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BERICHT/019: Neue Weltordnung - Gorbatschow-Forum sucht Wege aus dem Chaos (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 9. Dezember 2011

Politik: Neue Weltordnung nach Jahren des Stillstands - Gorbatschow-Forum sucht Wege aus dem Chaos

von Ramesh Jaura


Berlin, Montpellier, 9. Dezember (IPS/IDN*) - "Gefahren erwarten nur jene, die auf das Leben nicht reagieren", hatte Michail Gorbatschow die Betonköpfe der ehemaligen Sowjetunion gewarnt, die die Sehnsucht der Menschen nach Demokratie ignorierten. Etwa 20 Jahre später, als die Welle des Wandels eine Reihe nordafrikanischer Mittelmeerstaaten überrollte, wird es seiner Meinung nach höchste Zeit für eine neue Weltordnung.

Dass sich das russische Wort 'perestroika' (russisch für Umbau) so schnell im internationalen Sprachgebrauch durchsetzen konnte, lasse sich nicht allein durch das Interesse an den einstigen Vorgängen in der damaligen Sowjetunion erklären, schrieb der ehemalige sowjetische Staatspräsident in seinem Buch 'Perestroika: Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt'. Nun gelte es die Welt im Sinne einer progressiven Entwicklung umzugestalten und einen fundamentalen Wandel herbeizuführen.

Mit 80 gehört Gorbatschow, der das Ende des kalten Krieges und den Zusammenbruch der Sowjetunion herbeiführte, zu den herausragenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Auch heute ruht sich der Friedensnobelpreisträger von 1990 nicht auf seinen Lorbeeren aus, die durchaus Dornen für ihn bereithielten.


Welt im Wandel

Politiker, Experten, Journalisten und die Zivilgesellschaft sucht er unermüdlich von der Notwendigkeit einer neuen Weltordnung zu überzeugen. "Eine solche neue Weltordnung muss den Wünschen der Menschen entsprechen, die seit Jahrzehnten passiv und stimmlos waren, nun aber die Arena der Geschichte betreten haben", sagte Gorbatschow auf einer internationalen Konferenz vom 24. bis 25. November zum Thema 'Policymakers' Responsibility in a Changing World. The Mediterranean: The Waves of Change' ('Die Verantwortung der Politik in einer sich verändernden Welt. Das Mittelmeer: Die Wellen des Wandels').

Organisiert hatten die Veranstaltung das von ihm geführte 'New Policy Forum' und die Languedoc-Roussillon-Region im südfranzösischen Montpellier. Sie setzte sich mit dem Phänomen des 'Arabischen Frühlings', mit den Beziehungen zwischen Islam und Demokratie und den strategischen Auswirkungen der weiteren Entwicklungen und Veränderungen in Nordafrika für den mediterranen Raum und Nahost auseinander. Auch wurde die Rolle diskutiert, die die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft spielen können, um den demokratischen Übergang voranzubringen.

Wie Gorbatschow erklärte, habe sich die Welle des Wandels, die Osteuropa mit sich riss, sehr viel Zeit gelassen, bis sie an den Mittelmeerküsten der nordafrikanischen Länder angekommen sei. "Doch kaum hatte sie Tunesien im Dezember 2010 erreicht, gab es kein Zurück mehr."

Wie Gorbatschow in Montpellier betonte, sind seither abertausende Menschen auf die Straßen gegangen, um die Machthaber und Eliten herauszufordern, die längst jede Bodenhaftung verloren hätten. Ihnen sei es darum gegangen, gegen Korruption und Ungerechtigkeit ins Feld zu ziehen und ein Leben in Würde, einen demokratischen Wandel und ein Ende der Rückständigkeit einzufordern, zu dem autoritäre Regime die arabische Welt verurteilt hätten.

Die Gefahren, die den Volksbewegungen in Tunesien, Ägypten und Libyen innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen drohen, wurden ebenfalls auf der Veranstaltung in Montpellier thematisiert. Wie der Vorsitzende des Akademischen Beraterstabs des New Policy Forum, Andrej Gratschow, erklärte, könnten nun eigennützige und undemokratische Kräfte die Menschen um die Früchte ihrer Freiheitskämpfe bringen.

