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DISKURS/095: Globale und europäische Demokratie (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011

Globale und europäische Demokratie

Von Christoph Zöpel


Das Urteil darüber, ob in einem Teil der Welt Herrschaft bzw. politisches, also kollektiv verbindliches Entscheiden demokratisch ausgeübt wird, ist weitgehend bestimmt durch das jeweilige Verständnis von Demokratie. Unser Autor stellt zwei der bekanntesten Reports gegenüber und analysiert anhand ihrer Kategorien einzelne Weltregionen wie die USA und die EU.


Rainer-Olaf Schultze hat im Lexikon der Politikwissenschaft drei unaufhebbar zusammengehörende Kernelemente moderner Demokratie definiert: Schutz, Partizipation und Inklusion. 1.) Demokratie alls Schutz mittels liberalen Rechts- und Verfassungsstaats, Gewaltenteilung und Parlamentarisierung der politischen Herrschaft, 2.) Demokratie als Partizipation mittels der Fundamentaldemokratisierung, der politischen Integration der Arbeiterbewegung und der Parteiendemokratie, 3.) Demokratie als Inklusion mittels sozialer Grundrechte und Wohlfahrtstaat.

Wie die meisten Beurteilungen weltweiter Verbreitung von Demokratie bezieht sich auch Schultze auf demokratische Herrschaft in Staaten. Diese grenzen Teile der Welt territorial ein und werden souverän, indem sie völkerrechtlich anerkannt werden - ob sie demokratisch sind oder nicht. Auf sie beziehen sich indikatorengestützte Berichte und Ranglisten weltweiter Demokratie, am bekanntesten die von Freedom House, einer von der US-Regierung finanzierten Forschungseinrichtung, und der wirtschaftsliberalen Zeitschrift The Economist. Beide resümieren für 2010 den Rückgang von Demokratie bezogen auf 194 (Freedom House) bzw. 167 (The Economist) untersuchte Staaten. Beiden liegt allerdings ein Verständnis von Demokratie zugrunde, das dem Schultzes nicht entspricht. Freedom House untersucht die Gewährleistung von "Political Rights" und "Civil Liberties", The Economist fünf demokratierelevante Kategorien: Wahlprozess und Pluralismus, Funktionsfähigkeit der Regierung, Politische Partizipation, Politische Kultur, Bürgerrechte.

Erkennbar ist beider Verständnis von Demokratie gegenüber dem Schultzes reduziert; Freedom House erfüllt das Kernelement des "Schutzes", das der "Partizipation" zum Teil; "Inklusion" kommt nicht vor. The Economist berührt "Inklusion" und die umfassende "Partizipation" ansatzweise. Allerdings problematisiert sein Bericht von 2010 das Demokratieverständnis. Er fragt nach dem Verhältnis von Demokratie und Entwicklung, gemessen am Bruttosozialprodukt pro Kopf und kommt zu der Antwort, dass dies nur für jeden dritten Fall der festgestellten Veränderungen gleichgerichtet korreliert. Hingegen stellt er fest, dass die Finanzkrise 2008/9 einen negativen Einfluss auf demokratische Verhältnisse in zahlreichen Staaten hat. Mit globalpolitischer Relevanz weist der Bericht dann darauf hin, dass in der Regierung der USA, auf deren Liste außenpolitischer Prioritäten Demokratieförderung einen hohen Rang einnähme, kein Konsens darüber bestehe, was Demokratie konstituiert. Der US-amerikanische Politologe Irving Horowitz wird dazu so zitiert: "The world's only superpower is rhetorically and militarily promoting a political System that remains undifined - and is staking its credibility and treasure on that pursuit."

