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ASYL/1001: Totalschaden (spw)


spw - Ausgabe 5/2015 - Heft 210
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Totalschaden

von Karl Kopp


Seit Sommer 2015 gilt die Flüchtlingsfrage als die größte, gar historische Herausforderung für Deutschland und Europa. Noch nie in ihrer Geschichte war die Europäische Union als Gemeinschaft so gefragt. Der hartherzige Umgang mit dem kleinen Griechenland im "Schuldendrama" und die Unwilligkeit des Clubs der 28 Staaten, Schutzsuchende menschlich, würdig und solidarisch aufzunehmen, haben den Staatenverbund in eine Existenzkrise gestürzt. Das Projekt Europa droht zu scheitern und zwar das in dem Sinne, dass es die Werte, für die es ursprünglich stand, restlos verrät. Es geht ums Ganze oder wie Bernard-Henri Lévy zusammenfasst: "Nicht nur die Flüchtlinge sind in Gefahr, sondern auch ein Europa, dessen humanistisches Erbe vor unseren eigenen Augen zerbröckelt."(1)

Alte Versäumnisse, Fehleinschätzungen

Die desolate EU-Flüchtlingspolitik im Sommer 2015 fördert wie im Brennglas alte Versäumnisse und europäische Fehlkonstruktionen, aber auch Konflikte und Unterschiede zum Vorschein, die bereits lange vorher existierten und denen keine Beachtung zugemessen wurde: Der Tod, das Elend und die Entrechtung sind integrale Bestandteile der europäischen Flüchtlingspolitik - von Anfang an. Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen, das Zurückprügeln von Flüchtlingen an der bulgarischen und griechischen Grenze zur Türkei, die Verletzungen von Flüchtlings- und Kinderrechten, unmenschliche und erniedrigende Behandlung von Schutzsuchenden in EU-finanzierten Haftanstalten und Elendslagern sind in der EU seit Jahren an der Tagesordnung. Diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen wurden von den anderen Staaten zum Teil wohlwollend in Kauf genommen, vor allem aber von den EU-Institutionen nicht konsequent geahndet.

Sichtbar werden jetzt auf schmerzhafte Weise alle Versäumnisse bei der sogenannten Vergemeinschaftung des Asylrechts. Fakt ist: Es gibt kein gemeinsames europäisches Asylsystem, obwohl die EU-Staaten seit 1999 daran bauen und mittlerweile Richtlinien zu allen zentralen Aspekten des Asylrechts beschlossen wurden. Das realexistierende Schutzsystem in der EU jedoch ist löchriges Flickwerk: ein menschenrechtskonformes gemeinsames Asylrecht liegt in weiter Ferne. Die Kommission hat viel zu spät - erst am 23. September 2015 - 40 Vertragsverletzungsverfahren gegenüber EU-Mitgliedsstaaten eingeleitet. Jahrelang hat sie diese nur halbherzig oder gar nicht betrieben - trotz eklatanter Verstöße gegen EU-Recht. Ausdruck der jahrelangen tiefgreifenden Krise der europäischen Asylpolitik ist das sogenannte Dublin-System, das maßgeblich den EU-Staaten an den Außengrenzen die Verantwortung für die Asylverfahren zuweist. Wer es schafft, den Haftlagern und Elendsquartieren oder der Obdachlosigkeit dort zu entkommen und nach Deutschland weiterzufliehen, muss mit seiner Rückschiebung in diese Länder rechnen. Es gilt weiterhin das alte Muster: Europa einigt sich schnell bei der Fortentwicklung der Abwehrpolitik, ist aber heillos zerstritten, wenn es um die Flüchtlingsaufnahme geht.

