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HUNGER/332: Argentinien - Bio-Tomaten vom Schulbeet, mangelernährte Kinder lernen Gärtnern (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 29. Mai 2015

Argentinien: Bio-Tomaten vom Schulbeet - Mangelernährte Kinder lernen Gärtnern

von Fabiana Frayssinet



Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Junge aus Santiago del Estero, einer der ärmsten Provinzen Argentiniens
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

BUENOS AIRES (IPS) - In Argentinien ist der Nahrungsmittelbedarf von Millionen Familien nicht gedeckt, obwohl ausreichend Produktivland vorhanden ist. An 270 Grundschulen in ländlichen Gebieten werden Kinder nun in den Anbau von Biogemüse und -obst unterwiesen. Das Projekt 'Huerta Niño' ('Garten des Kindes') lehrt sie, die Saat für ein Leben ohne Hunger zu legen.

Etwa 80 Prozent der 105 Kinder, die die Schule 'Divina Pastora' in der Gemeinde General Alvarado besuchen, kommen aus armen Elternhäusern. "Zehn Prozent sind mangelernährt, manche bereits seit der Schwangerschaft ihrer Mütter und der Stillzeit. Wir haben bei ihnen Kalziummangel festgestellt, der Karies und Wachstumsstörungen verursachen kann", sagt die Schulrektorin Rita Darrechon.

An der mit öffentlichen Geldern geförderten Privatschule, die 550 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Buenos Aires liegt, werden Kinder im Alter zwischen sechs und 14 Jahren unterrichtet. Die wenigsten haben von ihren Eltern gelernt, wie man Nahrungsmittel selbst anbaut. "In Gebieten, in denen seit jeher Landwirtschaft betrieben wird, wissen die Jüngeren nicht mehr, wie sie Saatgut zu Nahrung machen können", bedauert die Koordinatorin der Huerta Niño-Stiftung, Barbara Kuss.

Die 1999 von dem Geschäftsmann Federico Lobert gegründete gemeinnützige Organisation will dazu beitragen, den Hunger der Schüler in ländlichen Regionen zu lindern. Äußerungen eines Lehrers hatten Lobert zu dem Projekt inspiriert. Der Pädagoge hatte berichtet, dass sich seine Schüler vor lauter Hunger nicht konzentrieren könnten und ihre Magenschmerzen mit Orangenbaumblättern betäubten. Dies sei paradox, weil Argentinien so viele Nahrungsmittel für Millionen Menschen in anderen Teilen der Welt produziere.

Etwa 20.000 Kinder aus einkommensschwachen Familien kümmern sich inzwischen um die Schulgärten. Das Gemüse und das Obst, das sie ernten, essen sie mittags in der Schulkantine. Darrechon spricht von einer großen Chance, den Schülern Kenntnisse über gesunde Ernährung und die Nutzung natürlicher Ressourcen in ihrer Umgebung zu vermitteln.

Eine landesweite Untersuchung über Ernährung und Gesundheit kam zu dem Schluss, dass 35 Prozent der argentinischen Kinder in Familien leben, deren Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind. Nur etwa die Hälfte von ihnen erhalten über verschiedene Sozialprogramme Nahrungsmittelhilfen.


Erschreckend hohe Armutsraten

Im Nordosten des Landes leben 77 Prozent und im Nordwesten 75,7 Prozent aller Kinder in armen Haushalten. "Diejenigen, die gravierend unterernährt sind, werden häufiger krank und sind kleiner als ihre Altersgenossen", sagt Kuss. "Die Folgen der Unterernährung spüren sie ihr Leben lang."

Huerta Niño versucht die Ernährungsdefizite auszugleichen. Die Stiftung engagiert sich ein Jahr lang in jeder der an dem Projekt beteiligten Schulen. Damit erhielten die Kinder ein Rüstzeug für das ganze Leben, so Kuss.

