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FRAGEN/005: Professor Robert Jacobs - "Wir erleben einen in Zeitlupe verlaufenden Atomkrieg" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. Dezember 2013

Rüstung: "Wir erleben einen in Zeitlupe verlaufenden Atomkrieg" - Professor Robert Jacobs im Interview

von Julio Godoy


Bild: © Academia.edu

Robert Jacobs
Bild: © Academia.edu

Berlin, 3. Dezember (IPS/IDN*) - Robert Jacobs wurde vor 53 Jahren geboren - auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und inmitten der damaligen Angst vor der atomaren Vernichtung. Im Alter von acht Jahren wurde ihm die Gefahr, die von Atomwaffen ausgeht, erstmals bewusst. Das Thema hat ihn nie wieder losgelassen.

Wie er im Interview berichtet, bläuten Anfang der 1960er Jahre die Lehrer ihren Schülern ein, sich möglichst sofort nach der Entdeckung eines Atomblitzes in Sicherheit zu bringen. "Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nach der Schule auf den Stufen unserer Veranda in Chicago saß und eine Stunde lang angestrengt in den Himmel blickte, um die Ankunft des Atomblitzes bloß nicht zu verpassen."

Diese frühe Auseinandersetzung mit der Gefahr, die von 'der Bombe' ausgeht, hat Jacobs' Leben insofern geprägt, als dass er sein gesamtes berufliches Leben der Erforschung der Folgen des nuklearen Zeitalters auf die Menschheit gewidmet hat. Als Professor und Experte am 'Graduate Faculty of International Studies' und am 'Hiroshima Peace Institute', die beide in der Universität der Stadt Hiroshima in Japan angesiedelt sind, pendelt er zwischen Hiroshima und Nagasaki, den beiden ersten und einzigen Städten, über denen Atombomben abgeworfen wurden.

Jacobs ist ein Augenzeuge der sozialen und psychologischen Traumata, die diese Tragödie und auch der verheerende Nuklearunfall in Fukushima im März 2011 verursacht haben. "Wir leben in einem in Zeitlupe verlaufenden Atomkrieg", betonte er in Anspielung auf die Massen an nuklearen und radioaktiven Materialien, die in der Erde lagern und die globalen Ökosysteme über Jahrtausende belasten werden. Es folgen Auszüge aus dem Gespräch.

Frage: Wie kommt es, dass Radioaktivität und deren Folgen Mittelpunkt ihrer beruflichen Arbeit geworden sind?

Robert Jacobs: Wir wurden schon als Schüler darauf getrimmt, auf die ersten Anzeichen eines nuklearen Angriffs zu achten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nach der Schule auf den Stufen unserer Veranda in Chicago saß und eine Stunde lang angestrengt in den Himmel blickte, um die Ankunft des Atomblitzes bloß nicht zu verpassen. Ich stellte mir damals vor, wie sich die gegenüberliegende Schule, unser Haus und der gesamte Block in einem weißen Licht auflösen würden.

Da bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich denke, das hat damit zu tun, dass ich mir meiner eigenen Sterblichkeit bewusst wurde - vielleicht infolge von Atomwaffen. Ich setzte mich mit der Angst auseinander, indem ich in die Bibliothek ging und Bücher über Atomwaffen suchte und las. Im Verlauf meiner Kindheit habe ich alles über Kernwaffen gelesen, was ich damals auftreiben konnte. Ich stellte mich meiner Angst, indem ich mich detailliert mit dem befasste, was mir Angst einjagte. Das ist ein Verfahren, das ich nie aufgegeben habe.

Frage: Als Wissenschaftler am Hiroshima Peace Institute können Sie die Folgen der schlimmstem Nuklearkatastrophe der Neuzeit besonders gut einschätzen. Was lernen wir aus der Tragödie?

