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INNEN/1607: Neue Wege für deutsche Migrations- und Flüchtlingspolitik (spw)


spw - Ausgabe 4/2009 - Heft 172
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Neue Wege für die deutsche Migrations- und Flüchtlingspolitik

Von Marei Pelzer


Es bedarf einer grundlegenden Neuausrichtung der Migrations- und Flüchtlingspolitik in Deutschland. Zwar bekennen sich heutzutage die maßgeblichen politischen Akteure dazu, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist - dies stellt zumindest rein auf rhetorischer Ebene einen Fortschritt dar - die Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis sind allerdings die falschen. Derzeit stellt die herrschende Politik das Thema Integration der hier lebenden MigrantInnen in den Vordergrund. Aus Sicht der Union ist Messlatte für eine erfolgreiche Integration vor allem der Erwerb der deutschen Sprache. Mit dieser Fokussierung auf den Spracherwerb werden Migrantinnen und Migranten immer wieder als Integrationsverweigerer konstruiert, wenn sie die Sprachanforderungen nicht erfüllen. Dieser Ansatz vernebelt das staatliche Versagen, wenn es um eine auf gesellschaftliche Teilhabe aufbauende Integrationspolitik geht. Es werden soziale Benachteiligungen und Diskriminierungen von Migrantinnen und Migranten, für die eine verfehlte Politik verantwortlich ist, aus dem Blickfeld genommen.

Eine zweite Fehlentwicklung der letzten Jahre stellt die Tatsache dar, dass immer mehr Möglichkeiten, nach Deutschland einzuwandern oder zu fliehen, verbaut werden. Jenseits der Binnenwanderungen innerhalb der EU werden den so genannten Drittstaatsangehörigen die Wege nach Deutschland immer mehr verschlossen. Im Bereich des Flüchtlingsschutzes erfolgt dies durch eine zunehmende Kontrolle und Abschottung der EU-Außengrenzen. Bezogen auf die Einwanderung wurde mit der Verschärfung des Rechts auf Familiennachzug eine wichtige Rechtsgrundlage für die legale Einwanderung stark beschnitten. Öffnungen gegenüber neuen Einwanderungen finden allenfalls gegenüber höher qualifizierten ArbeitnehmerInnen statt. Aber selbst für diese privilegierte Gruppe sind die Rahmenbedingungen - was zum Beispiel die Möglichkeit der Begleitung durch die Familie angeht - noch immer weitgehend unattraktiv. Eine solidarische und humanitäre Einwanderungspolitik darf sich allerdings nicht nur die "besten Köpfe" in einer globalisierten Welt herauspicken. Auch Menschen, die zum Beispiel aus wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit oder als Opfer von Umweltkatastrophen ihr Herkunftsland verlassen möchten, müssen Chancen auf ein besseres Leben in Deutschland und Europa gegeben werden.

Im Folgenden sollen einige Ansätze vorgestellt werden, die als erste Schritte hin zu einer neuen Flüchtlings- und Migrationspolitik zu verstehen sind.


Einwanderung

In der Einwanderungspolitik hält Deutschland trotz Fachkräftemangels am Anwerbestopp von 1973 fest. Das Zuwanderungsgesetz aus dem Jahr 2005 enthielt lediglich für Hochqualifizierte neue Einwanderungsmöglichkeiten, doch selbst diese wurden in der Praxis kaum genutzt, weil die Bedingungen in Deutschland deutlich weniger attraktiv sind als in anderen Einwanderungsländern.

Ebenso wenig bietet das von der Bundesregierung forcierte und auf EU-Ebene diskutierte Konzept der zirkulären Migration eine Lösung. Dieses Konzept versucht, das gescheiterte "Gastarbeiter-Modell" als alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen; das heißt, Arbeitsmigration soll nur auf Zeit erlaubt werden. Dieser Ansatz verkennt: Wer über mehrere Jahre in Deutschland lebt, der entwickelt Bindungen und schlägt Wurzeln. Wer auf Migration auf Zeit setzt, redet daher der Entrechtung der MigrantInnen das Wort. Ein Beispiel ist die Aushebelung der Teilhaberechte im Betrieb, wie etwa die Mitwirkung in Betriebsräten. Zudem besteht die Gefahr der Ausbeutung, wenn der Aufenthaltsstatus von einem bestimmten Arbeitsplatz abhängig ist.