Trotz Bürgerkrieg in Syrien seit März 2011, Massenflucht vor dem IS-Terror im Irak, Libyens Abgleiten in den Bürgerkrieg, der katastrophalen Situation in Afghanistan und Somalia, der repressiven Diktatur in Eritrea etc. dachte Europa, es könnte die Flüchtlingskrise wie schon in der Vergangenheit aussitzen und bei der Flüchtlingsaufnahme Zaungast bleiben. Diese Haltung ist spätestens seit 2015 obsolet. Aber auch wenn ein Teil der Flüchtlinge sich jetzt auf den Weg in die Nachbarregion Europa macht, weil die Situation vor Ort sie dazu zwingt, rechtfertigt das nicht, dass die EU im Hinblick auf die "größten Flüchtlingskrise nach dem zweiten Weltkrieg" (UNHCR) so tut, als handele es sich um eine "europäische Flüchtlingskrise". Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, hat das plötzliche Erwachen der politisch Verantwortlichen in Europa pointiert so zusammengefasst: "Unfortunately only when the poor enter the halls of the rich, do the rich notice that the poor exist. Until we had this massive movement into Europe, there was no recognition of how serious the crisis was."(2)

Flucht übers Meer

Die Flüchtlinge kommen überwiegend auf dem gefährlichen Seeweg. Bis zum 19. Oktober 2015 verzeichneten Italien und Griechenland 635.498 Bootsflüchtlinge - im gleichen Zeitraum starben bereits 3135 Männer, Frauen und Kinder im zentralen Mittelmeer und in der Ägäis, dem türkisch-griechischen Seegebiet.

Die zwei zentralen Fluchtrouten in 2015:(3)

  • In Griechenland kamen bis zum 19. Oktober 2015 insgesamt 494.602 Bootsflüchtlinge über die Ägäis an. 93 Prozent der anlandenden Schutzsuchenden flohen aus Syrien (66 Prozent), Afghanistan (21 Prozent) und dem Irak (sechs Prozent).
  • In Italien kamen im gleichen Zeitraum 138.000 Bootsflüchtlinge an. Ihre Zusammensetzung ist angesichts der Fluchtroute über das Bürgerkriegsland Libyen eine andere. 27 Prozent der Schutzsuchenden kommen aus Eritrea, acht Prozent aus Somalia, sechs Prozent aus dem Sudan - und nur noch fünf Prozent sind syrische Flüchtlinge, die mehrheitlich den lebensgefährlichen Transit in Libyen und den langen, häufig tödlichen Seeweg scheuen und die kürzere Überfahrt von der Türkei nach Griechenland und die anschließende Weiterflucht über Land vorziehen.

Flüchtlinge riskieren ihr Leben, um Schutz im "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" - so die EU-Selbstbezeichnung - zu finden. Flucht und Zugang ist im europäischen Konzept nur unter Lebensgefahr möglich, weil die EU und ihre Mitgliedsstaaten keine legalen und gefahrenfreien Fluchtwege offerieren. U.a. wurden die Landgrenzen in Griechenland (2012) und Bulgarien (2013/2014) zur Türkei sukzessive nahezu hermetisch abgeriegelt. Die fatale Bilanz: Mindestens 30.000 Tote verzeichnet das europäische Grenzregime seit dem Jahr 2000.

Unter den vielen Toten war auch der dreijährige Aylan aus Kobane. Er starb mit seinem Bruder und seiner Mutter am 2. September 2015. Aylans Foto erschütterte kurz die Weltöffentlichkeit. Der Sender ntv titelte "Der Untergang Europas - Ein Foto bringt die Welt zum Schweigen". Wenige Tage nach Aylans Tod starben erneut mindestens 27 Kinder und Babys vor den griechischen Inseln Kos, Samos, Lesbos und Farmakonisi. Diesmal, wie bei den zehntausenden Toten vorher, schwieg Europa.

Wie viele Tote noch ?

"Wie viele Tote noch? Europäische Seenotrettung jetzt!" fordert PRO ASYL seit Sommer 2014 in einem Appell an das Europaparlament. Explizit gefordert werden die Schaffung eines europäischen Seenotrettungsdienstes und legale, gefahrenfreie Wege für Flüchtlinge, um das Sterben an Europas Grenzen zu beenden. Die Forderung nach einem Seenotrettungsdienst zeigt, dass sich Flüchtlingsarbeit dramatisch verändert hat: Es geht um Leben oder Tod!

