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DEMOGRAPHIE/324: "Wir wissen viel zu wenig über Migration" (idw)


Max-Planck-Institut für demografische Forschung - 20.05.2016

"Wir wissen viel zu wenig über Migration"


In einem Fachartikel, der heute in der Fachzeitschrift Science erscheint, fordern führende Migrationsforscher eine bessere Datenerhebung zu Migrationsströmen. Die Wissenschaftler benötigen diese Daten für ihre Forschung; aber auch für die Politik sind sie von großer Bedeutung.


Rostock. In der heutigen Ausgabe der Fachzeitschrift "Science" fasst MPIDR-Forscher Frans Willekens gemeinsam mit drei weiteren Migrationsexperten den aktuellen Stand des Wissens um die weltweiten Migrationsströme zusammen. Die Wissenschaftler liefern ein eher ernüchterndes Bild des Standes der Migrationsforschung. Zum einen zeigen sie auf, dass der aktuellen Wissensstand in Sachen Migration sehr begrenzt ist. Und zwar so begrenzt, dass wir ihn nicht heranziehen können, um Entscheidungen für den Umgang mit den aktuellen Migrationsströmen fällen zu können. Zum anderen macht die Zusammenfassung sichtbar, dass dieses fehlende Wissen dazu geführt hat, dass ein falsches Bild von dem Ausmaß der aktuellen Migrationen entstanden ist.

Die Wissenschaft zeigt ein differenziertes Bild auf: So lebten 2015 nur 3,3 Prozent der Weltbevölkerung, also rund 240 Millionen Menschen, in einem anderen Land als ihrem Geburtsland. Die weltweiten Migrationsbewegungen sind in den vergangenen Jahrzehnten also eher moderat gewesen. "Europa hat natürlich in den vergangenen zwei Jahren einen starken Zustrom von Flüchtlingen erfahren. Gemessen an der Weltbevölkerung ist die Zahl der Menschen, die nach Europa kommen, immer noch gering", sagt Willekens. Dieser Zustrom zeige aber, was Globalisierung bedeute und dass Deutschland und Europa dringend eine Haltung angesichts dieser zunehmend vernetzten Welt finden müssen, so der Wissenschaftler.

Die Forscher stellen zudem fest, dass von den Behörden diejenigen, die das Land wieder verlassen, zahlenmäßig kaum erfasst werden. "Diese unvollständigen Informationen führen dazu, dass sowohl die Zahl der Flüchtlinge, als auch die Zahl der hier lebenden Einwanderer im Allgemeinen überschätzt werden", fasst Migrationsexperte Willekens zusammen.

Migration verändere sowohl die Ziel- als auch die Herkunftsländern, so die Wissenschaftler. In den Zielländern nehme die sozio-kulturelle Vielfalt zu. Auf diese neue Vielfalt müsse eine politische Antwort gefunden werden, die über reine Integrationsmaßnahmen hinausgeht. Und die Herkunftsländer müssten sich gerade auch mit den Folgen des Weggangs vieler gebildeter Menschen beschäftigen.

"Insgesamt wissen wir aber viel zu wenig über Migration, um verlässliche Aussagen treffen zu können. Das größte Manko sind die Daten", sagt Willekens. In ihrem Artikel richten er und seine Kollegen Douglas Massey (Office of Population Research, Princeton University, Princeton, USA), James Raymer (School of Demography, Australia National University, Canberra, Australia) und Cris Beauchemin (Institut National d'Études Démographiques, Paris, France) deshalb einen Appell sowohl an die Forschergemeinschaft als auch an die Politik. Sie nennen vier zentrale Punkte, die ihrer Meinung nach umgesetzt werden müssen:

1. Die Statistikämter weltweit müssen besser miteinander kooperieren. Die Daten müssen entsprechend der Empfehlungen der Vereinten Nationen vergleichbar und einfach zugänglich sein.

2. Für Europa wurden passende wissenschaftliche Methoden bereits entwickelt, mit denen man die Migrationsströme untersuchen kann. Diese Methode könnte man auch zur Analyse weltweiter Migrationsströme nutzen - vorausgesetzt, die Daten wären vorhanden.

3. Die Experten empfehlen außerdem, eine regelmäßige weltweite Erhebung zur Migration einzuführen (World Migration Survey), in der Daten in den Herkunftsländern, den Ankunftsländern und den Transitländern erhoben werden. Vergleichbar große Programme hat es bereits in der Vergangenheit gegeben, wie zum Beispiel das World Fertility Survey. Darin wurden Daten zur Fertilität in der ganzen Welt gesammelt. Es wurde in den Siebzigerjahren angesichts der explodierenden Weltbevölkerung eingeführt. Das Programm hat maßgeblich zu dem umfangreichen Wissen beigetragen, mithilfe dessen heute bevölkerungspolitische Maßnahmen geplant werden können.

4. Migration und Diversität müssen in der universitären Lehre mehr Platz bekommen. Ziel ist es, Menschen auszubilden, die in der Lage sind die Datensammlung zu begleiten und aus den Ergebnissen politische Handlungsempfehlungen abzuleiten.


Über das MPIDR
Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen: von politikrelevanten Themen des demografischen Wandels wie Alterung, Geburtenverhalten oder der Verteilung der Arbeitszeit über den Lebenslauf bis hin zu evolutionsbiologischen und medizinischen Aspekten der Alterung. Das MPIDR ist eine der größten demografischen Forschungseinrichtungen in Europa und zählt zu den internationalen Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört zur Max-Planck-Gesellschaft, einer der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaften.
www.demogr.mpg.de


Original-Veröffentlichung:
Frans Willekens, Douglas Massey, James Raymer, Cris Beauchemin, "International migration under the microscope", Science May, 20th, 2016. Vol. 352, Issue 6288, pp. 897-899.

Hinweis:
In der engl. Version der Pressemitteilung unter können Sie den Original-Artikel aus der Fachzeitschrift Science runterladen.
http://www.demogr.mpg.de/go/migration-data

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution763

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Silvia Leek, 20.05.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2016

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