem die Erkenntnisse und Argumente der internationalen Forschung Gehör finden.

Einige zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Welthungerhilfe, Oxfam oder Foodwatch fordern in öffentlichen Kampagnen den Ausschluss oder die Einschränkung von Finanzinvestoren an den Terminmärkten, da diese angeblich auf Kosten der Hungernden in armen Ländern investieren. Ihre Position missachtet, so die Wissenschaftler, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dies belegt die kürzlich veröffentlichte Auswertung der wissenschaftlichen Literatur, die das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO) gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Wirtschaftsethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vorgelegt hat: Die internationale Forschung kann die Vorwürfe nicht bestätigen. In dieser Studie weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass das verstärkte Engagement von Finanzinvestoren auf den Terminmärkten für Nahrungsmittel eine wichtige Versicherungsfunktion erfüllt. Die Investoren stehen im Wettbewerb und ermöglichen es den Agrarproduzenten und Zwischenhändlern, sich günstig gegen Preisrisiken abzusichern. Das sorgt für Planungssicherheit und verbessert die Produktionsbedingungen im Agrarsektor. Eine drastische Einschränkung dieser Finanzgeschäfte birgt deshalb die Gefahr, dass die Agrarmärkte nicht besser, sondern schlechter funktionieren würden, was für die angestrebte Bekämpfung des Hungers auf der Welt kontraproduktiv wäre.

In ihrem offenen Brief an Bundespräsident Gauck vom 19. Dezember 2012 verweisen die 40 Hochschullehrer, die sich im Rahmen ihrer Forschung und Lehre mit dem Einfluss der Spekulation auf die Agrarrohstoffmärkte befassen, ausdrücklich auf die vom IAMO vorgelegte Analyse der wissenschaftlichen Forschung. Sie warnen davor, Maßnahmen zu ergreifen, die das Gegenteil von dem bewirken können, was man für eine effektive Bekämpfung des weltweiten Hungers benötigt. IAMO-Direktor Thomas Glauben: "Als Wissenschaftler ist es unsere Pflicht, öffentlich darauf hinzuweisen, dass der Sachverhalt, um den es hier geht, ganz anders gelagert ist, als es die alarmierenden Darstellungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen nahelegen. Sicher gibt es zusätzlichen Forschungsbedarf, um Effekte der Spekulation im Detail in unterschiedlichen Situationen noch besser zu verstehen, aber eine pauschale Ablehnung ist wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen."

Deshalb endet der Brief mit der an Bundespräsident Gauck herangetragenen Bitte, die Initiative zu ergreifen und einen Dialog in Gang zu setzen. "In der öffentlichen Debatte über die Agrarspekulation ist eine Versachlichung dringend erforderlich. Unser Anliegen ist, dass die Wissenschaft korrekt interpretiert wird und so einen konstruktiven Beitrag zur Problemlösung leisten kann. Schließlich teilen wir alle das Anliegen, den weltweiten Hunger wirksam zu bekämpfen", sagt Wirtschaftsethiker Ingo Pies.


Weiterführende Informationen

Auf der folgenden Internetseite können Sie den offenen Brief an den Bundespräsidenten Gauck einsehen:
http://www.iamo.de/publikation /offenerbrief-gauck

Der IAMO Policy Brief 9 zum Thema "Alarm oder Fehlalarm? Ergebnisse eines Literatur-überblicks über empirische Forschungsarbeiten zur Finanzspekulation mit Agrarrohstoffen" http://www.iamo.de/publikation/policybrief-9 und das zugrunde liegende Diskussionspapier mit dem Titel "Schadet oder nützt die Finanzspekulation mit Agrarrohstoffen? - Ein Literaturüberblick zum aktuellen Stand der empirischen Forschung" http://www.iamo.de/publikation/diskussionspapier2012-26 können Sie auf den angegebenen Internetseiten herunterladen.

Hinzuweisen ist auch auf die vom Lehrstuhl für Wirtschaftsethik vorgelegte Analyse, welche Maßnahmen einer Versachlichung der Debatte dienen könnten:
http://wcms.uzi.uni-halle.de/download.php?down=26953&elem=2624086

Über das IAMO
Das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO) ist eine international anerkannte Forschungseinrichtung. Mit etwa 70 Wissenschaftlern und in Kooperation mit anderen renommierten Instituten widmet es sich drängenden Fragen der Agrar- und Ernährungswirtschaft und der ländlichen Räume. Hauptuntersuchungsregionen sind Mittel- und Osteuropa sowie Zentral- und Ostasien. Das IAMO leistet dabei einen Beitrag zum besseren Verständnis des institutionellen, strukturellen und technologischen Wandels. Für dessen Bewältigung werden Strategien und Optionen für Unternehmen, Agrarmärkte und Politik abgeleitet und analysiert. Seit seiner Gründung 1994 gehört das IAMO als außeruniversitäre Forschungseinrichtung der Leibniz-Gemeinschaft an.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution418

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa,
Daniela Schimming, 20.12.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2012