Damit wird die Problematik globaler Demokratie erkennbar. Offenkundig besteht demokratische Herrschaft in 194 Staaten nicht unabhängig von einander und Demokratie ist keine Herrschaftsform, die es nur auf der Ebene von Staaten gibt. Unterhalb der staatlichen Ebene gibt es die kommunale und in größeren Staaten eine regionale, oberhalb die weltregionale - zumindest für die EU ist das nicht zu bestreiten - und die globale. Globalpolitisch ist das Demokratie-Kernelement "Schutz" normiert - durch die Menschenrechte. Deren prägnanteste Kernformulierungen sind die vier Freiheiten Franklin D. Roosevelts - Freiheit der Meinung und der Religion und Freiheit vor Furcht und Not. Die Menschenrechte zu garantieren ist nicht nur ein Anspruch aller Menschen, es ist eine Verpflichtung für alle Regierungen, im Konzept Menschlicher Sicherheit hat die UNO entsprechendes dargestellt. Offenkundig sind dazu nicht alle Staaten gleich einflussreich, die "einzige Supermacht" ist am einflussreichsten. Und so stellt sich die Frage, wie sie dazu beiträgt, alle vier Freiheiten und damit auch vollständig "Partizipation" und "Inklusion" weltweit durchzusetzen. Der Economist hat diese Zusammenhänge erkannt. Sie gelten auch für China, wo die Verweigerung demokratischen "Schutzes" bei über 1,3 Milliarden Menschen ungleich mehr wiegt als seine Garantie in Luxemburg. Globale Demokratie hängt entscheidend von der Politik der besser entwickelten und dabei demokratischen Staaten ab. Gegenwärtig können nur Regierungen dazu finanziell und diplomatisch beitragen, durch Entwicklungszusammenarbeit und Kriegsvermeidung. Zweifelsfrei fehlt der Politik auf globaler Ebene eine demokratische, parlamentarisch repräsentierte Legitimierung - für die Economist- und Freedom House-Berichte ist sie in Staaten ein Prüfstein. Wenn Diplomaten die Generalversammlung der UN als Parlament bezeichnen, zeigen sie ein Problem globaler Demokratiedefizienz auf. Konkret könnte die Interparlamentarische Union, die repräsentative Vertretung der Parlamente der meisten Staaten, mit diesem Ziel gestärkt werden. Das Zusammenwirken demokratisch unterschiedlich legitimierter Parlamentarier kann einen demokratischen Lerneffekt haben. Auf der globalen Ebene ist die demokratische Legitimierung ein Defizit, völkerrechtlich zurückzuführen auf die mehr und mehr irreale Souveränität aller Staaten. Das Engagement der globalen Zivilgesellschaft tritt notwendig an ihre Stelle, neue Governance-Strukturen finden hier Platz.


