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ASYL/679: Die Würde des Menschen wird mit Füßen getreten (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 25. November 2010

Die Würde des Menschen wird mit Füßen getreten

PRO ASYL über die Ergebnisse einer Recherchereise in das griechisch-türkische Grenzgebiet Evros


Seit Anfang November sind deutsche Grenzbeamte im Rahmen einer Frontex-Mission an der Landgrenze Griechenlands zur Türkei im Einsatz.

Letzte Woche besuchten Günter Burkhardt (Geschäftsführer) und Karl Kopp (Europareferent) von PRO ASYL gemeinsam mit Tom Koenigs, Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, das Evros-Gebiet. Ergänzend recherchierte PRO ASYL gemeinsam mit griechischen Rechtsanwälten und Unterstützern die Situation.

Das erschreckend Neue an den Ergebnissen dieser Reise ist, dass vermehrt Flüchtlinge aus dem Iran, dem Irak und Syrien akut von Abschiebung in die Türkei bedroht sind. PRO ASYL und Tom Koenigs stießen auf völlig überfüllte Haftlager, in denen selbst Familien mit Kindern und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert sind. Eine wochenlange Inhaftierung unter Bedingungen, wo sich Menschen noch nicht einmal niederlegen können, um zu schlafen, ist menschenverachtend. Die Haftbedingungen stellen einen Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention dar:

"Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden".

Deutsche und Grenzpolizisten anderer EU-Staaten werden in ein völlig chaotisches System eingebunden, das zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen führt. Angesichts ihrer Einbindung in nicht verantwortbare Zustände im Evros-Gebiet fallen sie in ein "moralisches Loch".

Der Einsatz von Frontex hat die Lage aus Sicht von PRO ASYL nicht besser gemacht - im Gegenteil: Das hastige Screening (Identitätsfeststellungsverfahren) durch Frontex führt zu krassen Fehlentscheidungen. Koenigs und die PRO ASYL-Vertreter trafen im Haftlager Tychero Afghanen an, die als Iraner inhaftiert sind und die akut von der Abschiebung in die Türkei bedroht sind.

PRO ASYL klagt die Bundesregierung an, sich der Beihilfe zum Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention schuldig zu machen. Wenn deutsche Polizisten im Rahmen eines Frontex-Einsatzes in solche Zustände eingebunden sind und Kinder, Familien und Schutzbedürftige einer derart erniedrigenden Behandlung unterworfen werden, trägt der Bundesminister des Innern hierfür die Verantwortung.

Statt einer weiteren Abschottung der Grenzen fordert PRO ASYL ein Sofortprogramm in Deutschland und anderen europäischen Staaten zur Unterstützung von Flüchtlingen in Griechenland.

Dazu gehören insbesondere:

Aufnahmemaßnahmen für unbegleitete Flüchtlingskinder und Familien mit Kindern, die sich z.Zt. in Griechenland aufhalten.
Ernsthafte Verhandlungen mit dem Ziel einer solidarischen Teilung der Verantwortung in Europa für die Aufnahme von Flüchtlingen. Dazu gehört die grundlegende Reform des europäischen Zuständigkeitssystems Dublin II. Eine europäische Gesamtlösung für den Schutz von Flüchtlingen ist erforderlich.

*


Bundesinnenminister de Maizière am 28. Oktober 2010:
"Griechenland braucht Hilfe - Griechenland bekommt Hilfe"

Zu den Folgen des Frontex-Einsatzes an der türkisch- griechischen Landgrenze mit deutscher Beteiligung


PRO ASYL: Deutschland und die EU tragen nun die Mitverantwortung für die humanitäre Katastrophe im Evros-Gebiet

PRO ASYL-Vertreter Günter Burkhardt (Geschäftsführer) und Karl Kopp (Europareferent) waren gemeinsam mit Tom Koenigs, Vorsitzender des Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 16. und 17. November 2010 im Evros-Gebiet, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen.

