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ASYL/586: Minderjährigenschutz für Kinderflüchtlinge in Schleswig-Holstein (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 47 - Frühling 2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

"In keinem Einzelfall ministerielle Vorgaben umgesetzt"
Minderjährigenschutz für Kinderflüchtlinge in Schleswig-Holstein

Von Margret Best


lifeline Vormundschaftsverein beklagt Defizite bei der Anwendung des Kinder- und Jugendschutzes von jugendlichen Flüchtlingen durch schleswig-holsteinische Behörden.


lifeline engagiert sich für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und wurde als Zweigverein des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein e.V. 2004 gegründet. Er vermittelt Einzelvormundschaften für minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern oder andere Sorgeberechtigte nach Deutschland einreisen und begleitet mit Beratung und Fortbildung private Vormünder. Über die Jahre ist lifeline zu einer zentralen Fachstelle bei Fragen um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Schleswig-Holstein geworden. In etwa 150 Fällen wurden entweder Einzelvormünder vermittelt oder schon bestellte Vormünder, darunter auch Amtsvormünder, beraten.

Seit 2005 müssen gemäß § 42 SGB VIII bundesweit alle einreisenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge von den Jugendämtern in Obhut genommen werden. D.h. für die Erstversorgung und die Reglung der gesetzlichen Vertretung ist das jeweilige Jugendamt zuständig. Diese vorläufige Schutzgewährung soll erreichen, dass Kinderflüchtlinge zuerst als Minderjährige und erst danach als Flüchtlinge oder Ausländer gesehen werden. Aber von einer vollen Umsetzung des Gesetzes in den relevanten Verwaltungen und in jedem Einzelfall ist man noch weit entfernt.


Kaserne versus Jugendhilfeeinrichtung

Da kommt es zum Beispiel für die 16- und 17-jährigen Flüchtlinge immer noch zur Ausgrenzung aus der Jugendhilfe. Das trifft vor allem unbegleitete Minderjährige, die einen Asylantrag stellen wollen und sich deshalb in Lübeck in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende (EAE) melden. 2008 kamen 30 Jungen und drei Mädchen dort an [Irak (12), Afghanistan (10), Russische Förderation/Tschetschenien (4), Algerien (2), Syrien (1), Vietnam (2), Palästina (1), ungeklärt (1)]. Alle wurden sie - allerdings folgenlos - den örtlich zuständigen Jugendämtern zur Inobhutnahme gem. § 42 SGB VIII gemeldet.

Denn "bei allen aufgenommenen Flüchtlingen," so erklärt das Landesamt für Ausländerangelegenheiten die statistischen Daten und die eigene Zuständigkeit, "hat das örtlich zuständige Jugendamt bestätigt, dass entweder die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme nicht vorliegen oder die Inobhutnahme beendet worden ist mit der Entscheidung, dass es keinen Bedarf für die Gewährung von Jugendhilfemaßnahmen gibt."


Administrative "Altersfeststellung"

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge führen häufig weder einen Pass noch Personenstandsurkunden bei sich, um ihr angegebenes Alter beweiskräftig vorzutragen. Einige von ihnen haben solch ein Papier auch in ihrem Herkunftsland nie besessen. Die Jugendämter begegnen den Jugendlichen regelmäßig mit Zweifeln an der Minderjährigkeit und es kommt nach einer Inaugenscheinnahme schnell zu einer Ablehnung der Inobhutnahme. Der betroffene Jugendliche indes kann weder Widerspruch oder gar Rechtsmittel dagegen einlegen. Ein seriöses Altersfeststellungsverfahren durchgeführt von unabhängigen Fachleuten, die über die notwendige Expertise und Kenntnis des ethnischen und kulturellen Hintergrundes des Jugendlichen verfügen, wie es der UNHCR verlangt, wird nicht vorgenommen.

Für die anerkannt Minderjährigen führt das Jugendamt in der EAE ein Gespräch, in dem Fragen zum familiären Hintergrund, Erreichbarkeit der Eltern oder möglicher Verwandter abgeklärt und Hilfsmöglichkeiten der Jugendhilfe besprochen werden. Das Ergebnis dieses sog. "Clearings" steht aber offensichtlich bei allen Minderjährigen schon vorher fest: Kein Jugendhilfebedarf!

Die Minderjährigen verbleiben in der EAE und werden fortan wie erwachsene Flüchtlinge behandelt, d.h. eher kontrolliert als gefördert. Auch die Jugendlichen, die selbst in der EAE wegen bestehender Kontakte zu "Landsleuten" bleiben wollen, werden bald enttäuscht. Keiner sagt ihnen, dass der Verbleib in Lübeck nur vorübergehend ist und die Trennung von ihren "Bezugspersonen" durch den Transfer in die nächste Kaserne, die Zentrale Gemeinschaftsunterkunft (ZGU) in Neumünster, oder andernorts im Land in der Regel vorprogrammiert ist.