Einen neuen Ansatz für das Migrationsrecht stellt das so genannte Punktesystem dar. Ähnliche Konzepte wenden auch klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien an. Unabhängig von einem konkreten Arbeitsplatzangebot wird ein jährliches Kontingent von Einwanderungsplätzen bestimmt. Bei der Auswahl der BewerberInnen sollten nicht ökonomische Kriterien sondern die Bedürfnisse der Einwanderer im Vordergrund stehen.


Familiennachzug

Die Reformen der letzten Jahre haben die Auflagen für den Familiennachzug massiv verschärft und vom Nachweis deutscher Sprachkenntnisse schon im Ausland abhängig gemacht. Dies gilt auch für ausländische Ehegatten, die mit Deutschen verheiratet sind. Für viele ist diese neue Anforderung schlicht nicht erfüllbar, weil entsprechende Kursangebote entweder fehlen oder nicht erreichbar beziehungsweise nicht bezahlbar sind. Tausenden wird damit das vom Grundgesetz geschützte Recht auf eheliches Zusammenleben dauerhaft vorenthalten.

Das Erfordernis des Erwerbs der deutschen Sprache vor der Einreise sollte ersatzlos abgeschafft werden. Diese Verschärfung ist nicht nur verfassungswidrig, sondern wird auch als negatives Signal der hier lebenden Migrantinnen und Migranten verstanden. Notwendig wäre vielmehr eine Ausweitung des Rechts auf Familiennachzug: auch nichteheliche Lebenspartner sollten ein Recht auf ein Zusammenleben erhalten. Ebenso sollte es MigrantInnen ermöglicht werden, neben der Kernfamilie auch ihre Eltern oder Geschwister nachziehen zu lassen. So besteht zum Beispiel das legitime Bedürfnis, Eltern nachkommen zu lassen, wenn diese aufgrund ihres hohen Alters auf die Unterstützung oder Pflege durch die Familie angewiesen sind.


Staatsangehörigkeitsrecht

Ein Reformprojekt der rot-grünen Bundesregierung stellte das neue Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahr 2000 dar. Auch wenn das zuvor geltende Ius Sanguinis (Abstammungsprinzip) durch Elemente des Ius Soli (Prinzip des Geburtsortes) aufgeweicht wurde und in Deutschland geborene Migrantenkinder qua Geburt Deutsche werden können, so überwiegen im Staatsangehörigkeitsrecht auch weiterhin restriktive Tendenzen. In den Jahren 2007 und 2008 wurden durch Verschärfungen, wie die Rücknahme der Einbürgerungserleichterungen für junge Erwachsene, unverhältnismäßig hohe Anforderungen an die Sprachkenntnisse sowie verpflichtende Einbürgerungstests durchgesetzt. Infolgedessen sank die Zahl der Einbürgerungen von 186.688 im Jahr 2000 auf schätzungsweise unter 100.000 im Jahr 2008. Zu hohe Hürden bei der Einbürgerung stellen aber eine Belastung für unsere Demokratie dar, da eine ganze Bevölkerungsgruppe von der demokratischen Mitbestimmung in Deutschland ferngehalten wird.

Die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts ist dringend erforderlich. Dazu gehören die konsequente Verankerung des Ius Soli sowie die reguläre Anerkennung der doppelten Staatsangehörigkeit. Ein erster Schritt würde die Abschaffung des sogenannten Optionsmodells bedeuten. Nach diesem Modell müssen sich hier geborene Kinder von MigrantInnen, die qua Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, bis zu ihrem 23. Lebensjahr für die deutsche oder die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern entscheiden. Diesen jungen Erwachsenen sollte der Doppelpass ermöglicht werden.


