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LANDWIRTSCHAFT/1769: Solidarisch wirtschaften (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 424 - September 2018
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Solidarisch wirtschaften
Kein unbegrenztes Wachstum in einer begrenzten Welt möglich

von Sinay Gandenberger


Eine Wirtschaftsweise und Gesellchaftsform, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält", das ist das Ziel der sogenannten "Degrowth-" oder auch "Postwachstumsbewegung". Die Idee des Postwachstums kommt aus Frankreich und entfachte dort bereits in den siebziger Jahren Diskussionen um ein Nullwachstum oder sogar eine Wachstumsrücknahme für das Gleichgewicht der Erde. Der französische Begriff "décroissance" beschreibt eine Verminderung, um zu einem Gleichgewicht zurückzukehren, wie beispielsweise ein Fluss, der nach einer Überschwemmung wieder in das ursprüngliche Flussbett zurückkehrt. In einer Welt mit begrenzten Ressourcen ist ein unbegrenztes Wachstum schlichtweg nicht möglich - das erscheint logisch und einleuchtend. In den 2000er Jahren wurde die Idee wieder verstärkt aufgegriffen und formte die heute sogenannte "Degrowth-Bewegung". Ursprünglich in Frankreich wiederentdeckt, schwappten die Ideen in weitere europäische Länder über. Es gründeten sich Forschungsinstitute, Zeitungen, aber auch Lebensmittelkooperativen, die sich mit den Grundsätzen des Postwachstums beschäftigten. Seit 2008 finden Degrowth-Konferenzen in verschiedenen Ländern statt, die als Vernetzungs-, Lern- und Diskussionsort von Wissenschaftler_innen, Praktizierenden und Aktivist_innen dienen. Die Grundsätze werden mehr und mehr in der Öffentlichkeit diskutiert und von verschiedensten Medien und Publikationen aufgegriffen.

Möglichst geringer Verbrauch

Zentrale Werte einer Postwachstumsgesellschaft im Sinne der Degrowth-Bewegung sind Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation. Dagegen steht das in der Gesellschaft verankerte Leitbild "höher, schneller, weiter", was die Konkurrenz zwischen den Menschen befördert. Diese Rivalität führt zu Überforderung sowie zur Ausgrenzung von Einzelnen. Als Ausdruck einer internationalen Solidarität beinhaltet die Idee des Postwachstums die Verringerung von Produktivität und Konsum im globalen Norden und die Ermöglichung einer selbstbestimmten Gestaltung der Gesellschaften im globalen Süden. Ein Grundprinzip der Postwachstumsgesellschaft ist die Suffizienz, also genügsam zu leben und sich der begrenzten Ressourcen täglich bewusst zu sein. Daraus ergibt sich ein möglichst geringer Rohstoff- und Energieverbrauch mit der Konsequenz der Veränderung vorherrschender Konsummuster. Trotz des Konsumverzichts steht ein zufriedenstellendes Leben jedes Einzelnen im Vordergrund. Ein Beispiel dafür ist, dass nur die wirklich benötigte Menge von Gütern konsumiert wird. Auch eine längere Haltbarkeit von Gebrauchsgegenständen und Reparieren senken im Vergleich zur "Wegwerfgesellschaft" den Ressourcenverbrauch. Weitere konkrete Umsetzungen der Postwachstumsprinzipien sind das Einsparen von Energie oder das Teilen von Gütern. Durch das Teilen und den Austausch von Wissen und Können steigt das Gemeinschaftsgefühl in der Gesellschaft, so die Idee. Der Degrowth-Prozess versteht sich als soziale Veränderung, anstatt einen einseitigen Fokus auf technologische Neuerungen und Effizienzsteigerung zu legen, um ökologischen Problemen zu begegnen. Weiter sollen demokratische Entscheidungsformen ausgebaut werden, um die politische Teilhabe zu verbessern.

