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INTERNATIONAL/152: Demokratisierung des Ernährungssektors statt Dominanz der Städte (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2015

Gute Stadt - Böse Stadt
Landromantik vs. Stadt für alle

Bauer oder Bänker?
Demokratisierung des Ernährungssektors statt Dominanz der Städte

von Roman Herre


Strukturpolitische Entscheidungen werden in den Städten getroffen. Egal ob 75 Prozent der Bevölkerung in Städten leben, wie zum Beispiel in Deutschland, oder wie in Sambia 40 Prozent. Ländliche Belange und Sichtweisen werden faktisch weniger berücksichtigt. Das hat natürlich Folgen. Politikentscheidungen und damit auch Rahmenbedingungen sind unausgewogen und ländliche Entwicklungsprozesse oft und gerne von städtischen Interessen dominiert. Marx und Engels drücken es 1872 ein wenig pointierter aus: "Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen." (1)


Unsere Ernährungssysteme (vom Anbau von Nahrungsmitteln bis hin zum Konsum) bieten eine hervorragende Lupe, um diese Stadt-Land-Debatte zu führen. Als Organisation, die für das Menschenrecht auf Nahrung streitet, beobachten wir oft, wie sich die Dominanz städtischer Interessen in vielen Ländern in einer Diskriminierung der ländlichen Bevölkerung niederschlägt. So liegt in vielen agrarisch geprägten Ländern der Anteil der Ausgaben für die Landwirtschaft bei weit unter 10 Prozent. Dabei ist diese Trennung Stadt-Land oft künstlich verstärkt und spielt den Interessen dominanter Unternehmen des Ernährungssystems in die Hände.


Der Acker des Bürokaufmanns

Zur Klärung vorab: Jeder benötigt Agrarland zum Überleben, wenn auch indirekt. Jede Städterin und jeder Städter greift auf Ackerland zu, wenn sie im Supermarkt oder besser auf dem Wochenmarkt Kartoffeln oder Milch kaufen. Sie benötigen dieses Land zwingend, um sich zu ernähren. Und sie greifen als wohlhabendere Bevölkerungsgruppen mit ihrem Konsumverhalten oft brutal auf diese Flächen zu, da sie die Konsequenzen ihres Konsums nicht sehen oder sehen wollen. Dabei geht es heute viel weniger um das direkte Umland als vielmehr um die ländlichen Agrarflächen weltweit. Zum Beispiel beziehen wir die Futtermittel für die Viehzucht in Europa aus den tausenden Quadratkilometern Sojawüste in Paraguay.


Angst vor den städtischen Massen

Das Wirken der Stadt auf unsere Ernährungssysteme ist aber nicht nur durch bürgerliche Schichten geprägt, vor allem nicht im globalen Süden. 2008 kam es infolge extremer Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln in über 40 Ländern zu Hungeraufständen. Diese wurden fast ausschließlich von den städtischen Armutsgruppen angeführt. Es gibt daher ein hohes Interesse der Regierungen, diese Gruppen nicht gegen sich aufzubringen. Und so hat die Frage der Kosten von Nahrungsmitteln einen weit höheren Stellenwert als die Frage der Verdienstmöglichkeit für die breite ländliche Bevölkerung.


Trennung im Interesse der Ernährungsindustrie

So entsteht - im globalen Süden gleichermaßen wie im globalen Norden - eine extreme Trennung von Stadt und Land, vereinfacht gesagt von Produktion und Konsum. Diese ist auch im Interesse der Agrar- und Ernährungsindustrie. Ihre Macht beruht auf dieser Trennung, denn sie spielt den "Flaschenhals" zwischen der Bäuerin und dem Bürokaufmann, der ihre Kartoffeln isst. Diese wachsende Trennung ist jedoch kein Naturgesetz, sondern durch politische Rahmenbedingungen geschaffen. Und diese wurden wiederum durch effektive Lobbyarbeit der Agrar- und Ernährungsindustrie mitgestaltet.


Landflucht - Symptom städtischer Politik?

Nicht nur die Trennung zwischen Stadt und Land, sondern auch Landflucht wird gerne als Naturgesetz verkauft. Die politischen Ursachen dafür, dass viele junge Menschen kein Interesse am ländlichen Leben und der Landwirtschaft haben, werden jedoch ungerne genannt. Seit vielen Jahrzehnten werden staatliche Steuerungen und Förderungen der bäuerlichen Landwirtschaft zusammengestrichen und ein künstlicher und ungerechter Wettbewerb zwischen transnationalen Agrar-, Nahrungsmittel- und Finanzkonzernen und bäuerlichen NahrungsmittelproduzentInnen geschaffen. Wenn in Rumänien die Hälfte der Agrarsubventionen der EU an weniger als ein Prozent der dortigen Betriebe fließen (jene über 500 Hektar) (2) und gleichzeitig den Bauern und Bäuerinnen (internationale) Wettbewerbsfähigkeit als zentrale Existenzlegitimation übergestülpt wird, ist dies faktisch eine politisch gewollte, hoch subventionierte Landfluchtinitiative.

