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FRAGEN/010: Katja Kipping - "Thüringen hat meine Sichtweise nicht verändert" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2015

"Thüringen hat meine Sichtweise nicht verändert"
Rot-Rot-Grün auf Bundesebene muss als eine Option möglich werden

Gespräch mit Katja Kipping


Katja Kipping ist Bundesvorsitzende der Partei Die Linke und Mitglied im Deutschen Bundestag. Im Gespräch mit Thomas Meyer erläutert sie, welche Auswirkungen die Wahl eines Ministerpräsidenten der Linken hat und lotet die Chancen einer rot-rot-grünen Kooperation auf Bundesebene aus.

NG/FH: Seit Ende letzten Jahres stellt die Linkspartei den Ministerpräsidenten in Thüringen, getragen von einer rot-rot-grünen Koalition. Ist das eine neue politische Qualität, ein Schritt nach vorne in der Entwicklung der politischen Rolle der Linkspartei, symbolisiert das eine Art Neubeginn? Welche Hoffnungen verknüpfen Sie damit?

Katja Kipping: Wir haben uns natürlich sehr gefreut, dass es geklappt hat, zumal es am Wahltag ja noch spannend wurde. Wie historisch dieses Ereignis ist, wurde mir noch mal so richtig vor Augen geführt, als ich am Wahltag in Thüringen unterwegs war. Als ich nach dem ersten Wahlgang an einer Raststätte Stopp machte, begegnete ich dort einer Gruppe von offensichtlich westdeutschen Touristen, die im Ton tiefster Verachtung sagten: "Der Ramelow hat es ja zum Glück nicht geschafft und das klappt auch beim nächsten Mal nicht". Ich spürte eine unglaubliche Aggression, als sie mich dann entdeckt hatten.

Als es im zweiten Wahlgang klappte, wurde mir klar, was für eine Welt jetzt gerade bei denjenigen zusammenbricht, die die Linke bis ins Mark hassen. Für uns war es die Freude darüber, dass Bodo Ramelow, der richtige Mann für dieses Amt, gewonnen hat. Die historische Dimension führte mir erst die Heftigkeit des Widerstandes deutlich vor Augen.

NG/FH: Ist diese historische Dimension jetzt schon eröffnet, nachdem die Regierungsbildung und die Wahl von Ramelow funktioniert hat? Oder müssen erst noch Taten folgen, damit man wirklich von etwas Neuem sprechen kann, für die Bundesrepublik und die Linkspartei?

Kipping: Jedenfalls kann die SPD jetzt in keinem Bundesland dahinter zurück und sagen, dass das ein Tabu ist, auf das sie sich nicht einlassen kann. Insofern ist da jetzt ein Pfeiler eingeschlagen. Aber es gibt keine Garantie dafür, dass es von dort aus jetzt in allen anderen Bundesländern auch Rot-Rot-Grün gibt. Und es gibt auch keinerlei Automatismus von Rot- Rot-Grün in Thüringen auf die Bundesebene.

NG/FH: Worin genau besteht jetzt die Chance? Einfach nur darin, dass es zum ersten Mal einen von Rot-Rot-Grün gewählten Ministerpräsident gibt - oder darin, dass er jetzt etwas umsetzen kann, das wirkt, das eine Ausstrahlung in die Gesellschaft und in die große Öffentlichkeit der Bundesrepublik hinein hat?

Kipping: Die große Chance besteht darin, in einer Zeit, in der eher der Eindruck erweckt wird, Politik sei alternativlos, und in der das Gefühl Vorherrscht, die Länder und Kommunen seien nur noch Vollstrecker des Kürzungsdiktates, einen anderen Pfad einzuschlagen und zu zeigen, dass Alternativen möglich sind. Dadurch kann Demokratie wieder attraktiver werden. Obwohl natürlich klar ist, dass die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse von Thüringen aus nicht über den Haufen geworfen werden können - leider.

NG/FH: Nun hören wir ja im Anschluss an die Regierungsbildung verschiedene Stimmen aus Ihrer Partei. Gregor Gysi hat gesagt, das sei ein Anlass, ernsthafte Gespräche zwischen den vor Ort beteiligten Parteien zu führen, aber auch auf Bundesebene. Von Dietmar Bartsch kam der eher überraschende Kommentar, es gebe weder einen Anlass noch eine Grundlage für solche Gespräche. Was meinen Sie?

Kipping: Ich würde gerne die Diskussion über Rot-Rot-Grün auf Bundesebene von der Situation in Thüringen lösen. Die Thüringen-Wahl hat meine Sichtweise diesbezüglich nicht verändert.