Indikatoren der Schutzbedürftigkeit

Die aufgrund der Lebensumstände im Heimatland oder während der Flucht erworbenen notwendigen Überlebensstrategien lassen die Jugendlichen oft sehr selbständig erscheinen. Dieses darf bei der Entscheidung über das Maß der Betreuung nicht dazu führen, vorhandene Indikatoren für einen Jugendhilfebedarf nicht zu berücksichtigen. Denn die beobachtete soziale Kompetenz und Leistungsbereitschaft kann auch Zeichen für bisweilen persönlich tief empfundene "Überlebensschuld" sein und ernsthafte psychosoziale Folgen haben.

Nach den Erfahrungen von lifeline zeigen sich nach einem tatsächlich auf die Bedürfnisstruktur des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings ausgerichteten Clearingverfahren solche Indikatoren sehr schnell. Da ist z.B. der Verlust der Eltern bzw. der Herkunftsfamilie, der Abbruch des schulischen und beruflichen Lebenszusammenhanges, die Fremdheit der neuen Kultur, Lebensweise und Sprache, ggf. Fluchttrauma und Gewalterfahrungen, das Fehlen angepasster Handlungskompetenzen im Exil sowie einer realistischen Lebensplanung und in vielen Fällen ein noch nicht abgeschlossener Reifeprozess.

In ihrer so beschriebenen sehr komplexen Situation benötigen die Minderjährigen verlässliche Bezugspersonen und auch "geschützte Räume". Dies wäre durch Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen oder durch andere geeignete Jugendhilfemaßnahmen gewährleistet.


"Transitland" Schleswig-Holstein

Schleswig-Holstein ist zumeist nur Transitland für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Viele sind eigentlich auf dem Weg nach Skandinavien, wo sich manchmal auch schon Familienangehörige von ihnen befinden. Zunehmend werden solche Jugendlichen von der Bundespolizei wegen fehlender Grenzübertrittspapiere in den Zügen, auf Fähren oder auf den Autobahnen in den nördlichen Grenzkreisen aufgegriffen und den dort örtlich zuständigen Jugendämtern zur Inobhutnahme gemeldet.

Den Jugendämtern stehen zur Unterbringung dieser Jugendlichen aber nur die jeweiligen Kinder- und Jugendnotaufnahmeinrichtungen der Kreise zur Verfügung. Die jedoch sind personell (z.B. fehlende Dolmetscher) nicht auf diese besondere Gruppe und deren sehr spezielle Bedürfnisstruktur und Motivation vorbereitet. Nach den Recherchen von lifeline blieben 2007 in einem der Kreise von 17 Jugendlichen nach wenigen Tagen nur zwei von 31, in einem anderen Kreis in 2008 nur ein Jugendlicher übrig.

Die meisten versuchen es erneut nach Skandinavien zu kommen. Nicht wenige führt ein nochmaliger Aufgriff durch Bundes- oder dänische Polizei in die Abschiebungshaftanstalt Rendsburg. Dort landeten 2008 immerhin 13 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.


Aufgegriffen, eingesperrt und abgeschoben

In Abschiebehaft endete auch für einen 17-jährigen traumatisierten Jugendlichen aus Kasachstan der kurze Aufenthalt in Schleswig-Holstein. Er wurde abgeschoben nach Finnland und zwar direkt in die dortige Abschiebehaftanstalt, da sich sein Vater in Norwegen und seine Mutter in Kasachstan befanden. Sein gesetzlich garantierter Anspruch auf Minderjährigenschutz wurde missachtet.

Denn bezüglich Rück- und Abschiebung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind rechtzeitig Maßnahmen zu prüfen, die gewährleisten, dass im Zielland die Übernahme, Unterbringung und bedarfsgerechte Betreuung des Minderjährigen durch Angehörige, durch Vertreter geeigneter Organisationen oder Betreuungseinrichtungen sichergestellt werden kann [Erlass des Kieler Innenministeriums (IMSH) v. 12.4.2004: www.frsh.de/behoe/erlass.html].

Für die Durchführung von Abschiebungshaft für minderjährige Flüchtlinge gibt es ebenfalls besondere Vorschriften. Ein Haftantrag darf nur gestellt werden, wenn vorab mit dem zuständigen Jugendamt geklärt und dokumentiert worden ist, dass eine anderweitige Unterbringung im Sinne des § 42 Abs.1 Satz 2 SGB VIII nicht möglich oder geeignet ist und die Haft zur Sicherung der Abschiebung unabdingbar erscheint (Erlass IMSH 28.2.2008).

Leider konnte lifeline in keinem der von ihm recherchierten Einzelfälle erkennen, dass der Schutz der minderjährigen Flüchtlinge entsprechend ministerieller Vorgaben umgesetzt wurde.