In vielen Ländern des globalen Südens ist das ähnlich. In Sambia sind internationale Agrarinvestoren die ersten fünf Jahre von der Steuer befreit (was nebenbei gerne zu einer turnusmäßigen Namensänderung des Unternehmens nach fünf Jahren führt). Sie werden direkt von der Entwicklungszusammenarbeit finanziert(3), die ihnen daneben auch noch die nötige Exportinfrastruktur bereitstellt. Parallel sägt die internationale Politik an den verbliebenen staatlichen Programmen, die eine Umverteilung von Finanzen hin zu ländlichen Armutsgruppen bedeuten. In Sambia beispielsweise das staatliche Aufkaufprogramm für Mais, welches KleinbäuerInnen einen Mindestverdienst sichert.


Landwirtschaft als gesamtgesellschaftliche Strukturfrage

Gegnern agrarindustrieller Ernährungssysteme wird schnell vorgeworfen, sie würden die bäuerliche Landwirtschaft romantisieren. Dabei geht es KleinbäuerInnenbewegungen weltweit genauso um eine Modernisierung der Landwirtschaft, aber mit einem kleinen Unterschied: eine Modernisierung mit ihnen und nicht ohne sie. Sie fordern daher Rahmenbedingungen, die sie nicht auslöschen(4), sondern fördern. In diesem Sinne kann die Schaffung von Perspektiven für die breite ländliche Bevölkerung - und eben nicht für eine Handvoll "Potentialbauern" - als modernes Zukunftsmodell herhalten.

Dies beinhaltet letztendlich auch eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Grundsatzfragen: Ist es gesund und sinnvoll, wenn wie heute in Deutschland nur etwa 1,5 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig sind (Tendenz weiter sinkend)? Wollen wir langfristig, dass wenige Agrarfabriken in entleerten ländlichen Räumen die Ernährung der Städte sichern? Oder wollen wir eine Politik, die bäuerliche Landwirtschaft als ein wichtiges soziales, kulturelles und wirtschaftliches Standbein der Gesellschaften weltweit stärkt?


Demokratisierungen im Ernährungssektor

Wenn wir eine solche Politik anstreben, geht es dann letztendlich auch nicht um eine Priorisierung von Stadt oder Land, sondern um eine Demokratisierung der Ernährungssysteme. Dies zeigen auch die zivilgesellschaftlichen Diskussionen im Vorfeld der internationalen "Städtekonferenz" Habitat III. Es wird über eine "öffentliche Kontrolle über Boden und Immobilienmärkte", über Regulierung von Privatwirtschaft, öffentliches Interesse bzw. Gemeinwohl diskutiert und auf einzelne Menschenrechte, wie das Recht auf Wohnen, als universelle normative Basis verwiesen. Vieles davon findet sich leicht abgewandelt in ländlichen sozialen Kämpfen wieder, beispielsweise die Forderung ländlicher soziale Bewegungen (wie das globale Netzwerk "La Via Campesina") und Menschenrechtsorganisationen nach einer demokratischen Kontrolle von Land(5) und einer völkerrechtlich bindenden Regulierung transnationaler Konzerne(6).

Die strategische Verknüpfung von städtischen und ländlichen Ernährungssystemen ist daher ein Ansatzpunkt mit Zukunft. Und er wird schon praktiziert. Initiativen der Solidarischen Landwirtschaft(7) sind ein Beispiel, wie ein Verbund von StädterInnen und ländliche Agrarbetriebe gemeinsam, sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltig ihre Ernährung sichern können. Das aus dem US-Amerikanischen stammende Konzept der Ernährungsräte ("Food Policy Councils") versucht alle Akteure eines regionalen Ernährungssystems zusammenzubringen, um gemeinsam dessen Ausgestaltung zu planen. Und auch SaatgutaktivistInnen aus städtischen Kontexten (bspw. Urban Gardening) und bäuerlichen Betrieben kämpfen gemeinsam gegen die wachsende Macht weniger Saatgutkonzerne.

Im Kern muss es daher auch beim Thema Ernährung nicht um ein "Stadt gegen Land" sondern um die Gestaltung unseres Ernährungssystems als ein Recht von allen und nicht ein Privileg weniger gehen. Aus diesem Blickwinkel kann man die Ernährungsinitiativen durchaus als Vorreiter für weitere Möglichkeiten des Zusammenspiels von Stadt und Land verstehen.



Der Autor ist Agrarreferent bei FIAN.

Anmerkungen:

(1) Manifest der Kommunistischen Partei.

(2) https://www.tni.org/files/download/land_in_europe-jun2013.pdf.

(3) http://www.fian.de/fileadmin/user_upload/dokumente/shop/Land_Grabbing/13_12_FIAN_Sambia_DE.pdf.

(4) Erklärung von La Via Campesina 2008.

(5) http://www.researchgate.net/publication/283476970_Democratic_land_control_and_human_rights.

(6) http://www.treatymovement.com/.

(7) http://www.solidarische-landwirtschaft.org.

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2015, Seite 16-17
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2016

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