Seit Anfang November sind im griechisch-türkischen Grenzgebiet auch deutsche Bundespolizisten im Einsatz. Sie sind Teil eines Frontex-Rabit-Einsatzes, mit dem 175 Spezialisten für die Grenzkontrolle in das Evros-Gebiet geschickt wurden. Zeitweise werden bis zu 40 deutsche Beamte im Gebiet Orestiada an dem Frontex-Einsatz teilnehmen. Deutschland stellt außerdem sieben Patrouillenfahrzeuge und vier Wärmebildkameras.

Verlauf der Reise:
15. und 16. November 2010 bis 18 Uhr
Karl Kopp (Europareferent) und Günter Burkhardt (Geschäftsführer) von PRO ASYL und Salinia Stroux (Dolmetscherin) führen Gespräche mit Frontex-Beamten, griechischen Polizisten und Flüchtlingen in der Präfektur Orestiada.

16. November, 18 Uhr bis 17.11., 21 Uhr Gemeinsame Gespräche mit
- dem Polizeichef der Evros-Region, Sitz der Präfektur in Alexandroupolis
- dem Leiter des Haftlagers Tychero
- dem Leiter des Haftlagers Filakio
- dem Chef der Grenzpolizei des Übergangs Kipi
- dem Chef des Zollamtes
- dem Chef der Polizeidirektion von Orestiada
- Besuch der Haftlager Tychero und Filakio und Gespräche mit Flüchtlingen

18. und 19. November
Salinia Stroux und die von PRO ASYL hinzugezogene Rechtsanwältin Tzeferakou, Athen, führen weitere Gespräche in der Polizeidirektion Soufli, Feres und Tychero mit inhaftierten Flüchtlingen, die von Tzeferakou anwaltlich vertreten werden.

19. November
Weiterreise von Koenigs nach Athen, Weiterreise von Burkhardt und Kopp nach Istanbul.


Zentrale Ergebnisse der Reise aus Sicht von PRO ASYL

Überfüllte Lager, menschenunwürdige Haftbedingungen, keine rechtsstaatlichen Garantien für Schutzsuchende

Alle Neuankömmlinge, die von der griechischen Polizei und den Frontexbeamten aufgegriffen werden, werden in einem der zahlreichen Haftlager inhaftiert. Die Lebensbedingungen in diesen sind katastrophal, die Haftzellen überfüllt, Hofgang wird kaum gewährt, die sanitären Bedingungen sind gesundheitsgefährdend und eine medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet. Die Flüchtlinge werden nicht einmal über die Gründe der Inhaftierung in einer ihnen verständlichen Sprache informiert. So wissen viele nicht, dass sie unmittelbar von einer Zurückschiebung in die Türkei bedroht sind. Informationen über ihre Rechte als Inhaftierte und zum Asylverfahren sind nicht verfügbar. Dolmetscherdienste sind weiterhin in den Haftanstalten nicht verfügbar. Den Inhaftierten werden keine schriftlichen Informationen über ihre Verfahrensrechte ausgehändigt. Selbst die Informationsbroschüre, die die wachhabenden Polizisten in Tychero der Besuchsdelegation zeigten, ist seit Juli 2009 auf Grund zahlreicher Gesetzesänderungen völlig veraltet. Die einzigen Dolmetscher, die in diesen Lagern vorhanden sind, arbeiten für die europäische Grenzagentur Frontex und werden nur zur anfänglichen Registrierung der Identität, Nationalität und des Alters hinzugezogen.


Flüchtlinge aus dem Iran, Irak und Syrien sind akut von Abschiebungen in die Türkei und von der Kettenabschiebung in die Herkunftsländer bedroht.

