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MENSCHENRECHTE/258: Mexiko - Menschen in Massengräbern, Behörden mit Identifizierung überfordert (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Juni 2013

Mexiko:
Menschen in Massengräbern - Behörden mit Identifizierung überfordert

Von Daniela Pastrana


Bild: © Daniela Pastrana/IPS)

"Helft uns, sie zu finden", heißt es auf diesem riesigen Banner, auf dem die Fotos von Verschwundenen aufgedruckt wurden
Bild: © Daniela Pastrana/IPS)

Mexiko-Stadt, 11. Juni (IPS) - Der mexikanische Polizeioffizier Luis Ángel León Rodríguez, wird seit dem 16. November 2009 vermisst. Er verschwand zusammen mit sechs Kollegen und einem Zivilisten im westmexikanischen Bundesstaat Michoacán. Sechs Tage später begann seine Mutter Araceli Rodríguez mit der Suche nach dem verschleppten Sohn.

In den letzten dreieinhalb Jahren hat sie an jede Tür geklopft, ließ sich von den mutmaßlichen Mördern ihres Sohnes beschreiben, wie seine Leiche angeblich zerstückelt und unter einem Avocado-Baum vergraben wurde. Zweimal schon war sie vergeblich an Ausgrabungsarbeiten beteiligt.

Im April fand sie in ihrem Briefkasten einen Brief von der Abteilung für innere Angelegenheiten der Bundespolizei, in dem ihr Sohn aufgefordert wurde, am 15. Mai "ohne Uniform und ohne Dienstwaffe" und in Begleitung eines Anwalts zu erscheinen, um auf die Anschuldigungen zu reagieren, seiner Verantwortung als diensthabender Offizier nicht nachgekommen zu sein und der Arbeit ohne Angabe von Gründen fern geblieben zu sein.

Statt des Sohnes fand sich die Mutter ein und legte das gleiche Foto vor, das sie bereits während der Protestmärsche und Karawanen der Bewegung für Frieden und Gerechtigkeit mit Würde, bei zwei Treffen mit dem früheren Staatspräsidenten Felipe Calderón (2006-2012) und einer Reihe von Interviews vorgezeigt hatte.


Mit Verschwundenenfällen komplett überfordert

"Hier ist mein Sohn in Uniform, weil ich sie nicht ausziehen kann, ohne Gewehr und mit mir als seiner Anwältin. Kann ich Sie verklagen, weil sie meinen Sohn verloren haben?", fragte sie die Polizeivertreter. Der Leiter der Abteilung für innere Angelegenheiten, Paul Aguilera, erklärte ihr daraufhin, dass man über keine umfangreiche Datenbank verfüge, mit deren Hilfe sich die genauen Umstände für das Verschwinden jedes einzelnen Polizisten rekonstruieren ließen. Allein seine Behörde habe mit 16.000 Verschwundenenfällen zu tun.

Lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen werden nicht müde, auf die menschliche Tragödie in Mexiko hinzuweisen, wo Zehntausende Menschen seit der Militarisierung des Anti-Drogen-Kampfes Ende 2006 getötet und verschleppt wurden. Der Amtsantritt des konservativen Präsidenten Enrique Peña Nieto im vergangenen Dezember hat die Gewalt nicht eingedämmt.

In Mexiko werden 26.000 Menschen vermisst, wie einer im Februar veröffentlichten Liste des mexikanischen Innenministeriums zu entnehmen ist. Doch berücksichtigt sind nicht die 86 der 140 Verschwundenenfälle, die die Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' (HRW) in dem Bericht 'Mexikos Verschwundene: Der fortwährende Preis einer ignorierten Krise' dokumentiert hat.

Ebenso wenig tauchen die Opfer auf, deren Fälle die mexikanische Bewegung für Frieden 2011 öffentlich gemacht hat. Dazu zählt das Schicksal der Umweltaktivisten Eva Alarcón und Marcial Bautista, des Schachspielers Roberto Galván und von Yahaira Guadalupe Bahena, deren Mutter versucht hat, mit zwei Hungerstreiks Antworten auf die Frage nach dem Schicksal ihrer Tochter zu bekommen.

In dem am 4. Juni veröffentlichten Bericht 'Sich dem Alptraum stellen: Verschwundenenfälle in Mexiko' spricht 'Amnesty International' von einem "Muster systematischer Fälle von Verschwindenlassen und Entführungen' die von der vorangegangenen Regierung ignoriert wurden. "In einigen Fällen handelt es sich um Fälle von Verschwindenlassen, in die staatliche Kräfte verwickelt sind. Andere Opfer wurden von Privatpersonen und kriminellen Banden verschleppt."