Ich meine, Rot-Rot-Grün auf Bundesebene sollte als eine Option schon deshalb nicht ausgeschlossen werden, damit nicht die CDU alleine die Wahl hat, mit wem sie regieren will, also aus schlichten verhandlungstaktischen Gründen sozusagen.Wenn stets die CDU allein die Wahl hat, wird sie immer den Preis bestimmen. Und mit dem Erstarken einer marktradikalen rechtspopulistischen Partei besteht zudem die Gefahr, dass irgendwann wohlmöglich Rot-Rot-Grün die einzige Alternative ist, um Schwarz-Blau zu verhindern.

NG/FH: Das sind rein demokratiepolitische Erwägungen.

Kipping: Genau. Angesichts des konkreten gegenwärtigen Zustands aller drei betroffenen Parteien halte ich Rot-Rot-Grün nicht für die wahrscheinlichste Variante für 2017 und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob sie die wünschenswerteste ist. Man darf ja nicht vergessen: Wenn es Rot-Rot-Grün gibt, heißt das, es gibt keine Opposition von links mehr im Parlament, weil ja dann alle Mitte- und Linksparteien gemeinsam in der Regierung sind. Das verändert die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Damit Rot-Rot-Grün Sinn macht, müssen mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein: Die Beteiligten müssen zu einem gemeinsamem Programm finden. Eine Voraussetzung dafür ist die Verständigung darüber, dass man tatsächlich etwas anders machen möchte und dass diese Verständigung in der Substanz von den drei Parteien getragen wird. Das war die Stärke in Thüringen. Bei allen fiskalischen Beschränkungen dort haben sich die Parteien verständigt: Sie wollen den sozialökologischen Umbau voran bringen. Da hat es zuvor viele Gespräche, viele Arbeitsbeziehungen gegeben. Das sehe ich gegenwärtig auf Bundesebene überhaupt nicht.

Und die zweite Voraussetzung ist fast noch schwerer zu erfüllen: Es bedarf vorher einer hegemonialen Verschiebung, einer Änderung des Zeitgeistes. Der Crossover darf sich deshalb nicht auf Abgeordnete der drei Parteien beschränken, die sich mal beim Latte Macchiato treffen. Er muss vielmehr von nichtparteilichen Akteuren wie den Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Sozialverbänden, kritischen Köpfen in Wissenschaft und Kunst getragen sein. Dazu braucht es eine Plattform auf gesellschaftlicher Ebene.

NG/FH: Dietmar Bartsch hat ja auch gesagt: "Wenn eine rot-rot-grüne Kooperation auf Bundesebene möglich werden soll, dann muss sie aus der Gesellschaft heraus entstehen." Aber wo soll denn eine solche Bewegung aus der Gesellschaft heraus oder eine solche Kooperation zwischen den Parteien herkommen, wenn sie nicht von den Parteien selbst initiiert, sie also nicht ein Stück weit von den Parteien auch in die Gesellschaft hineingetragen wird?

Kipping: Mein Argument darf keine Ausrede dafür sein, nun Däumchen zu drehen. Beim Institut Solidarische Moderne, dessen Mitbegründerin ich bin, wird beispielsweise exemplarisch praktiziert, wie ein parteilich-gesellschaftliches Crossover ablaufen kann. Dort sitzen nämlich Parteipolitiker/innen, kritische Wissenschaftler/innen und Bewegungsaktivist/innen gleichberechtigt zusammen und verpflichten sich auch auf gemeinsame Methoden, um etwa Papiere zu produzieren, um gemeinsam Kongresse vorzubereiten.

Es müsste uns gelingen, so etwas auch in einem größeren Rahmen zu praktizieren, auf einer größeren Plattform, mit den großen Gewerkschaften und den Spitzen von SPD und GRÜNEN.Wenn aber die Zusammenarbeit aller drei Parteien so weit wäre wie beim ISM, dann würde ich sehr zuversichtlich auf 2017 schauen.

NG/FH: Neben dem ISM gibt es noch weitere ähnliche Initiativen. Warum springt von denen nichts in die Parteien oder in die Gesellschaft über? Da machen doch relativ prominente gut vernetzte Leute mit, die in ihren eigenen Milieus anerkannt sind. Da müsste es doch möglich sein.