In den Gesprächen mit der Polizeidirektion in Alexandroupolis sowie den oben genannten Polizeidienststellen wurde bestätigt, dass vor allem Schutzsuchende aus dem Iran, Irak und Syrien länger als andere Flüchtlinge und Migranten inhaftiert werden. Der Grund sei, dass im Rahmen des Rückübernahmeprotokolls mit der Türkei die türkischen Behörden eher bereit sind, diesen Personenkreis zurückzunehmen, weil sie diese Flüchtlinge und Migranten direkt in die angrenzenden Nachbarstaaten abschieben können. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Manfred Nowak, veröffentlichte am 20. Oktober 2010 die vorläufigen Ergebnisse seiner Fact Finding Mission in Griechenland. Nowak beschreibt die Haftbedingungen als "unmenschlich und erniedrigend" und warnt vor den Gefahren des sogenannten Rückübernahmeprotokolls zwischen Griechenland und der Türkei. Dieses ermögliche die Weiterabschiebung von Schutzsuchenden bis in die Nachbarländer Iran, Irak und Syrien - ohne dass ihr Schutzgesuch gehört würde. Nowak sieht die Gefahr der Verletzung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gemäß der UN-Antifolterkonvention.

Während Flüchtlinge aus den genannten Ländern länger festgehalten werden, werden Inhaftierte aus Pakistan, Afghanistan und anderen Staaten nach einigen Tagen aus der Haft entlassen. Ihnen wird ein Papier in griechischer Sprache ausgehändigt, wonach sie Griechenland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen haben.


Fehlerhafte Identitätsfeststellungen machen Abschiebungen in die Türkei möglich

Aus den informellen Gesprächen mit Frontexbeamten und griechischen Polizisten wird deutlich, dass das Screeningverfahren (Identität, Herkunftsland, Alter) nur wenige Minuten dauert. Nach Auffassung von deutschen Polizisten, mit denen wir gesprochen haben, ist für ein ordentliches Identitätsfeststellungsverfahren in Deutschland häufig ein voller Arbeitstag pro Fall erforderlich. Hier werde im Minutentakt "gescreent". Dies habe mit einer anständigen Polizeiarbeit nichts zu tun. Der Polizeichef von Orestiada bestätigt im Gespräch mit Tom Koenigs und anderen, dass das Screening eine Trefferquote von 80 bis 95% habe. Die Richtigkeit dieser Zahl sei dahingestellt. Fakt ist, dass nun auch offiziell die griechische Seite bestätigt, dass es eine erhebliche Fehlerquote gibt.

Zum Zeitpunkt unseres Besuches waren im Haftlager in Tychero zwölf afghanische Flüchtlinge inhaftiert, die im Rahmen eines Identitätsfeststellungsverfahrens (Screening) als Iraner eingeordnet wurden. Nach Überschreitung der Grenze wurden die betroffenen Flüchtlinge inhaftiert. Sie sind in Haft, ohne dass sie wissen, was der Zweck der Haft und die drohende Folge ist. Es ist eine administrative Haft, gegen die de facto keine Rechtsmittel möglich sind. Die Betroffenen haben keinerlei Dokumente erhalten, aus denen hervorgeht, dass ihre Abschiebung in die Türkei bevorsteht. PRO ASYL wurde auf diese Flüchtlinge aufmerksam gemacht, als Familienangehörige sich mit Salinia Stroux in Verbindung setzten und diese informierten, dass sich die Betroffenen in Tychero befinden. Die Inhaftierten hatten Kopien von afghanischen Dokumenten vorgelegt, die ihre Aussage aus Afghanistan zu stammen unterstützen.

Diese fehlerhaften Identitätsfeststellungen sind keine Einzelfälle. Rechtsanwältin Tzeferakou und Rechtsanwältin Strachini sind im August 2010 im Auftrag von PRO ASYL zugunsten von Betroffenen anwaltlich tätig geworden. In einem Bericht an den Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, UNHCR, und den griechischen Ombudsmann beschreiben sie, dass auch in diesem Zeitraum fehlerhafte Identitätsfeststellungen aufgetreten sind. In Filakio wurde der minderjährige Afghane N.S. (15 Jahre alt) als volljähriger türkischer Staatsbürger registriert und wochenlang zusammen mit Erwachsenen inhaftiert. Zudem wurde in der Polizeistation Soufli eine Familie aus dem Irak als syrische Staatsangehörige registriert.