Im Jahr 2014 wurden etwa 150.000 Flüchtlinge durch die italienische Marine-Operation Mare Nostrum gerettet und dennoch starben über 3.500 Bootsflüchtlinge. Anstatt diese Operation auszubauen, europäisch zu gestalten und zu finanzieren, ist Mare Nostrum Ende Oktober 2014 durch eine europäische "Lightversion" namens Triton ersetzt worden. Die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex(4) geführte Operation hatte einen sehr reduzierten Etat. Zugleich wurde das Operationsgebiet drastisch verkleinert. Die Folgen waren absehbar: Weniger Rettung heißt, dass noch mehr Menschen sterben - Triton wurde zur Sterbebegleitung. Erst als im April 2015 über 1.000 Menschen innerhalb weniger Tage im zentralen Mittelmeer starben, gab es einen internationalen Aufschrei und mussten die Staats- und Regierungschefs der EU reagieren. Circa 2.000 Bootsflüchtlinge mussten innerhalb von fünf Monaten sterben, bis die Staats- und Regierungschefs der EU im April 2015 den Einsatzradius und die finanzielle Ausstattung der Seenotrettungskapazitäten wieder auf das Level der Operation Mare-Nostrum angehoben haben. Einen zivilen Seenotrettungsdienst lehnt die EU weiterhin ab. Stattdessen hält sie daran fest, dass Frontex für die Operation verantwortlich ist und macht damit den Bock zum Gärtner. Denn Frontex ist keine Seenotrettungsagentur, sondern ein Teil des europäischen Grenzregimes.

Auch wenn seit der Ausweitung des Radius und der Aufstockung der Kapazitäten wieder mehr gerettet wird, geht das Sterben unvermindert weiter. Im Sommer 2015 mussten deshalb viele Rettungseinsätze über zivilgesellschaftliches Engagement und über private Rettungsinitiativen sichergestellt werden. Initiativen wie Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen oder Migrant Offshore Aid Station (MOAS), die jeweils mit Rettungsbooten im Einsatz sind, leisten. Ebenso ist das Alarmphone für Bootsflüchtlinge in Seenot eine unschätzbare Hilfe dort, wo die europäischen Staaten ihrer humanitären Verpflichtung nicht nachkommen.

Elend geht auf europäischem Boden weiter

Doch selbst für die Überlebenden der Überfahrt geht das Martyrium nach der Ankunft an den Küsten Europas weiter. "Es stehen ihnen", so UN-Flüchtlingskommissar Guterres am 4. September 2015, "Chaos, Demütigungen, Ausbeutung und Gefahren an den Grenzen bevor." Ab Juli 2015 konnte dieses Flüchtlingsleid en direct mitverfolgt werden - in täglichen Liveschaltungen von den griechischen Urlaubsinseln Lesbos und Kos, aus dem griechisch-mazedonischen Grenzgebiet und die gesamte Balkanroute entlang. Die humanitäre Katastrophe wurde lückenlos dokumentiert: Erschöpfte Menschen, darunter viele Kinder, laufen immer weiter in Richtung Zentrum der EU - obdachlos, ohne medizinische Versorgung, ohne gesicherte Verpflegung und unter himmelschreienden hygienischen Verhältnissen.

Tägliche Appelle von Initiativen, Menschenrechtsorganisationen und der UN, den Entrechteten zur Hilfe zukommen, blieben ungehört. Griechenland hatte mehr oder weniger nur einen Laufkorridor durchs Land eröffnet, aber diesen nicht humanitär ausgestattet. Schnelle und konzertierte Katastrophenhilfe von Seiten der EU oder ad-hoc Initiativen der Mitgliedstaaten, um den Schutzsuchenden diesen Marsch zu ersparen und sie legal weiter reisen zu lassen, blieben aus. Überwiegend private Initiativen mussten und müssen das nackte Überleben der Flüchtlinge entlang der Elendsstrecke sichern.