Margret Best ist Mitglied im lifeline Vormundschaftsverein im Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein.
www.lifeline-frsh.de


*


Der Landtag möge beschließen

Die Abgeordneten des SSW, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP stellten im Kieler Landtag einen Antrag, der am 3.12.2008 auf der Tagesordnung des Innen- und Rechtsausschuss stand:

"Der Landtag möge beschließen:
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind gemäß § 42 SGB VIII in Obhut zu nehmen. Dies schließt eine Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung, die keine Jugendhilfeeinrichtung ist, oder in einer Jugendstrafanstalt aus.
Die Landesregierung wird aufgefordert, ein Clearingverfahren zur Ermittlung des spezifischen Hilfebedarfs von minderjährigen Flüchtlingen verbindlich festzulegen."

Dieser Antrag wurde "im Paket" mit zwei weiteren Anträgen zu traumatisierten Flüchtlingen und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Abschiebungshaft behandelt. Das eigentlich dreiteilige "Antragspaket" wurde von der CDU und der SPD abgelehnt. Begründung: Der Ausschuss habe sich wiederholt mit den "beiden Anträgen" zugrunde liegenden Fragestellungen auseinandergesetzt. Die Fraktion der SPD sehe sie - auch im Hinblick auf ein Schreiben des Innenministeriums zur "Ärztlichen Begutachtung von traumatisierten ausreisepflichtigen Personen" (Umdruck 16/3727) für erledigt an.

Kommentar:

Antrag auf konkrete Hilfestrukturen für Kinderflüchtlinge im Innenausschuss des Kieler Landtages abgelehnt

Während des migrationspolitischen Hearings am 29. Oktober 2008 im Kieler Landeshaus kündigten die Oppositionsparteien eine gemeinsame parlamentarische Initiative für ein "Clearingverfahren für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Schleswig-Holstein" an. Der lifeline-Vormundschaftsverein und Andere hatten zuvor die prekäre Lage von Kinderflüchtlingen beklagt, die aktuelle Verwaltungspraxis kritisiert und die Schaffung einer Clearingstelle dringend angemahnt.

Die Abgeordneten des SSW, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP stellten nebenstehenden Antrag, der am 3.12.2008 auf der Tagesordnung des Innen- und Rechtsausschuss stand.

Für unbegleitete Minderjährige, die zur Sicherung der Abschiebung in Haft genommen werden sollen, gibt es seit Februar 2008, wie im Innen- und Rechtsausschuss zur Begründung der Ablehnung des Antrages eingebracht, in der Tat einen Erlass des Innenministeriums, der die geänderte Rechtslage durch § 42 SGB VIII mit einbezieht*. Auch für traumatisierte Flüchtlinge gibt es seit Juli 2008 einen Erlass über die "Anwesenheit dritter Personen bei ärztlichen Begutachtungen im Rahmen der Prüfung von Flugreisetauglichkeit" (*).

Zur Einrichtung eines auf den besonderen Hilfebedarf von minderjährigen Flüchtlingen ausgerichteten, für Schleswig-Holstein landesweit einheitlichen und verbindlichen Clearingverfahrens äußerten sich Innen- oder Sozialministerium aber nicht.

Auf Nachfrage antwortete der SPD-Abgeordnete Puls: Die Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sei mit § 42 SGB VIII eine bundesgesetzliche Regelung, über die es auf Landesebene nichts zu beschließen gäbe. Die Verantwortung der Umsetzung dieser verpflichtenden Norm sei vom Land voll an die örtlich zuständigen Jugendämter abgetreten. Das Sozialministerium habe bezüglich der Umsetzung der verpflichtenden Norm lediglich die Rechtsaufsicht und keine Fachaufsicht. Wenn man was erreichen wolle, müsse man auf kommunaler Ebene ansetzen.

Die Dienst- und Fachaufsicht für die Jugendämter liegt allerdings bei der Kommunalaufsicht. Und die Kommunalaufsicht liegt wiederum beim Innenministerium. Angesichts dieser Zuständigkeitskonstruktion muss mensch sich über die politische Zurückhaltung für eine Kinderrechtinitiative zugunsten von Flüchtlingen seitens der Landesregierung nicht mehr wundern. Denn für dieses humanitäre Anliegen die Regierung zum Jagen zu tragen, gibt es im Kieler Landtag offenbar keine Mehrheiten. Einmal mehr wurde das Thema für erledigt erklärt.

Hierzulande ist kein politisch Verantwortlicher gewillt, der vollen Umsetzung des § 42 SGB VIII Geltung zu verschaffen.

(*) Die benannten Erlasse stehen im Internet:
www.frsh.de/behoe/erlass.html

Margret Best ist Mitglied im lifeline-Vormundschaftsverein


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 47 - Frühling 2009, Seite 24-26
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Oldenburger Str. 25, 24143 Kiel
Tel.: 0431/73 50 00, Fax: 0431/73 60 77
E-Mail: office@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
Nichtmitglieder können ihn für 18,00 Euro jährlich
abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2009