Die Menschenrechtsorganisation berichtet, dass sie im Verlauf mehrerer Mexiko-Besuche seit 2010 152 solcher Fälle zusammengetragen hat. In 85 dieser Fälle lagen Beweise für eine Beteiligung staatlicher Akteure vor. Erwähnt wurden Verbrechen, die die Handschrift krimineller Gangs trugen, so etwa das Verschwinden von neun Telefoningenieuren im Juni im nordmexikanischen Tamaulipas.


Mindestens 24.000 nicht identifizierte Leichen

Aus Berichten der Tageszeitung 'Milenio' im Oktober 2012 , denen Informationen der Kommunen zugrundeliegen, geht hervor, dass unter der Regierung von Calderón mindestens 24.000 unidentifizierte Leichen in Massengräbern verscharrt wurden.

In Mexiko gibt es keine Vorgaben für den Umgang mit Informationen über vermisste Menschen. Jeder Bundesstaat verfügt über ein eigenes System zur Identifizierung von Leichen. Und die Akten über die meisten der unbekannten Toten, die in Gemeinschaftsgräbern beerdigt wurden, sind bestenfalls unvollständig. Es fehlen Fingerabdrücke, Fotos, Röntgenbilder der Zähne oder DNA-Proben. In anderen Fällen haben sich die in den Akten enthaltenen Informationen als falsch herausgestellt. Und manchmal wurden unbekannte Leichen ohne Angaben eingeäschert.

In Mexiko mit seinen 117 Millionen Einwohnern gibt es zudem nur 25 forensische Anthropologen, und in vielen Leichenschauhäusern fehlen DNA-Labore. Ferner gibt es keine Standardverfahren für die Exhumierung und Identifizierung von Leichen.

Die Regierung ist nicht bereit, die menschliche Tragödie anzuerkennen. Am 21. Februar schloss sie jedoch ein Abkommen mit dem Komitee vom Roten Kreuz über die Einrichtung eines Identifizierungs- und Vermisstenprotokolls.


Eltern abgewimmelt

Alejandra Viridiana wurde im November 2011 aus einer Kneipe in einem Außenbezirk von Mexiko-Stadt entführt. Ihre Mutter Beatriz Mejía suchte alle Leichenschauhäuser ab und fand sie schließlich im Register des Leichenschauhauses, in dem sie gleich nach dem Verschwinden der Tochter erschienen war. "Sie lag dort zwei Monate und wurde dann in einem Gemeinschaftsgrab beerdigt. In genau diesen zwei Monaten bin ich dort fast jeden Tag erschienen, um nachzufragen, ob es etwas Neues gab!", berichtet Mejía.

Es gibt unzählige Geschichten von Familien, die unermüdlich von Friedhof zu Friedhof, Massengrab zu Massengrab und Leichenhalle zu Leichenhalle gehen, um ihre Angehörigen zu finden. "Mir hatte man gesagt, dass es keine weiteren Spuren gibt, um die Suche nach meinem jüngeren Bruder fortzusetzen, und dass man den Fall ad acta gelegt hat", berichtete Brenda Rangel. Ihr Bruder Héctor war im November 2009 zusammen mit zwei weiteren Personen im nördlichen Bundesstaat Coahuila verschwunden.

In Reaktion auf den Druck der Familien hat die Regierung am 17. Mai die Einrichtung eines Expertenteams angekündigt, dass nach dem Generalstaatsanwalt untersteht und die vermissten Menschen suchen soll. Doch die Einheit besteht gerade einmal aus zwölf Ermittlern.

Inzwischen scheint das Verbrechen des Verschwindenlassens auch die Hauptstadt erreicht zu haben, die lange Zeit von diesen schlimmen Verbrechen verschont geblieben ist. Am 26. Mai wurden elf junge Leute aus dem Stadtteil Tepito aus einer Bar in dem Touristenviertel Zona Rosa entführt. Bis heute tappt die Polizei über die Hintergründe des Verbrechens im Dunkeln. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.hrw.org/reports/2013/02/20/mexicos-disappeared
http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR41/025/2013/en^
http://www.ipsnews.net/2013/06/mexicos-institutions-overwhelmed-by-scale-of-forced-disappearances/
http://www.ipsnoticias.net/2013/06/instituciones-mexicanas-desbordadas-por-tragedia-de-desaparecidos/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2013