Blaupausen aus Brüssel

Die Europäische Kommission hat am 13. Mai 2015 ihre Europäische Migrationsagenda vorgelegt. Auf das vorangegangene Massensterben im Mittelmeer und die steigenden Flüchtlingszahlen in Griechenland und Italien musste Brüssel reagieren. Mit zwei Themen gelingt es der EU-Kommission, die anschließende öffentliche Debatte zu prägen: Bomben und Quoten. Dabei stehen die Bomben für den von EU-Migrationskommissar Avramopoulos ausgerufenen "Krieg gegen Schlepper" im zentralen Mittelmeer. Die Quoten - ein irreführender Begriff, den die Kommission selbst nicht gebraucht - stehen für die freiwillige Aufnahme von 22.000 Flüchtlingen aus Drittstaaten (Resettlement) und die verbindliche innereuropäische Verteilung (Relocation) von 40.000 eritreischen und syrischen Schutzsuchenden aus Griechenland und Italien nach einem Berechnungsschlüssel. Die Vorschläge wurden kurz öffentlich gefeiert, dann wurden sukzessive die liberaleren Bestandteile von einer "Koalition der Unwilligen"- angeführt von Großbritannien - zerschossen. Nach den Sommerferien musste die EU-Kommission ihre Migrationsagenda nachjustieren. Am 9. September 2015 legte sie vollmundig ein "umfassendes Vorschlagspaket zur Bewältigung der Flüchtlingskrise vor, mit denen die EU-Mitgliedstaaten und die Nachbarländer konfrontiert sind".(5) Weitere 120.000 "Personen, die eindeutig internationalen Schutz benötigen" sollen aus Griechenland, Ungarn (wurde später fallengelassen, weil die Regierung Orban kein Interesse hatte) und Italien auf die Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren umverteilt werden. Außerdem sind vorgesehen: eine effizientere Organisation der Rückkehrpolitik; die Stärkung des Mandats von Frontex im Bereich der Abschiebungen sowie die Einleitung der zweiten Phase im Krieg gegen Schlepper. Im Rahmen der Operation "EUNAVFOR" wird jetzt auch auf hoher See eingegriffen und gegen Menschenhändler und Schlepper vorgegangen werden.(6) Die britische Zeitung Guardian hat den Kommissionsansatz so zusammengefasst: "Junker redet davon, Flüchtlinge willkommen zu heißen und macht Europa gleichzeitig zu einer Festung."(7)

Beim Sondertreffen der EU-Innenminister am 14.09.2015 gab es ein Hauen und Stechen um die neuen Kommissions-Vorschläge zur Flüchtlingsumverteilung. Nur die für die Mitgliedstaaten freiwillige "Relocation" von 40.000 Flüchtlingen innerhalb von zwei Jahren aus Griechenland und Italien wurde beschlossen. Am 22. September 2015 einigten sie sich dann auf die "Notumsiedlung" von 120.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien - gegen den Willen einiger EU-Staaten.

Trotz der Notumsiedlung bleibt die Dublin-Verordnung selbstverständlich weiter in Kraft. Die Notumsiedlung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen innerhalb von 24 Monaten ist angesichts der über 600.000 Ankünfte allein in den ersten neuneinhalb Monaten in Italien und Griechenland immer noch eine unverhältnismäßig geringe Anzahl.

Hotspots - Reanimationsversuche von Dublin

Sogenannte Hotspots - Wartezonen an Europas Grenzen - und ein Notumverteilungsmechanismus sollen das in der Realität längst gescheiterte Dublin-Verteilungssystem jetzt ergänzen und künstlich am Leben halten.