Zuerst wird ein Zaun um etwa einen halben Hektar Land gezogen. "Wir erklären den Schülern, dass der Zaun Hunde und andere Tiere abhalten soll, da deren Exkremente der Gesundheit schaden", erklärt sie. Auf Versammlungen besprechen Kinder, Eltern und Lehrer, was für den Anbau notwendig ist, wie die Böden beschaffen sind und wie die Beete bewässert werden.


Bild: © Fundación General Alvarado

Rektorin Rita Darrechon mit Kindern im Schulgarten
Bild: © Fundación General Alvarado

Danach lernen die Mädchen und Jungen, wie sie in den Pflanzzeiten im Herbst und im Frühjahr Gemüse und Obst ziehen und später ernten können. "Wir erklären ihnen alles Schritt für Schritt", erklärt Kuss. "Es ist schön anzusehen, wie Tomaten rot werden und der Salat wächst. Aber auch Ernten will gelernt sein. Es geht um Fragen wie 'Sollen wir nur die Salatblätter pflücken oder reißen wir die Pflanze mitsamt ihrem Wurzelwerk aus? Sollte an der gleichen Stelle etwas Neues gepflanzt oder damit bis zur nächsten Saison gewartet werden?'"

Huerta Niño wird vom Bildungsministerium gefördert. Fachliche Unterstützung und Saatgut stellt 'Pro Huerta' bereit, ein agro-ökologisches Gemeinschaftsprogramm des staatlichen Instituts für Landwirtschaftstechnologie. Mit Hilfe von Spenden von Einzelpersonen, Firmen und Organisationen kann das Programm etwa 4.500 Dollar für jeden Schulgarten zur Verfügung stellen. Davon werden kindgerechte Werkzeuge, Saatgut, Düngemittel, Windmühlen und Bewässerungssysteme finanziert.

Die Nachhaltigkeit des Projekts wird nach Ansicht von Kuss vor allem durch die Mitwirkung aller garantiert. "Ein Garten braucht Pflege. Ohne geht er ein", sagt sie. Chemische Pestizide sind in den Schulgärten tabu, auch wenn sie über den umliegenden Feldern versprüht werden. Stattdessen setzt das Projekt auf organischen Dünger und natürliche Schädlingsbekämpfung. "Wir sagen den Kindern, dass die Tomaten, die sie in ihrem Garten ernten, vielleicht nicht so groß sind wie im Supermarkt. Dafür sind sie aber rot und schmackhaft."


Praktischer Geometrieunterricht im Garten

Der Garten ist Teil des Lehrplans, auch über das Fach Biologie hinaus. Im Mathematikunterricht wird er ausgemessen, außerdem schreiben die Schüler kleine Bücher über Gartenbau. "Der Schulgarten ist eine Art Freiluft-Labor. Aus eigenen Erfahrungen zu lernen, ist viel ergiebiger als aus Büchern zu lernen", meint Darrechon.

Die Schüler legen inzwischen auch zu Hause und in der Nachbarschaft eigene Gärten an. Einige Ehemalige der Schule 'La Divina Pastora' haben nach dem Abschluss sogar Agrarwissenschaften studiert. In Armenvierteln der Hauptstadt Buenos Aires tragen Gärten dazu bei, Gewalt und Schulschwänzen zu bekämpfen. "Die Kinder sind mit etwas Interessantem beschäftigt, das sie von der Straße fernhält", berichtet Kuss.

Valdir Welte, ein in Argentinien ansässiger Mitarbeiter der UN-Agrarorganisation FAO, hält die Schulgärten für ein wichtiges Hilfsmittel zur Verbesserung des Speiseplans und der Ernährungsgewohnheiten. Die Kinder lernten außerdem, solidarisch zusammenzuarbeiten. "Wir versorgen sie nicht einfach nur mit Essen", betont Kuss. "Wir vermitteln ihnen Werte, die sie mit ihren Händen berühren können und die ihnen sagen: 'Du schaffst das'." (Ende/IPS/ck/29.05.2015)


Links:

http://www.ipsnews.net/2015/05/school-gardens-combat-hunger-in-argentina/
http://www.ipsnoticias.net/2015/05/huertas-escolares-combaten-el-hambre-en-argentina/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 29. Mai 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2015

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