Kipping: Beim ISM gibt es eine starke Interaktion und Diskussionen mit der kritischen jüngeren Wissenschaftsgeneration. Da passiert ja richtig was. Aber das funktioniert halt abseits der sehr platten und sehr machtförmig geprägten Deutungsmuster der Massenmedien. Auch deswegen wird das zu wenig wahrgenommen. Es gibt Medienkonzerne, deren Hauptziel sein wird, das zu stören, sobald Rot-Rot-Grün zur realistischen Option wird.

Wir haben doch miterlebt, was für eine Kampagne führender Medienkonzerne bei der letzten Bundestagswahl gegen die GRÜNEN losgetreten wurde, Stichworte Veggie-Day und Pädophilendebatte. Diese war doch nicht darin begründet, dass diese auf einmal Angst hatten, am Freitag kein Fleisch mehr essen zu dürfen. Man hat die GRÜNEN vielmehr deshalb angegriffen, weil sie in den Umfragen so gut dastanden, dass Rot-Grün mit der klaren Aussage einer Umverteilung zu einer realistischen Option wurde. Die Umverteilung war gegen die Interessen der führenden Kräfte. Darum haben sie zurückgeschlagen.

NG/FH: Wenn das so ist, müsste man doch am stärksten daran interessiert sein, diese Debatten lange vor der Wahl zu führen, damit sie dann nicht kurz vor der Wahl so einschlagen, sondern bis dahin eingearbeitet sind und Argumente durchbrechen können.

Kipping: Ja, vor allem bräuchte es dagegen eine allgemeine innere Wehrhaftigkeit. Dazu gehört erst einmal das Wissen, dass sich jede politische Kraft, die eine Umverteilung von oben nach unten möchte, selbst wenn sie im Interesse von zwei Dritteln der Bevölkerung ist, mit den reichsten 5-10 % anlegen muss und dass es darum immer Kampagnen dagegen geben wird. Man muss sich intellektuell und strategisch dagegen immunisieren. Das Problem ist aber, dass es in allen Parteien die Neigung gibt, sich solchen Kampagnen rasch zu beugen.

NG/FH: Was beinhaltet genau der Begriff der "Mosaik-Linken"? Ist das ein Konzept bzw. Programm, bei dem jede beteiligte Partei eine bestimmte Aufgabe übernimmt, atmosphärisch und thematisch in die verschiedenen, ihr besonders nahestehenden gesellschaftlichen Gruppierungen und Milieus hineinzuwirken?

Kipping: Die Stärke dieses Konzepts liegt in der Erkenntnis, dass die Verschiedenheit keine Schwäche, sondern eine Stärke sein kann. Und in der Erkenntnis, dass die von der interventionistischen Linken über die parlamentarische Linke bis hin zum feministischen Care-mob und zur Gewerkschaftslinken - jede und jeder seine besondere Funktion in diesem Mosaik hat. Die Unterschiede und Eigenrationalitäten sollten wir uns nicht gegenseitig vorwerfen sondern als jeweilige Stärke verstehen. Eine wichtige Aufgabe der Linkspartei besteht darin, diejenigen Gruppen anzusprechen oder überhaupt wieder für demokratische Teilhabe zu begeistern, die bereits ihre innere Kündigung an die Demokratie geschrieben haben, weil sie das Gefühl haben, auf dem Abstellgleis zu stehen oder weil sie Abstiegsängste haben.

Hartz IV-Betroffene, Prekarisierte und Menschen mit Abstiegsängsten können wir als LINKE vielleicht in besonderer Weise ansprechen. Immerhin wird den GRÜNEN und der SPD eher zugeschrieben, an der klassischen Angst vor Altersarmut mit Schuld zu sein.

Oder nehmen wir das Thema Energiewende. Da haben die GRÜNEN eine besondere Kompetenz für die Umstellung auf erneuerbare Energien. Sie sind in den entsprechenden Milieus tief verankert. Die SPD bringt ihre Bindungen an die Gewerkschaften mit, die man dafür gewinnen muss. Und wir bringen die soziale Dimension ein, um sicherzustellen, dass Energiewende am Ende nicht zulasten der Ärmsten geht. Und wir bringen natürlich noch die Konzernkritik mit, da eine nachhaltige Energiewende nur funktioniert, wenn man bereit ist, sich mit den Konzernen anzulegen. Erst diese unterschiedlichen Kompetenzen zusammen machen eine wirklich nachhaltige sozialökologische Energiewende möglich.

NG/FH: Waren die drei Parteien heute in der Lage, das hinzubekommen?

