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DEMOSKOPIE/360: Ansehen des Westens in Afghanistan auf Tiefpunkt (WDR)


Westdeutscher Rundfunk Köln (WDR) - Pressemitteilung vom 6. Dezember 2010

WDR veröffentlicht neue Afghanistan-Umfrage:
Ansehen des Westens in Afghanistan auf Tiefpunkt.
Wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert. Internationale Hilfe kommt nicht an.

Rekordzustimmung zu Anschlägen auf NATO-Truppen


Neun Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes hat das Ansehen des Westens in der afghanischen Bevölkerung ein Allzeittief erreicht. In der sechsten repräsentativen Umfrage von WDR/ARD, ABC, BBC und "Washington Post" bewertet nicht einmal mehr jeder dritte Afghane das Engagement von USA und NATO positiv, während zwei Drittel der Bevölkerung den Verbündeten ein negatives Zeugnis ausstellen. Besonders dramatisch ist der Sympathieverlust der Deutschen im Nordosten des Landes, dem Einsatzgebiet der Bundeswehr.

"Bei der letzten Umfrage vor knapp einem Jahr hatten wir erstmals seit langem wieder eine vorsichtige Aufbruchsstimmung unter den Afghanen feststellen können. Doch die Hoffnungen auf eine Wende zum Besseren wurden in weiten Teilen des Landes drastisch enttäuscht", fasst Arnd Henze, der als stellvertretender Auslandschef des WDR die Umfrage betreut hat, die Kernbotschaft zusammen.


Keine Jobs, kein Geld für Lebensmittel und Heizöl

Sorgen macht den Afghanen vor allem die anhaltende Gewalt im Lande sowie die wirtschaftliche Lage, die sich im vergangenen Jahr in vielen Bereichen dramatisch verschlechtert hat. Das betrifft vor allem den Mangel an Jobs und fehlende Möglichkeiten, sich eine eigene wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Nur noch jeder Dritte (- 7 auf 33 %) beschreibt seine eigene Situation in diesem Bereich als mehr oder weniger gut, während 66 % (+ 10 %) der Menschen ihre Lage düster sehen. Auch für die kommenden Monate rechnen nur 22 Prozent der Befragten damit, dass sich ihr wirtschaftliches Auskommen verbessern wird.

Diese negative Entwicklung lässt sich vor allem im wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes beobachten: der Landwirtschaft. Immer weniger Menschen können sich Saatgut, Dünger und Geräte leisten, um ihre Felder zu bestellen. Nur noch 34 % (- 11 %) sehen ihre Möglichkeiten in der Landwirtschaft positiv.

Ohne einen Job kann sich die große Mehrzahl der Afghanen selbst die notwendigsten Dinge zum Leben nicht leisten. Zwar gibt es in vielen Orten fast alles auf den Märkten zu kaufen, aber nur 44 % (- 5 %) können die teuren Preise für Lebensmittel auch bezahlen. Gleiches gilt für Öl, das vor allem im bitterkalten Winter zum Heizen und zum Betreiben von Generatoren unverzichtbar ist. Deutlich verschlechtert haben sich auch der Zugang zu sauberem Wasser (- 5 % auf 59 %), die Rechtslage der Frauen (- 11 % auf 52 %) sowie die Bewegungsfreiheit im Lande (- 8 % auf 58 %). "Die Menschen bewerten ihre Situation anhand von sehr konkreten Veränderungen", meint Arnd Henze. " Als sich vor einem Jahr die Stromversorgung in einigen Teilen des Landes spürbar verbesserte, hofften die Menschen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung. Aber es kam nichts nach - im Gegenteil: der Wiederaufbau des Landes stagniert trotz aller Versprechen des Westens".


Internationale Hilfe versickert im Sumpf der Korruption

Entsprechend kritisch fällt das Urteil über die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen aus, deren Tätigkeit nur noch von 43 % (- 7 %) der Befragten insgesamt positiv gesehen wird. Gerade einmal die Hälfte der Afghanen meint, ausländische Unterstützung werde "überwiegend sinnvoll" eingesetzt, 67 % der Menschen sind überzeugt, dass ein erheblicher Teil der Gelder in dunklen Kanälen lande und die Bevölkerung nie erreiche. Damit wird internationale Hilfe vor allem mit der allgegenwärtigen Korruption in Afghanistan verbunden, die von rund 90 % der Menschen als erhebliches Problem wahrgenommen wird.