Doch der Funke des Widerstands ist nicht nur auf Nordafrika, sondern auch auf Europa übergesprungen, wie Gorbatschow betonte. Dort habe eine wirtschaftliche und politische Krise die Region von Griechenland über Portugal bis Spanien und Italien erfasst. Ganz Europa, das einst als Oase der Stabilität und als Vorbild gegolten habe, sei nun auf der Suche nach Auswegen aus der schlimmsten Krise in der Geschichte der Europäischen Union.


"Die Dinge fallen auseinander"

Parallel dazu neigt sich die Zeit, in der die USA als Garanten für globale Stabilität und Entwicklung galten, dem Ende zu. Zbigniew Brzezinski, unter dem ehemaligen US-Staatspräsidenten Jimmy Carter nationaler Sicherheitsberater, schrieb bereits im Dezember 2008 kurz vor dem Amtsantritt von US-Präsident Barack Obama in einem Meinungsbeitrag für die 'New York Times': "Zum ersten Mal in der Geschichte ist beinahe die ganze Menschheit politisch aktiv, politisch bewusst und politisch interaktiv. Der Globalaktivismus generiert eine Druckwelle, was das Streben nach kultureller Achtung und wirtschaftlichen Möglichkeiten in einer Welt angeht, die von den Erinnerungen an die koloniale oder imperiale Dominanz verunstaltet wurde. Das führt zu einem weiteren fundamentalen Wandel: Die 500-jährige weltweite Dominanz der Atlantikmächte geht zu Ende."

Heute scheint die Prognose noch zutreffender zu sein als noch vor drei Jahren. Doch eine geschwächte Supermacht bedeutet noch lange nicht Multipolarität. Ebenso wenig ist der Geist des Militarismus und der bewaffneten Konflikte verflogen. Vielmehr ähnelt die derzeitige Situation, wie sie der irische Lyriker William Butler Yeats 1919 in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg formulierte: "Die Dinge fallen auseinander; die Mitte kann nicht halten ..."

Dem italienischen Aktivisten Flavio Lotti zufolge hat nicht zuletzt die wachsende Bedeutung der Nichtregierungsorganisationen den Glaubwürdigkeitsverlust der staatlichen Institutionen beschleunigt.

"Einen großen Teil der Schuld für die schwierige und undankbare Situation, in die sich Europa und USA manövriert haben, ist die Abkehr der Regierungen vom Primat der Politik", meinte Roberto Savio, Gründer und Ehrenvorsitzender der Nachrichtenagentur Inter Press Service (IPS) und Herausgeber von 'Other-News.info'.


Politiker handlungsfähig machen

"Wir brauchen dringend ein Paradigma, um die zahlreichen und schwierigen globalen Probleme zu analysieren, die uns alle angehen, die sich aber in den verschiedenen Weltregionen unterschiedlich darstellen. Wir müssen die politischen Führungskräfte wieder zum Handeln befähigen", sagte Savio.

Gorbatschow zufolge befindet sich die Welt im Übergang. "Können wir sagen, dass der Übergang ein gemeinsames Ziel anpeilt? Ich würde sagen, ja. Doch gibt es keinen direkten Weg zum gemeinsamen Ziel. Er hängt von den besonderen Umständen, der Geschichte, Kultur und Evolution der verschiedenen Staaten und Regionen ab."

Der ehemalige sowjetische Präsident zeigte sich zuversichtlich, dass sich die Menschheit vom Autoritarismus verabschieden wird. "Ich bin der Meinung, dass wir Richtung Demokratie streben, aber keiner, die für alle gleich sein wird. Die Demokratie der arabischen Muslime wird eigene Spielarten entwickeln, solange ihnen andere nicht 'die einzig richtige Lösung' aufzwingen." (Ende/IPS/kb/2011)

* Der von 'Global Cooperation Council' und 'Globalom Media' erstellte Informations- und Analysendienst IDN-InDepthNews ist Partner von IPS-Deutschland.


Links:
http://www.newpolicyforum.ru/
http://www.indepthnews.info/index.php/global-issues/595-gorbachev-forum-looks-beyond-messy-today

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IPS-Tagesdienst vom 9. Dezember 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2011