Kipping: Auf gar keinen Fall. Davon sind wir weit entfernt. Wie erwähnt gibt es immerhin Gespräche mit einzelnen Sozialdemokraten und GRÜNEN, die ganz okay funktionieren, aber was das Interesse an einem wirklichen Politikwechsel anbelangt, ist der aktuelle Stand eher ernüchternd. Von Berufspolitiker/innen erwartet man, dass sie Profis sind und auch wissen, dass sich im Wahlkampf jede Partei selbst am nächsten ist und natürlich versucht, ein gutes Ergebnis zu erzielen. Das ist auch nichts Schlimmes, das gehört zur Demokratie dazu. Das Ernüchternde an den Gesprächen, die wir bisher geführt haben, ist der verbreitete Mangel an Interesse, etwas wirklich anders zu machen, als es bisher der Fall ist. Die Richtschnur für mich lautet hingegen: In welcher Position - Opposition oder Regierung - kann ich das größtmögliche Maß an gesellschaftlicher Veränderung im Sinne friedlicher Außenpolitik und im Sinne des sozialökologischen Umbaus bewirken? Diese Frage lässt sich nur in der konkreten Situation beantworten.

NG/FH: Die Vorbehalte der SPD gegenüber den Linken haben viel mit deren großer Vielstimmigkeit zu tun. Zu jedem öffentlichen Statement kommt sofort ein radikales Gegenstatement, es gibt zu viele gegensätzliche Gruppen in der Partei. Gibt es überhaupt genügend starke Kräfte, die verlässlich im Bund regieren wollen? Man weiß ja, in der Regierung zu sein, kostet Stimmen. Da denken viele, in der Opposition kann man auch manches verändern, und die Zahl der Mandate wird nicht dezimiert.

Kipping: Dem möchte ich widersprechen. Man muss sich einfach mal anschauen, wie sich die beiden Vorsitzenden der GRÜNEN äußern, da findet man fast immer konträre Antworten. Finden sie erst einmal einen Bereich, in dem das bei Bernd Riexinger und mir vergleichbar wäre. Und verschiedene Strömungen gibt es schließlich in allen anderen Parteien auch.

NG/FH: Es gibt doch bei ihnen Gruppen, die eher der Binnenlogik folgen, die schauen, was innenparteilich etwas bringt und andere, die nach außen gestalten wollen und dafür Zustimmung suchen. Das schafft ein starkes Spannungsverhältnis.

Kipping: Ich teile Ihre Kategorisierung nicht. Meine Orientierung ist "evolutionäre Realpolitik". Unser Kompass besteht darin, dass jedes Nahziel mit einer Perspektive in der Ferne Verbunden sein muss. Daher ist für mich der Gestaltungsbegriff immer mit der klaren Zielvorgabe einer friedlichen Außenpolitik und eines sozialökologischem Umbaus verbunden. Bei einer Regierung, die zu einer friedlichen Außenpolitik führt, die eine Millionärssteuer einführt, einen Mindestlohn, eine Mindestsicherung und eine Mindestrente, sind wir sofort dabei.

NG/FH: Wie sehen Sie die Pegida-Anhänger in Dresden und anderswo? Die sind ja nur zum kleinen Teil von SPD oder GRÜNEN gekommen, aber viele haben vorher versucht, sich bei der Linkspartei einzusortieren. Ist das nicht eine spezielle Herausforderung für Sie?

Kipping: In einer Gesellschaft, in der Existenz- und Abstiegsängste dominieren, verroht das gesellschaftliche Klima und das Treten nach unten brutalisiert sich. Letzteres und die Begeisterung für Autoritäten bilden den Grundton von Pegida, der AfD und des Rechtspopulismus. Von daher glaube ich, dass diese gesellschaftliche Entwicklung durch die neoliberalen Reformen vorbereitet worden ist. Das ist der gesellschaftliche Humus, auf dem solche Kräfte gedeihen können. Pegida ist ein Ausdruck von dreierlei: eines tief in der Mitte der Gesellschaft sitzenden Rassismus; einer inneren Kündigung gegenüber der Demokratie; und eines Kulturkampfes, der gerade von rechts geführt wird, und der alle Errungenschaften der 68er Bewegung zurückdrehen will. Pegida zieht ja gleichermaßen über Migranten, Frauen und die Gleichstellung von Homosexuellen her. Bei all diesen Punkten nehmen wir als Linke eine deutlich andere Position ein. Der organisierende Kern von Pegida ist die AfD und das Dresdner Sportfanmilieu, die Hooliganszene. Die Andockstelle ist die Unzufriedenheit über das System.