Keine Schulen für ein Drittel der Mädchen

Erstmal beschäftigt sich die Umfrage genauer mit den Bildungsmöglichkeiten für Jungen und Mädchen. Insgesamt bekommen die örtlichen Schulen seit Jahren von rund 70 Prozent der Befragten gute Noten. Während die Versorgung mit Jungenschulen allerdings nahezu flächendeckend ist (87 %), gibt es für ein Drittel der Mädchen keinerlei schulische Angebote. Und jede zehnte Mädchenschule musste in den letzten Jahren dicht machen, fast alle wegen Angriffen und Einschüchterungen durch die Taliban.


Taliban militärisch nicht zu besiegen

Insgesamt werden die Taliban und andere aufständische Gruppen weiter als größte Bedrohung im Lande wahrgenommen. Nahezu gleich viel Befragte sehen die Aufständischen im letzten Jahr gestärkt, geschwächt oder gleich stark. Dabei fällt die Einschätzung regional sehr unterschiedlich aus. "Es ist offensichtlich, dass die Taliban immer nur punktuell geschwächt oder verdrängt werden können.", meint Arnd Henze. "Aufs Ganze gesehen bleiben sie ein mächtiger Faktor im Lande."

Nach neun Jahren Krieg setzen nahezu drei viertel der Afghanen nicht mehr auf einen militärischen Sieg, sondern auf eine Verhandlungslösung, die auch eine Regierungsbeteiligung der Taliban einschließen würde. (+ 8 auf 73 %). Deutliche Ablehnung (61 %) gäbe es aber für ein Verhandlungsergebnis, das ganze Provinzen unter die Kontrolle der Taliban stellen würde.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass eine große Mehrzahl der Afghanen einen schnellen Abzug der ausländischen Truppen unterstützt. 27 Prozent befürworten den von Präsident Obama angekündigten Beginn des Rückzugs im Sommer 2011, noch einmal fast genauso viele wollen sogar einen noch schnelleren Abzug. Nur 17 Prozent wollen die Truppen länger im Lande halten und ein weiteres Viertel will die Entscheidung von der weiteren Entwicklung im Lande abhängig machen.


Deutschland wird immer unbeliebter

Aus deutscher Sicht ist der Nordosten des Landes von besonderer Bedeutung, wo die Bundeswehr vor allem in der Provinz Kundus in den letzten Monaten an zahlreichen Offensiven gegen die Taliban beteiligt war. Im Ergebnis glauben immerhin 43 Prozent der Menschen in dieser Region an eine Schwächung der Taliban. Und wie im gesamten Land erkennen die Menschen auch im Nordosten, dass es bei der Ausbildung des afghanischen Militärs Fortschritte gebe.

Doch die verstärkte militärische Präsenz der Bundeswehr hat ihren hohen Preis. Deutschland hat sein traditionell gutes Ansehen und seinen Vertrauensvorschuss in Afghanistan eingebüßt. Hatten im Nordosten im Sommer 2007 noch 75 Prozent der Afghanen ein positives Bild von Deutschland, so ist es heute mit 46 Prozent erstmals nur noch eine Minderheit. Vier von zehn Befragten im Nordosten sind der Ansicht, die NATO nehme immer weniger Rücksicht auf zivile Opfer und vernachlässige den zivilen Aufbau - deutlich weniger (32 bzw. 30 %) sehen in diesen wesentlichen Bereichen Verbesserungen. Ebenfalls nur eine Minderheit von gerade noch 31 Prozent (- 15 % ) meint, dass die von Deutschland geführten NATO-Einheiten noch über einen Rückhalt in der Bevölkerung verfügen. Umgekehrt hat die Zahl derer, die Anschläge auf NATO-Einheiten befürworten, im Nordosten mit 39 Prozent ein Allzeithoch erreicht und liegt damit deutlich über dem ebenfalls gestiegenen landesweiten Wert (+ 19 auf 27 Prozent). "Deutschland wird kaum noch als Verbündeter der Bevölkerung, sondern fast nur noch als ausländische Kriegspartei wahrgenommen", meint Arnd Henze. "Punktuelle Erfolge im Kampf gegen die Taliban und beim Aufbau der afghanischen Armee werden pragmatisch registriert, aber die Köpfe und Herzen der Menschen erreicht das deutsche Engagement nicht mehr."