Bleiberecht für Geduldete

Zum Ende des Jahres 2009 droht Tausenden Menschen der Verlust des Bleiberechts auf Probe. Denn nach der Altfallregelung, die im Jahr 2007 beschlossen wurde, müssen die Betroffenen bis zum 31.12.2009 einen Arbeitsplatz und die überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts aus eigener Kraft nachweisen, was der Mehrheit nicht möglich sein wird - ihnen droht die Zurückstufung in die Duldung. Von ca. 35.000 Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung erhalten haben, wurde diese in 80% der Fälle nur auf Probe erteilt. Das heißt, dass sie für den Fall, dass ihnen die eigenständige Lebensunterhaltssicherung bis Ende des Jahres 2009 nicht gelingt, mit der Zurückstufung in die Duldung rechnen müssen.

Als die Altfallregelung beschlossen wurde, war noch nicht absehbar, dass wir uns heute in einer der größten Wirtschaftskrisen seit Bestehen der Bundesrepublik befinden würden. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt bekommen nicht zuletzt die ehemals Geduldeten massiv zu spüren. Wegen ihrer schwierigen rechtlichen Ausgangslage konnten die meisten Betroffenen allenfalls prekäre Beschäftigungsverhältnisse eingehen, weswegen sie als erste von Entlassungen betroffen sind. Schon jetzt leben über 100.000 Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und nur mit einer Duldung in Deutschland. Diese Zahl droht mit der Wirtschaftskrise noch anzusteigen.

Die im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien und zahlreiche Organisationen haben aus diesem Grund eine Nachbesserung der Bleiberechtsregelung gefordert. Die Innenminister der Länder und die Bundesregierung haben dies abgelehnt und eine Lösung des Problems auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben.

Es bleibt zu fordern, dass noch in diesem Jahr eine Lösung gefunden wird. Wer Kettenduldungen glaubwürdig abschaffen möchte, der darf nicht Unmögliches von den Betroffenen verlangen. Wenn eine Lebensunterhaltssicherung angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht möglich ist, müssen Bemühungen um Arbeit ausreichen, um das Bleiberecht zu erhalten.


Resettlement - Flüchtlinge aufnehmen

In Kriegs- und Krisensituationen sind es fast immer die Nachbarstaaten, die in kurzer Zeit die Aufnahme zehn- oder gar hunderttausender Flüchtlinge organisieren müssen. Oft handelt es sich dabei um strukturell überforderte Entwicklungs- und Schwellenländer. Nicht selten bleiben die Betroffenen jahrelang in Notbehausungen in Flüchtlingslagern, ohne Zugang zu zentralen Rechten und ohne Perspektive. Deshalb versucht der UN-Flüchtlingskommissar, die Betroffenen aus den Erstzufluchtsstaaten heraus an aufnahmebereite Staaten zu vermitteln, wo sie dauerhaft Aufnahme finden. Die deutsche Politik hat sich bislang nur zu einer ad hoc Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Irak durchgerungen, nach wie vor fehlt ein nachhaltiges Resettlement-Programm, auf das sich UNHCR und die betroffenen Flüchtlinge verlassen können.

Flüchtlingsorganisationen fordern zusammen mit den Kirchen und dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ein jährliches Resettlementprogramm für Flüchtlinge. Dies ist ein Weg, einen Beitrag zur Linderung des weltweiten Flüchtlingselends zu leisten. Ein solches Programm darf aber keinesfalls als Ersatz dafür angesehen werden, dass Schutzsuchende auch aus eigener Kraft nach Deutschland fliehen können müssen. Die Grenzen dürfen für Flüchtlinge nicht unüberwindbar werden.Völkerrechtswidrige Absperrungen der EU-Außengrenzen, wie etwa das Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten durch die EU-Grenzsicherungsagentur FRONTEX, müssen unterbunden werden.


Fazit

Die hier gemachten Vorschläge können nur erste Schritte auf dem Weg zu einer neuen Ausrichtung der Flüchtlings- und Migrationspolitik darstellen. Ihre politische Durchsetzungfähigkeit hängt davon ab, dass gesellschaftliche Mehrheiten für sie gefunden werden. Nur mit dem öffentlichen Druck aus den Reihen der Zivilgesellschaft werden sich die Parteien dazu bewegen lassen, fortschrittliche Konzepte zu verwirklichen.

Marei Pelzer ist Referentin bei Pro Asyl.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2009, Heft 172, Seite 34-37
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2009