NG/FH: Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit System?

Kipping: Der Protest gegen das System kann rechtsgewendet werden und richtet sich dann generell gegen die Demokratie. Er kann auch links gewendet werden, dann verläuft die Grenze zwischen oben und unten: Die existierende Produktionsweise und der Kapitalismus sorgen dafür, dass es Ausbeutung und Armut gibt etc.

NG/FH: Wo sehen Sie inhaltliche Überlappungen zwischen der Linkspartei, der Sozialdemokratie und den GRÜNEN, an die angeknüpft werden könnte und sollte. Und wo sind die großen Hürden, die zu überwinden wären?

Kipping: Vor allem beim Mindestlohn gibt es Anknüpfungspunkte, auch bei der solidarischen Bürger/innenversicherung im Gesundheitswesen, also der Abkehr vom Zwei-Klassen-System in der medizinischen Versorgung, auch längeres gemeinsames Lernen in der Schule ist eine Gemeinsamkeit, die sozialökologische Energiewende könnte solch ein Thema sein. Das jetzige Agieren von Sigmar Gabriel in dieser Hinsicht wirft aber Fragen auf. Im letzten Wahlkampf schien es noch, als sei die Umverteilung durch eine stärkere Besteuerung von Vermögen und Einkommen ein verbindender Punkt. Jetzt stelle ich besorgt fest, dass sich bei den GRÜNEN in Bezug auf die Deutung des Ergebnisses bei der letzten Bundestagswahl die Parteirechten durchgesetzt haben, die gerade die Forderung nach Steuererhöhung als Grund für den Absturz betrachten.

Ich sehe aber auch Knackpunkte - zum einen die Außenpolitik: Wenn die SPD darauf besteht, dass es von vornherein ein Ja zu Auslands- und Kriegseinsätzen gibt, dann wird es keine Koalition geben.

NG/FH: Sind Sie ausdrücklich nur gegen Kriegseinsätze im Ausland oder gegen Auslandseinsätze überhaupt?

Kipping: Wir sind generell gegen Auslandseinsätze. Im Programm ist die rote Haltelinie so formuliert: Wir sind dafür, dass alle jetzigen Auslandseinsätze beendet werden. Und wir werden keinem Kriegseinsatz zustimmen.

NG/FH: Das würde heißen, dass andere Bundeswehreinsätze außer Kriegseinsätzen nicht verboten sind.

Kipping: Das heißt aber auch nicht, dass die automatisch erlaubt sind.

Zudem sind wir für einen Austritt aus der NATO bzw. wir halten es für ein richtiges Ziel, die NATO überflüssig zu machen. Das ist aber keine rote Haltelinie. Konkret lautet die Formulierung: "die NATO ersetzen durch ein anderes kollektives Sicherheitssystem, etwa die KSZE".

Der zweite Punkt ist der Umgang mit den Erwerbslosen. Hier sehe ich inzwischen eine größere Nähe zu den GRÜNEN. Ich meine, das Hartz IV-Sanktions-System gehört abgeschafft. Da sehe ich bei der SPD gegenwärtig eher das Interesse, Langzeiterwerbslose und Beschäftigte weiterhin gegeneinander auszuspielen. Erwerbslose dürfen jedoch nicht zu Schuldigen abgestempelt werden und sie dürfen auch nicht mittels Existenzangst zur Annahme von Jobs oder Maßnahmen gezwungen werden.

Und drittens fürchte ich, dass wir uns gegenwärtig nicht einmal auf den Grundsatz einer stärkeren Umverteilung durch Besteuerung von Superreichen und Konzernen verständigen können.

NG/FH: Zurück zur Mosaik-Linken. Wenn sich Vertrauen zwischen den Beteiligten bilden soll, würde das nicht dadurch gefördert, dass die wechselseitige Kritik zivilisierter und konstruktiver würde und in der Öffentlichkeit auch Gemeinsamkeiten sichtbar würden?

Kipping: Ja, aber das darf in der Praxis nicht dazu führen, dass die Gegensätze und die Kontroverse zu kurz kommen. Die Theoretikerin der Radikaldemokratie, Chantal Mouffe, spricht zu Recht von der Bedeutung von Gegensätzen, um Menschen für Politik zu begeistern. Platte Harmoniesucht führt nur zu schnell in die Postpolitik. Wenn der Eindruck entstünde, die drei Parteien seien ja eh alle gleich, schadete das der Demokratie und wirkte demobilisierend auf die jeweiligen Milieus.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2015, S. 52 - 57
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2015

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