Diese negative Sicht verbindet sich mit einer extrem schlechten Beurteilung der Lebensbedingungen im Nordosten. Fast drei von vier Befragten (+ 21 auf 72 %), deutlich mehr als im Landesdurchschnitt, beschreiben ihre beruflichen Möglichkeiten negativ. Die Menschen in der von Landwirtschaft geprägten Region beklagen vor allem die unbezahlbaren Grundnahrungsmitteln (+ 5 auf 61 %) und viel zu teures Saatgut und Dünger (+ 16 auf 65 %).

Im Gesamturteil sprechen erstmals mehr Afghanen dem Engagement der Deutschen eine negative (+ 9 auf 28 %) als eine positive Rolle (- 7 auf 25 %) im Lande zu. Im Nordosten sieht es noch schlechter aus: Innerhalb der letzten beiden Jahre hat sich die Zahl der Bewohner mit einem positiven Urteil von 45 Prozent auf 21 Prozent mehr als halbiert und die Zahl der Kritiker von 8 auf 27 Prozent mehr als verdreifacht. Knapp die Hälfte der Befragten sieht Deutschlands Rolle neutral.

Mit diesem Trend steht Deutschland allerdings nicht allein. Auch mit Blick auf die USA sehen erstmals mehr Afghanen eine negative (+ 12 auf 43 %) als eine positive Rolle (- 9 auf 36 %) im Lande. Dabei polarisieren die USA sehr viel stärker als Deutschland, so dass nur 20 Prozent die USA mit "neutral" beurteilen.


Ausnahme Helmand: nur hier greift neue US-Strategie

Der von US-Präsident Obama vor einem Jahr angekündigte Strategiewechsel und die damit verbundene Truppenverstärkung werden zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, die Auswirkungen sind aber nur in einem einzigen Gebiet deutlich messbar. Gegen den Trend ist die Gesamtzufriedenheit der Menschen in der einstigen Unruheprovinz Helmand im vergangenen Jahr von 44 auf 71 Prozent gestiegen. Vor allem die wirtschaftlichen Möglichkeiten werden von 59 (+ 44 %), die Bewegungsfreiheit von 61 (+ 35 %) und der Schutz vor den Taliban von 58 Prozent (+ 45 %) deutlich positiver bewertet. "Die USA haben ihre ganze militärische Kraft und einen großen Teil der Aufbauhilfe auf diese eine Provinz konzentriert.", erläutert Arnd Henze. "Aber schon für die Nachbarprovinz Kandahar reichen die Kräfte offensichtlich kaum noch aus, um die Taliban auch dort zu verdrängen und die Lebenssituation zu verbessern. Und es gibt weder den politischen Willen noch die Mittel, den gigantische Aufwand in Helmand zum Modell für das ganze Land zu machen. Das wissen auch die Taliban und verlagern ihre Kräfte in bisher eher stabile Provinzen".

Honoriert wird das Engagement der USA aber selbst in Helmand nicht. Im Gegenteil: Trotz der spürbaren Verbesserungen billigen nur 19 Prozent (- 17 %) der Menschen in dieser Provinz den USA eine positive Rolle im Lande zu, deutlich mehr (+ 10 auf 44 %) sehen das Gesamtbild der USA negativ. Für die Erfolge werden dagegen eher die afghanische Kräfte verantwortlich gemacht. Dramatisch bessere Werte gibt es in der Provinz Helmand für Präsident Karsai (+ 22 auf 62 %), seine Regierung (+ 33 auf 58 %), die Armee (+ 15 auf 67 %) und die lokale Polizei (+ 49 auf 65 Prozent). Auch landesweit bekommen afghanische Institutionen deutlich bessere Noten: eine deutliche Mehrheit bescheinigt Präsident Karsai (- 9 auf 62 %), Armee (- 4 auf 66 %) und Polizei (+ 3 auf 65 %) eine gute Leistung. Immerhin 59 Prozent sind nach wie vor der Ansicht, das Land bewege sich in die richtige Richtung - 11 Prozent weniger als vor knapp einem Jahr.

"Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Umfrage, dass die Afghanen auch kleinere positive Entwicklungen den eigenen Akteuren zurechnen, während sie für alle Fehlentwicklungen die ausländischen Kräfte haftbar machen," fasst Arnd Henze die Umfrage zusammen. "Offensichtlich werden die eigenen Institutionen an deutlich niedrigeren Erwartungen gemessen als die die internationalen Truppen und Organisationen, die zu viel versprochen und zu wenig eingelöst haben."


Umfragen werden schwieriger

Insgesamt bietet die sechste repräsentative Umfrage wenig Lichtblicke. Die Zahlen werden auch durch die Erfahrungen bei der Erhebung der Studie gestützt. Zwar konnten die mehr als 200 afghanischen Befragerinnen und Befrager ihre Interviews in allen 34 Provinzen durchführen. In diesem Jahr konnten allerdings deutlich mehr Orte als in früheren Jahren aus Sicherheits- oder Witterungsgründen nicht erreicht werden, so dass zwar 90 % der Männer, aber nur 79 % der Frauen befragt werden konnten. "Eine Umfrage auf der Basis von 85 Prozent der Bevölkerung gibt immer noch eine sehr starke Datengrundlage", erläutert Arnd Henze. "Wir haben in einer Modellrechnung ermittelt, dass sich die fehlenden Gebiete nur unwesentlich auf den Gesamttrend auswirken würden. Wir wollen nicht spekulieren, wie sich die Stimmung in den unerreichbaren Orten auf die landesweiten Werte auswirken würde. Da es sich aber überwiegend um besonders arme und umkämpfte Gebiete handelt, dürften die fehlenden Werte den skeptischen Trend der Befragung eher noch verstärken."

WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn verweist vor allem auf die Nachhaltigkeit des Engagements. "Seit dem Sturz der Taliban wurden Milliarden in den Wiederaufbau des Landes investiert. Hunderttausende ausländischer Soldaten haben am Hindukush gekämpft. Wir haben die Aufgabe, genau zu verstehen, warum so viel Engagement so wenig Erfolg gebracht hat. Jede Umfrage ist eine Momentaufnahme. Aber über die Jahre lässt sich verfolgen, wie sich Stimmungen verfestigen, Hoffnungen geweckt und enttäuscht wurden und große politische Strategien im Alltag der Menschen ankommen. Mit diesem genauen Blick leisten wir mit unseren internationalen Partnern einen wichtigen Beitrag zur transatlantischen Debatte über die Zukunft Afghanistans."

Die sechste Umfrage von ARD, ABC, BBC und "Washington Post" basiert auf der Befragung von 1691 repräsentativ ausgewählten Afghaninnen und Afghanen in allen 34 Provinzen. Die Ergebnisse werden am Montag, 6.12. um 12 Uhr zeitgleich in Köln, London, Washington und New York veröffentlicht. Durchgeführt wurde die Studie mit rund 150 Fragen im November 2010 in persönlichen Interviews von 98 weiblichen und 111 männlichen Interviewern des "Afghan Center for Socio-Economic and Opinion Research" (ACSOR). Die Befragung erfolgte in der jeweiligen Stammessprache - wobei Frauen nur von Frauen interviewt wurden. Die Umfrage hat eine statistische Unschärfe von 3,5 Prozent. Frühere gemeinsame Umfragen wurden bereits vier Mal für den Emmy Award nominiert und erhielten zwei Mal die bedeutende Fernseh-Auszeichnung. In diesem Jahr wurden die bisherigen Umfragen auch mit dem "Policy Impact Award" der Amerikanischen Demoskopie-Vereinigung geehrt.


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Quelle:
Presseinformation vom 6. Dezember 2010
Herausgeber:
Westdeutscher Rundfunk Köln (Anstalt des öffentlichen Rechts),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2010