Die Würde des Menschen wird mit Füßen getreten

a) Die Abriegelung der Grenze
Die Abriegelung der Grenze erfolgt durch technisches Gerät, intensivierte Kontrollen, dem Einsatz von Scheinwerfern, Blaulicht-Einsatz, Lautsprecheransagen. Nach Aussagen von Frontexbeamten wurde an der Grenze auch schon in die Luft geschossen, um Flüchtlinge zum Anhalten zu bringen. Der Warnschuss habe die Flüchtlinge und Migranten so verschreckt, dass ein Flüchtling aus Angst über den Absperrzaun auf vermintes Gelände gesprungen sei.

b) Keine Schutzmaßnahmen für Flüchtlinge und besonders Schutzbedürftige
Aus informellen Gesprächen mit Frontexbeamten und griechischen Polizisten wird deutlich, dass von Seiten der europäischen Grenzschutzpolizisten keine Prüfung dahingehend erfolgt, ob unter den Menschen, die die Grenze überschreiten, auch Schutzbedürftige und Flüchtlinge sind. Einer der bundesdeutschen Beamten sprach davon, dass man bei diesem Einsatz in ein "moralisches Loch" falle. Asyl sei für die griechischen Kollegen ein Fremdwort. Er habe erhebliche Skrupel, Aufgegriffene den griechischen Behörden zu überstellen. Einige der am Frontex-Einsatz beteiligten Polizisten haben selbst Aufgegriffene direkt in die Haftanstalt Filakio eingeliefert und die dort herrschenden menschenwürdigen Zustände gesehen.

Haftbedingungen in Filakio
In der Haftanstalt Filakio sind in einer völlig überfüllten Zelle Familien mit Kindern, unbegleitete Minderjährige (Mädchen wie Jungen) inhaftiert. Eine Familie aus dem Irak, mit der wir kurz durch die Gitterstäbe sprechen konnten, berichtete, dass sie irakische Christen katholischen Glaubens seien. Sie wollten nach Deutschland, konkret nach Frankfurt, da Verwandte im Rahmen eines Aufnahmeprogramms hier Schutz gefunden hätten. Dutzende Kinder und Jugendliche aus Afghanistan verbrachten zum Zeitpunkt unseres Besuches bereits 28 Tage in dieser Zelle. Weil kein Unterbringungsplatz in Griechenland für sie bereit steht, verlängert sich ihr Martyrium. Ähnlich erging es zwei circa vierzehn Jahre alten Mädchen aus Somalia. Weil keine Unterkunft vorhanden ist, müssen sie wochenlang in dieser qualvollen Enge der Zelle in Filakio ausharren. Aufgrund des Personalmangels ist nicht einmal ein Hofgang gewährleistet.
In dem besuchten Trakt war es untersagt, Fotos zu machen. Der Öffentlichkeit bekannt sind Fotos aus Lesbos. Sie gleichen den Zuständen, die wir in Filakio gesehen haben - aber im Gegensatz zu den griechischen Inseln gibt es keine Öffentlichkeit in diesen Elendslagern.