Jacobs: Die Katastrophe ist der blanke Horror und noch lange nicht zu Ende. Radioaktivität wird über Jahrzehnte in den Pazifik eintreten. Das Design der Reaktoren und die Standortwahl waren schlecht gewählt, die Wartung der Anlage über Jahrzehnte hinweg vernachlässigt. Angemessene Notfallverfahren sind nie entwickelt oder umgesetzt worden.

Hier sehen wir vor allem die Grenzen privat geführter, auf Profit ausgerichteter Atomanlagen. In diesem konkreten Fall erfolgte die Profitmaximierung durch eine Kostensenkung - ein Trend, der das Desaster ermöglicht und beschleunigt hat. Das Energieunternehmen TEPCO ('Tokyo Electric Power Company') hatte seine Atommeiler aus Profitgründen vernachlässigt.

Der Fall verdeutlicht aber auch, dass auf nationaler Ebene gefällte Entscheidungen, Atomreaktoren zu bauen, zu Problemen globalen Ausmaßes werden. Durch Atomunfälle freigesetzte und ins Ökosystem eindringende Radionuklide werden dort Tausende von Jahren verbleiben. Das Gleiche gilt auch für die Radionuklide ausgedienter Brennelemente.

Diese Radionuklide werden sich über Jahrtausende durch die Ökosysteme bewegen. Die Toxine bleiben für hunderte Generationen gefährlich und werden sich über den gesamten Planeten verbreiten. Die in Fukushima generierte Atomkraft hat im Grunde nur einer Generation genutzt; die durch das Desaster verursachten Krankheiten und Verseuchungen werden hunderte Generationen heimsuchen.

Frage: In wieweit wirkt sich die Tragödie auf die Nahrungsmittelversorgung aus?

Jacobs: Die Regierung hat 'rechtlich akzeptierte' Kontaminierungs-Obergrenzen für die Nahrung festgelegt, etwa für den Cäsium-Gehalt in Reis. Ist der Reis stärker verseucht, wird er solange mit nicht kontaminiertem Reis gemischt, bis der Höchstwert unterschritten ist. Auf diese Weise gelangen kontaminierte Nahrungemittel in die Nahrungskette, werden also nicht herausgenommen.

Frage: Inwieweit wirkt sich Radioaktivität negativ auf die Kultur der Japaner aus?

Jacobs: Um diese Frage zufriedenstellend beantworten zu können, bedarf es einiger Erklärungen über die Bedeutung des traditionsreichen japanischen Festes 'Obon', mit dem die Menschen ihrer Vorfahren gedenken und diesen danken.

Um diese Festivität angemessen begehen zu können, kehren viele Japaner in ihre Heimatdörfer und -städte zurück. Sie gehen zu den Gräbern ihrer Vorfahren, säubern sie und schmücken sie. Sie laden die Geister ihrer verstorbenen Angehörigen ein, zurückzukehren und mit ihnen einige Tage zu verbringen. Die Familienmitglieder nutzen diese besondere Festivität dazu, ihre Beziehungen zu ihren Angehörigen zu vertiefen und gleichzeitig an die Vergangenheit anzuknüpfen. Am Ende werden die Geister der Vorfahren zurück zu ihren Gräbern begleitet.

Von den Menschen, deren Heimatstädte in den nuklear verseuchten Gebieten liegen, werden die Rituale nicht mehr angewandt, die Geister ihrer Vorfahren werden nicht mehr auf traditionelle Weise geehrt. Das kann zu schweren psychologischen Belastungen führen. So kommt bei den Betroffenen oftmals ein lebenslanges Gefühl auf, versagt zu haben.

Für viele Menschen stehen Rituale auf dem Spiel, die Familien Hunderte von Jahren, über Generationen hinweg, praktiziert haben. Diese Kette wurde von ihnen unterbrochen. Die Zusammenarbeit mit Gemeinden, die radioaktiven Strahlen ausgesetzt sind, hat gezeigt, dass zwar viele in der Lage sind, zu relativieren. Dennoch neigen sie Schuldgefühlen, ihre Vorfahren gebührend zu ehren.