In einer Situation, in der nur noch wenige EU-Staaten Flüchtlinge in nennenswerter Zahl aufnehmen, erscheinen diese Konzepte fast alternativlos. Tatsächlich aber sind sie realitätsfern und menschenrechtlich höchst problematisch. Hotspots in Griechenland und Italien - und bei Änderung der Fluchtrouten auch anderswo - werden die Misere an Europas Rändern nicht beenden. Stattdessen: viele offene Fragen und die Befürchtung, dass dort perspektivisch neue Haftzentren entstehen, in denen Flüchtlinge auf unabsehbare Zeit festgesetzt werden. In den Hotspots sollen Flüchtlinge mit EU-Hilfe registriert und einem Screening unterzogen werden. Flüchtlinge mit guten Schutzperspektiven - aktuell wären das Schutzsuchende aus Syrien, Irak und Eritrea - sollen dann weiterverteilt werden. Voraussetzung ist, dass sie im Hotspot einen Asylantrag stellen. Schon jetzt ist offenkundig, dass ein großer Teil der Flüchtlinge die Voraussetzungen erfüllen wird, aber trotzdem keinen Umverteilungsplatz bekommen wird. Was dann? Zum Umgang mit weiteren Flüchtlingsgruppen, die oft ebenso großen Schutzbedarf haben - zum Beispiel Flüchtlinge aus Afghanistan - sagt das Hotspot-Konzept dagegen nichts. Und was ist mit denjenigen, die beim "Schnellprüfen" als nicht-schutzwürdig aussortiert werden? Die sollen mit Hilfe von FRONTEX - europäisch finanziert - schnell abgeschoben werden. So die bestechende Logik aus Brüssel, die Innenministerherzen höher schlagen lässt. In den letzten Jahren hat die EU vor allem in Griechenland circa 6.000 Haftplätze für Flüchtlinge finanziert, aber es gibt weiterhin kaum menschenwürdige Aufnahmeplätze in dem Land.

All das heißt: Ein großer Teil der Flüchtlinge wird sich weiterhin auf eigene Faust den Weg nach Europa bahnen müssen - mit Hilfe von Schleppern und häufig unter Lebensgefahr. Und selbst diejenigen Flüchtlinge, die in den Wartezonen einen der wenigen Relocation-Plätze ergattern, haben kein Recht darauf, ihr Aufnahmeland frei zu wählen. Sie werden in der Regel einem EU-Mitgliedsland zwangszugewiesen und sind dann dazu verpflichtet, dort zu bleiben. Wandern sie dennoch weiter, sollen sie postwendend wieder abgeschoben werden.

Flüchtlinge haben das legitime Interesse, sich dort niederzulassen, wo sie aufgrund von sozialen Anknüpfungspunkten und sozio-ökonomischen Bedingungen die besten Integrationschancen haben. Flüchtlinge von der EU-weiten Freizügigkeit auszuschließen, ist für die Betroffenen fatal sowie für die EU und ihre Mitgliedstaaten - die Außerkraftsetzung des Schengener Abkommens durch die Grenzkontrollen innerhalb der EU führt dies drastisch vor Augen. Menschen, die in einem EU-Staat als international schutzberechtigt anerkannt sind, müssen in der EU Freizügigkeit genießen dürfen.

So wichtig für die EU eine solidarische Regelung ist, die alle Mitgliedstaaten in die Pflicht nimmt: Ungleichgewichte bei der Flüchtlingsaufnahme müssen durch Finanztransfers zwischen den Mitgliedstaaten ausgeglichen werden - Schutzsuchende zwangsweise umzuverteilen ist nicht akzeptabel.

Fazit: Das Hotspot-Konzept ist ein Laborversuch. Er folgt der von einzelnen, auch deutschen Innenministern, immer wieder geäußerten Phantasie von "Willkommenszentren oder Lagern in Nordafrika" - mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Einrichtungen auf EU- Territorium stehen sollen. Sie sind auch ein Instrument, das umfassende Interventionen in einem EU-Krisenstaat ermöglicht und darüber gewährleisten soll, dass er die ihm zugedachten Aufgaben - Sicherung der Außengrenze und Registrierung neu ankommender Schutzsuchender, die es dennoch in die EU schaffen - besser als bisher erfüllt.