Solidarisch wirtschaften

Auch in der Landwirtschaft wirken die tief in der Gesellschaft verankerten Strukturen - häufig zu Lasten der Erzeuger_innen und der Umwelt. Der Trend der billigeren und effizienteren landwirtschaftlichen Erzeugung wird der Arbeit, dem Risiko und dem Wert der Nahrung nicht gerecht. Das Konzept der Solidarischen Landwirtschaft versucht hier basierend auf dem solidarischen Grundgedanken betriebsindividuelle Antworten zu finden. Die Prinzipien der Solidarischen Landwirtschaft (auch SolaWi) passen als praktische Umsetzung sehr gut zur Degrowth-Bewegung. Der Ansatz möchte Abhängigkeiten von Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, durchbrechen. Häufig entstehen aus der Abhängigkeit Zwänge, die zu der Ausbeutung der eigenen Person oder der Umwelt führen. Die Solidarischen Landwirtschaft bedeutet einen Zusammenschluss von landwirtschaftlichen Betrieben oder Gärtnereien mit privaten Haushalten. Alle Beteiligten sind Mitglieder einer Wirtschaftsgemeinschaft. Die Mitglieder verpflichten sich, einen auf Grundlage der geschätzten Jahreskosten im Voraus festgelegten Betrag an den Betrieb zu zahlen. Mitarbeit der Mitglieder wird oft vereinbart oder angestrebt. Den Bewirtschafter_innen wird dadurch ermöglicht, den Betrieb nachhaltig und bedürfnisorientiert sowie unabhängiger von Marktzwängen zu bewirtschaften. Durch die bedarfsgerechte Erzeugung sinkt die Lebensmittelverschwendung, da strenge Vorgaben des Handels bezüglich äußerlicher Qualitätskontrollen wie Größe und Form von Gemüse außer Kraft gesetzt werden. Das Konzept bietet die Möglichkeit einer "Win-win"-Situation für Erzeuger_innen und Abnehmer_innen. Für die Abnehmer_innen ergeben sich frische, qualitativ hochwertige, vielfältige, saisonale und regionale Nahrungsmittel sowie der Bezug zu den Erzeuger_innen, Transparenz, Einblicke in die Praxis und Wissen. Für die Bewirtschaftenden bedeutet das Konzept Planungssicherheit, die Möglichkeit der Unterstützung sowie ein gesichertes Einkommen und Wertschätzung für die geleistete Arbeit. Gerade aktuell bürden die Klimaveränderungen der letzten Jahre Bäuerinnen und Bauern ein Risiko auf, welches sie alleine nicht tragen können. Das Teilen des Risikos kann eine enorme Entlastung darstellen.

Zukunftsfähiges Konzept

Der Grundgedanke ist naheliegend und trotzdem fast revolutionär. Es fällt nicht sofort leicht, die alten marktorientierten Prägungen zu vergessen. Doch der Anstieg der SoLaWi-Betriebe in den letzten Jahren spricht für sich. Die Bewegung und der Bedarf wachsen. Viele SoLaWis haben lange Wartelisten. Natürlich ist die konkrete Umsetzung nicht immer leicht. Vor allem müssen die Kommunikation und das Vertrauen untereinander ein tragendes Gerüst für alle Mitglieder bilden. Für das Entstehen dieser Basis muss genug Zeit und Kapazität eingeplant werden, da das Konzept sonst nicht funktionieren kann.

Systemwechsel in der Praxis

Jutta und Jürgen Kröll haben einen Bio-Milchviehbetrieb im Westerwald. 2014 haben sie den Betrieb um Gemüseanbau nach dem Konzept der Solidarischen Landwirtschaft erweitert. Die SoLaWi Stopperich hat 120 Anteile. "Als Milchbauer ist der Ansatz der Solidarischen Landwirtschaft für mich ein enormer Unterschied zum herkömmlichen marktorientierten System. Ja, es ist ein Systemwechsel!", so Jürgen Kröll. "Meine Arbeit erhält eine große Wertschätzung der Mitglieder. Bei Schwierigkeiten wie beispielsweise der enormen Trockenheit merke ich, dass die Mitglieder hinter uns stehen. Alle machen sich Gedanken und gemeinschaftlich ist es so viel leichter Lösungen zu finden als alleine", so der Milchbauer. Karl Giesecke ist Gärtner in der solidarischen Gemüsekooperative Rote Beete bei Leipzig. Dort arbeiten sechs Gärtner_innen und versorgen insgesamt circa 500 Menschen mit Gemüse. "Das Konzept der SoLaWi schafft Selbstversorgung, Selbstvertrauen, Selbstorganisation und Gemeinschaftsbildung für alle Mitglieder", so der Gärtner. "Außerdem ist das Mitbestimmungsrecht aller Mitglieder eine Art Kontrollfunktion der Kooperative, damit sich Einzelinteressen nicht verstärkt durchsetzen können. So können die sozialen, ökonomischen und ökologischen Säulen der Kooperative leichter im Gleichgewicht gehalten werden." Seit ungefähr einem Jahr ist die SoLaWi Rote Beete komplett genossenschaftlich organisiert, sodass alle Produktionsmittel allen Mitgliedern gehören.

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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 424 - September 2018, S. 20
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
Bahnhofstr. 31, 59065 Hamm
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Erscheinungsweise: monatlich (11 x jährlich)
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Abonnementpreis: 46,00 Euro jährlich
(verbilligt auf Antrag 32,00 Euro jährlich)


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2018

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