Legitimationsprobleme der EU

Auf der weltregionalen Ebene der EU ist die parlamentarische Legitimierung hingegen vertraglich konstituiert. Die problematische Frage ist, ob sie so wirken kann, dass sie Demokratie in den Mitglieds- und potenziellen Beitrittsstaaten stärkt. Mit Bezug zur Kategorie Funktionsfähigkeit der Regierung prüft der Economist, ob die frei gewählten Repräsentanten die Regierungspolitik bestimmen und ob die Legislative das oberste politische Organ ist mit klarem Vorrang vor den anderen Organen des politischen Systems. Wohl kaum jemand würde diese Fragen mit Bezug zur EU mit Ja beantworten. Dieses Defizit beeinträchtigt die Akzeptanz demokratisch legitimierter Politik in ihren Mitgliedsstaaten. Sie haben viele Kompetenzen an die EU abgetreten, ihre Problemlösungszuständigkeit ist also begrenzt, aber dort wo sie liegt, bei der EU, ist Demokratie defizitär. Das beginnt in westlichen Mitgliedsstaaten zu wirken: Der Economist-Bericht zählt Frankreich nicht mehr zu den 26 "Voll-Demokratien". Das ist deutlicher in den postkommunistischen Staaten. Und das hat eine besondere Bedeutung für die potenziellen Beitrittsstaaten in Südosteuropa. Jährlich wird ihr demokratischer Fortschritt von der EU transparent geprüft. Ist die berichtende Kommission selbst demokratisch legitimiert? Noch kritischer wird es, wenn sich Diplomaten der EU - und vor allem auch der USA; deren Botschafter im Kosovo hat im April 2011 eine beim FBI ausgebildete Polizistin als Präsidentin durchgesetzt - in die Behebung demokratischer Missstände öffentlich einschalten. Welche Handlungsmöglichkeiten bleiben Wahlvolk, Parteien und Gewählten? Im UN/EU-Protektorat Bosnien-Herzegowina dürfen gewählte Repräsentanten reden, die kollektiv letztlich verbindlichen Entscheidungen treffen fremde Botschafter. Reden wird so politisch verantwortungslos. The Economist fragt intensiv nach dem Zustand der Parteien, ein plurales Parteiensystem als unverzichtbare Struktur demokratischer Herrschaft ist sichtlich unverzichtbar. Das führt zur Verantwortung der Parteien in der EU und ihrer Mitgliedsstaaten für demokratische Stabilisierung, untrennbar miteinander verbunden auf der EU- wie auf der mitglieds- und beitrittsstaatlichen Ebene. Deren Parteien sind inzwischen in europäische Parteienfamilien, vor allem SPE und EVP, einbezogen. Bislang haben diese sich aber nicht auf europäische Grundregeln des Verhaltens und der Finanzierung von Parteien verständigt. Vorwürfe der Korruption und des Wahlbetrugs bestimmen die parteipolitischen Auseinandersetzungen in den ehemals kommunistischen Staaten. EVP und SPE waren bislang nicht zur Überwindung dieses Konkurrenzstils in der Lage, die Unterstützung der Familienmitglieder überwog. Besonders deutlich ist das in Albanien geworden. Die Korruptionsproblematik führt zum größten Mangel der EU-Beitrittsverträge, ihnen fehlt das Demokratie-Kernelement der "Inklusion". Sozialpolitik ist EU-vertraglich Aufgabe der Mitgliedsstaaten. Aber den Staaten in Südosteuropa fehlen sozialökonomische Voraussetzungen einer Wohlfahrtsstaatlichkeit, die der in Nordwesteuropa vergleichbar ist. Für viele Menschen dort sind informelle gesellschaftliche Verhältnisse ohne an die Erwerbsarbeit gebundene soziale Sicherheit Realität. An deren Stelle treten fast notwendigerweise traditionelle Beziehungen, die zum Teil auch als korruptives Verhalten verstanden werden können. Es wird immer erkennbarer, dass in einem Zwei-Ebenen-System mit zunehmenden Kompetenzen auf der EU-Ebene armen Mitgliedsstaaten "Inklusion" nicht überlassen bleiben kann. Die sozialstaatliche und damit demokratische Ungleichheit wird verstärkt durch die Politik der wirtschaftsstärkeren Mitgliedsstaaten nach der Finanzkrise. Sie ist vom Bankensektor dieser Staaten und der USA zu verantworten. Die zwischen allen EU-Staaten verabredete Politik des fiskalischen Gegensteuerns hat zu hohen Budgetdefiziten in den wirtschaftsschwächeren Mitgliedsstaaten geführt. Nur eine gemeinsame Exit-Strategie aus der Antikrisenpolitik kann Europa sozialökonomisch und damit demokratisch stabilisieren.

Das Ranking des Economist zeigt dazu eine bemerkenswerte Tatsache, die deutlich wird, wenn der Demokratieindex mit der staatlichen Abgabenquote korreliert wird. Spitzenreiter sind die nordeuropäischen Staaten mit den höchsten Quoten. "Full Democracy" ist ohne Wohlfahrtsstaatlichkeit nur schwer zu haben.


Christoph Zöpel (* 1943) Staatsminister a.D., war u.a. von 1978 bis 1990 Minister in NRW und von 2003 bis 2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Zuletzt erschienen: Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft.
(christoph.zoepel@t-online.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011, S. 45-47
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2011