Bezogen auf den "Hotspot Griechenland" geht die EU-Kommission so weit, dass im Zuge der umfassenden personellen und materiellen Intervention durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten, das Krisenland sogar bald in die "Dublinfamilie" zurückkehren könne: "Besonderes Augenmerk muss Griechenland gelten, damit sich die Lage schnellstmöglich normalisiert und innerhalb der kommenden sechs Monate das Dublin-Verfahren wieder angewandt wird."(8)

Schmutzige Deals mit der Türkei

Am 5. Oktober 2015 trafen sich die Präsidenten von EU-Kommission, Europäischem Parlament und Europäischem Rat mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Erdogan wird von Europa hofiert, damit er alles dafür tut, dass Flüchtlinge da bleiben, wo sie sind: In der Türkei. Die Gespräche mit dem türkischen Staatspräsidenten hätten sich um finanzielle Unterstützung, Grenzmanagement, den Kampf gegen "Schleuser", Integrationspolitiken und Visaliberalisierungen gedreht, ließ EU-Ratspräsident Donald Tusk verlauten.(9) Es soll die Kooperation bei der "Verhinderung irregulärer Migrationsströme" in die EU forciert werden. Im Gegenzug möchte der türkische Präsident vor dem Hintergrund seiner neuen Eskalationsstrategie im Kurdenkonflikt ganz "offensichtlich Europa vor den Karren spannen", wie es Grünen-Politiker Cem Özdemir formulierte.(10)

Donald Tusk hält es für unumstritten, dass Europa seine Grenzen besser managen müsse. Man erwarte jedoch das gleiche von der Türkei. Weitere Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr beinhalten: die verstärkte Kooperation zwischen EU-Mitgliedstaaten und der Türkei bei gemeinsamen "Rückkehroperationen" in Herkunftsländer von "irregulären Migranten", die Verbesserung des Informationsaustauschs zur Bekämpfung von Schleusernetzwerken mithilfe von Frontex-Verbindungsbeamten in der Türkei sowie die finanzielle Unterstützung der Türkei bei der Entwicklung eines integrierten Grenzmanagementsystems. Auch die Kooperation mit den Behörden von Pakistan, Afghanistan, Irak, Iran und Bangladesch im Rahmen der "Silk Routes Partnership for Migration" zur Verhinderung "irregulärer Migration" und dem Kampf gegen "Schleusernetzwerke" will die EU weiter stärken. Irreguläre Migranten, die über die Türkei weiter nach Griechenland, Bulgarien oder Rumänien gereist sind, sollen von der Türkei "rückübernommen" werden. Insgesamt will man die Kooperation mit den bulgarischen und griechischen Behörden stärken. Die Türkei beabsichtige zudem, so der Aktionsplanentwurf,(11) die bis jetzt relativ liberalen Visabestimmungen restriktiver zu fassen.

Insgesamt eine Milliarde Euro will die EU der Türkei in 2015 und 2016 für die Aufnahme und Integration von syrischen und irakischen Flüchtlingen zur Verfügung stellen. "Wir haben mit Staatspräsident Erdogan darüber gesprochen, dass die Türkei die Flüchtlinge im Land betreuen soll, dass wir dafür Flüchtlingszentren einrichten und der Türkei finanzielle Unterstützung geben wollen", sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz.(12) Im fünften Jahr des syrischen Bürgerkrieges glaubt Europa also allen Ernstes, man könne Millionen Flüchtlinge einfach in ein Lager stecken oder dort belassen. Nichts zu lesen ist in diesem Aktionsplanentwurf hingegen von den im Vorfeld in verschiedenen Presseberichten kolportierten 500.000 EU-Resettlementplätzen für Flüchtlinge, die in der Türkei leben. Relativ unverbindlich heißt es nunmehr, man beabsichtige die EU- und mitgliedstaatlichen Resettlementprogramme zu unterstützen, damit Flüchtlinge aus der Türkei legal nach Europa reisen könnten.