Als der Tsunami über die Region hereinbrach, konnten einige Menschen die Leichen ihrer Angehörigen nicht beerdigen. Weil sie in der Nähe der Nuklearanlagen gefunden worden waren, galten sie als "radioaktiver Abfall".

Frage: Welche weiteren humanitären Folgen hatte die Katastrophe?

Jacobs: Im Grunde lassen sie sich nur schwerlich erfassen. Streitereien über die Frage, ob man in den verseuchten Gebieten bleiben oder wegziehen, auf lokale Nahrungsmittel verzichten oder diese verzehren sollte, haben viele Ehen zerrüttet. Unzählige Kinder dürfen aufgrund der Kontaminierung nicht draußen spielen. Andere sind mit Dosimetern für spätere Diagnosezwecke ausgestattet und wachsen in dem Bewusstsein auf, kontaminiert zu sein.

Kinder von Familien, die die Gefahrenzone verlassen haben, werden häufig diskriminiert. Andere Menschen wiederum wissen erst gar nicht, ob sie verseucht sind. Gleichzeitig sind sie sich bewusst, dass sie bereits sehr oft belogen wurden, was die Möglichkeit einer Heimkehr und die Gefahren der Radioaktivität und Atomstrom angeht.

Die Zusammenarbeit mit Strahlenopfern hat gezeigt, dass diese Menschen häufig wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Sie werden ausgegrenzt, angelogen, zu medizinischen Zwecken untersucht, aber selten über die Ergebnisse ins Bild gesetzt. Und sie sind ein Leben lang stigmatisiert. Die Würde, die anderen Mitgliedern der Gesellschaft zuteil wird, bleibt ihnen vorenthalten.

Frage: Die westlichen Atomwaffenstaaten haben Atomtests in weit entfernten Orten, in Ozeanien, in der nordafrikanischen Wüste durchgeführt, ohne dafür in irgendeiner Form zur Rechenschaft gezogen worden zu sein (...)

Jacobs: Für mich sind diese Atomtests eine Form von Militärkolonialismus. Atommächte tendieren dazu, mit ihren weit entfernten Atomtests Menschen zu verseuchen, die über keinen politischen Einfluss verfügen, die keine Lobby haben. Allgemein lässt sich wohl sagen, dass Kolonialisten nur selten die Konsequenzen ihrer Ausbeutung befürchten müssen. Wir haben es hier mit einer Ausweitung der Brutalisierung zu tun, die die Kolonisierten durch die Kolonisatoren erleiden.

Wenn wir uns die Geschichte des Kolonialismus ansehen, ist es Großbritannien gelungen, zu der Größe zurückzufinden, zu der ihr der Sklavenhandel verholfen hatte. Als die Franzosen Haiti verloren, wurde Haiti gezwungen, die Franzosen für deren 'Verlust' zu entschädigen.

Im Fall der Atommächte können wir eine solche Dominanz erneut ausmachen. Nehmen wir den UN-Sicherheitsrat mit seinen fünf ständigen Mitgliedern. Alle sind Atomwaffenstaaten. Der Besitz von Atomwaffen hat ihnen ein ständiges Veto über 'weniger wertige' Länder verschafft.

Diejenigen, die einer radioaktiven Strahlung infolge von Atomwaffentests ausgesetzt waren, sind nie in den Genuss einer Gesundheitsversorgung oder Entschädigung für den Verlust von Leben, die Verseuchung von Land oder Nahrungsmitteln gekommen. Das ist kriminell. (Ende/IPS/kb/2013)

* Der von 'Global Cooperation Council' und 'Globalom Media' erstellte Informations- und Analysendienst IDN-InDepthNews ist Partner von IPS-Deutschland.


Links:

http://hiroshima-cu.academia.edu/RobertJacobs
http://www.indepthnews.info/index.php/armaments/1917-we-are-suffering-a-slow-motion-nuclear-war

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2013