Haftbedingungen in Tychero
Das Haftlager ist eine alte Lagerhalle, die durch Gitterstäbe in ein Gefängnis umgewandelt wurde. Die zwei Haftzellen waren zum Zeitpunkt unseres Besuches völlig überfüllt. Über 140 Menschen waren in den beiden Trakten zusammengepfercht. In dem einen waren Familien, Männer, Frauen und Kinder, darüber hinaus auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergebracht. In dem anderen Zellentrakt nur Männer. Von den drei Toiletten im Männertrakt funktionierte nur eine. Eine Toilettentür war nicht vorhanden. Die Inhaftierten berichteten, dass angesichts der qualvollen Enge Mitgefangene auch in der Toilette sitzen mussten.
Im Frauentrakt klagten die Inhaftierten über die sanitären Verhältnisse und die Tatsache, dass keine Geschlechtertrennung existiert. In diesem Trakt befanden sich zwei Familien aus dem Iran und dem Irak, die bereits knapp drei Monate in Tychero inhaftiert waren.
Die Flüchtlinge berichteten, dass dort nicht einmal jeder ein Bett zum Schlafen habe. Das Essen sei ungenießbar, eine medizinische Versorgung sei nicht sichergestellt.


Es besteht keine Chance auf Zugang zu einem Schutzsystem für Flüchtlinge

Auf Initiative von PRO ASYL sind Frau Tzeferakou (Rechtsanwältin) und Frau Stroux (Dolmetscherin) im Nachgang tätig geworden in Sachen iranischer Flüchtlinge, die im Abschiebelager Ferres inhaftiert sind. Die griechische Polizei gab uns gegenüber an, dass bisher im Jahr 2010 insgesamt nur 34 Asylanträge registriert worden seien. Frau Tzeferakou und Frau Stroux berichten von iranischen Flüchtlingen, die inhaftiert sind und die aus schwerwiegenden politischen Gründen geflohen seien. Konkreter Anlass für die Intervention war, dass ein iranischer Flüchtling von Griechenland in die Türkei abgeschoben worden war, dort jedoch nicht aufgenommen und zurück nach Griechenland geschoben wurde. Der Betroffene befand sich zum Zeitpunkt des Besuches seit 10 Tagen im Hungerstreik, um zu erreichen, dass er freigelassen wird.

Bereits aus dem Bericht der Rechtsanwältinnen Tzeferakou und Strachini wird deutlich, dass griechische Polizisten Asylantragsstellungen verhindern und behindern.

Die beiden iranischen Schutzsuchenden, E.F. und A.E., haben den Iran aus begründeter Furcht vor Verfolgung verlassen. Sie wurden am 2.8.2010 festgenommen. Ein Asylantrag wurde nie registriert. Aus der anwaltlich versicherten Darstellung ergibt sich, dass im wahrsten Sinne des Wortes Dokumente, die ihre politische Tätigkeit belegen, auf den Müll geworfen wurden. Im Fall der Iraner war der griechische Flüchtlingsrat involviert, der schriftlich auf das Asylgesuch der Beiden hinwies. Am 25. August haben Tzeferakou und Strachini die Beiden gesprochen. Die Iraner schilderten, dass sie ein Dokument in griechischer Sprache unterschrieben hatten, ohne es verstehen zu können, das folgenden Inhalt hatte: "Ich wünsche nicht, einen Asylantrag zu stellen. Ich werde in meinem Heimatland nicht verfolgt, sondern bin aus wirtschaftlichen Gründen von dort ausgereist." Der iranische Gefangene A. schilderte, dass seine Daten durch Frontexbeamte erfasst worden seien und er bereits zu diesem Zeitpunkt von sich aus darauf hingewiesen hatte, dass er Schutz benötige.