Bereits am 9. September 2015 hatte die Europäische Kommission außerdem einen Vorschlag zur Einführung einer EU-weiten Liste "sicherer Herkunftsländer" vorgelegt. Der Entwurf der Kommission sieht vor, zunächst folgende Länder auf die Liste zu setzen: Die Türkei, außerdem Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Kosovo und Montenegro. Vor dem Hintergrund des aufflammenden Konflikts zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Minderheit sowie zahlreichen Berichten über massive Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ist die Diskussion um die Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland zynisch. Sie zeigt, dass das Konzept der "sicheren Herkunftsländer" allein politischem Kalkül folgt, nicht der Realität.

Dann ist das nicht mein Europa

Dass Flüchtlinge in Ungarn mit einer Europa-Flagge den "Marsch der Hoffnung" angetreten haben und nach der erwirkten Ausreise in Österreich und Deutschland freudig empfangen wurden, war ein wichtiges Signal, das Initiativen in anderen Ländern bestärkt hat. Es hat auch gezeigt, dass die Flüchtlinge die letzten überzeugten Europäer sind, die noch an Freiheitsversprechungen glauben. Der Ruf nach einer anderen Flüchtlingspolitik wird lauter. Doch zeitgleich erstarken überall populistische und rassistische Bewegungen - und Europas Regierungen versuchen in fortlaufenden Krisengipfeln nunmehr eine gemeinsame Linie in der Flüchtlingspolitik zu finden. Wenn es überhaupt einen Ausweg aus der aktuellen europäischen Existenzkrise geben soll, dann muss sich jetzt schnell eine "Koalition der Willigen" bilden, die den Flüchtlingsschutz in Europa neu organisiert. Der Schlüssel hierzu liegt in Berlin. Kanzlerin Merkel hat mit ihrer starken und eindeutigen Botschaft - "wenn wir uns entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land" - Deutschland in die Verantwortung genommen. Diese moralische Verantwortung muss angesichts der eskalierenden Flüchtlingskrise auch für Europa gelten.


Karl Kopp ist Europareferent der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL und Vorstandsmitglied im Europäischen Flüchtlingsrat (ECRE).


Anmerkungen

(1) Flüchtlingskrise - Europa zahlt den Preis für seine Gleichgültigkeit", Die Welt vom 2. September 2015
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article145969807/Europa-zahlt-den-Preis-fuer-seine-Gleichgueltigkeit.html.

(2) Reuters vom 27. September 2015: U.N. says world waited too long to act on refugee crisis.

(3) http://data.unhcr.org/mediterranean/country.php?id=105
- interaktiv, aktualisiert sich fortlaufend - letzter Zugriff am 19. Oktober 2015.

(4) European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders of the Member States of the European Union.

(5) "Flüchtlingskrise: die Europäische Kommission handelt". Straßburg, 9. September 2015.
http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5596_de.htm.

(6) Vgl. http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-15-5597_de.htm.

(7) The Guardian vom 10. September 2015: "Juncker talks of welcoming refugees, while turning Europe into a fortress".

(8) EUROPÄISCHE KOMMISSION: MITTEILUNG AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN EUROPÄISCHEN RAT UND DEN RAT. Bewältigung der Flüchtlingskrise: operative, haushaltspolitische und rechtliche Sofortmaßnahmen im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda, Brüssel, den 23.9.2015 COM(2015) 490 final.

(9) http://www.consilium.europa.eu/press-releases-pdf/2015/10/40802203215_en_635796626400000000.pdf

(10) http://www.ndr.de/info/sendungen/interviews/Interview,fluechtlingspolitik170.html.

(11) http://ec.europa.eu/priorities/migration/docs/20151016-eu-revised-draft-action-plan_en.pdf

(12) Die Zeit vom 5. Oktober 2015: "Flüchtlingspolitik: Jetzt wird gedealt".

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2015, Heft 210, Seite 74-80
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2015

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