Obdachlosigkeit nach Haftentlassung

Am 16.11.2010 wurde eine Gruppe von ca. 30 bis 40 Flüchtlingen um 15 Uhr aus dem Haftlager Filakio entlassen. Es gab keinen Bus, der sie zum nächsten Bahnhof gebracht hätte. Ein Schild an der Haftanstalt Filakio informiert über einen völlig überteuerten Fahrpreis von Filakio nach Athen in Höhe von 60 Euro pro Person. Die Haftentlassenen - darunter zahlreiche Kleinkinder - machten sich zu Fuß auf den stundenlangen Marsch nach Orestiada in die nächste Stadt. Die PRO ASYL-Mitarbeiter nahmen eine afghanische Familie mit einem zwei- und einem fünfjährigen Kind im Auto in die Stadt mit. Nach einigen Stunden trafen sie die Familie in der nächsten größeren Stadt Alexandroupolis wieder. Sie suchte einen Schlafplatz im Freien, um am nächsten Morgen weiter nach Athen zu fahren. Wir haben zwei Familien (Frauen mit Kleinkindern und Babies) in einem Hotel untergebracht. Dieser Vorfall soll nur beispielhaft genannt werden. Es gibt kein Aufnahmesystem für Familien mit Kindern.


Bewertung:

"Griechenland braucht Hilfe - Griechenland bekommt Hilfe" - dies formulierte Bundesinnenminister de Maizière vor dem Bundesverfassungsgericht am 28. Oktober 2010.

Tatsache ist, dass die katastrophalen Zustände in der Evros-Region sich im Zuge des Einsatzes bundesdeutscher Grenzpolizisten und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex nicht verbessert haben - im Gegenteil.

Alles was momentan im Evros-Gebiet geschieht, steht zwangsläufig in einer europäischen und bundesdeutschen Verantwortung.

Fehlerhafte und zum Teil willkürliche Identitätsfeststellungen führen zur Gefahr der Abschiebung von Schutzsuchenden in die Türkei. Es besteht die Gefahr der Weiterschiebung ins Herkunftsland.

Eine Entgegennahme von Asylanträgen wird strukturell behindert und verhindert.

Deutsche und europäische Grenzpolizisten werden in ein völlig chaotisches System eingebunden, das zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen führt. Die für den Rabit-Einsatz abgestellten Beamten werden sich selbst überlassen.

Eine wochenlange Inhaftierung unter Bedingungen, wo Menschen sich noch nicht einmal niederlegen können, um zu schlafen, ist menschenunwürdig. Die Haftbedingungen stellen einen klaren Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention dar: "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden".

PRO ASYL fordert, dass sich die Staaten Europas mit der Situation auseinandersetzen und aktiv Hilfe leisten. Es fehlt an Ärzten, Krankenpflegepersonal, an Unterkünften, an ausreichendem Essen, funktionierenden Toiletten, an Betten, - kurzum es fehlt an allem, was eine menschenwürdige Aufnahme ausmacht. Neben der konkreten humanitären Hilfe vor Ort, ist ein solidarisches Handeln der Europäischen Union gefordert. Hierzu bedarf es jetzt gemeinsamer Anstrengungen der EU. Insbesondere für die unbegleiteten 6 Flüchtlingskinder, Familien mit Kindern in Griechenland muss schnell und unbürokratisch eine humanitäre Lösung gefunden werden. Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten sollten diese Flüchtlinge aufnehmen.

Griechenland muss ein Asyl- und Aufnahmesystem aufbauen. Dies wird ohne umfassende Unterstützung durch zusätzliche EU-Fonds und solidarische Maßnahmen der EU-Mitgliedstaaten nicht gelingen.

PRO ASYL setzt sich gemeinsam mit vielen anderen Organisationen und Institutionen in Europa für eine grundlegende Reform der Dublin II-Verordnung ein. Europa braucht eine Verantwortungsteilung bei der Flüchtlingsaufnahme und ein gemeinsames Asylsystem. Ein künftiger europäischer Solidarmechanismus sollte sich an den Bedürfnissen der Schutzbedürftigen orientieren. Humanitäre, familiäre, sprachliche und kulturelle Verbindungen zu einem EU-Aufnahmestaat sollten zwingend beachtet werden.

Frankfurt, den 25. November 2010

Günter Burkhardt
Geschäftsführer

Karl Kopp
Europareferent


*


Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 25. November 2010
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 069 - 23 06 88, Fax: +49 069 - 23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2010