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PARTEIEN/140: Links leben (spw)


spw - Ausgabe 6/2014 - Heft 205
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Links leben

von Moritz Deutschmann und Charlotte Rosa Dick



"Mit den Arschlöchern von der CDU koaliere ich nicht." Das sagte einmal Regine Hildebrandt. Sie sprach damit etwas aus, was viele Jusos, immer wenn sich die Debatte um eine große Koalition dreht, schnell denken.

Sicher, dieser Satz mag nicht auf Zustimmung aller Jusos stoßen, da das Pro oder Contra zu einer Koalition für viele immer, berechtigter Weise, ein langer Abwägungsprozess ist. Alle Parteimitglieder stellten sich vor dem Mitgliederentscheid letztes Jahr die Frage: "Welche unserer Forderungen könnten umgesetzt werden?" Der Mindestlohn, Verbesserungen beim Doppelpass, die Frauenquote? Ein Schluss, der auch den ein oder die andere Juso im Mitgliederentscheid für die Koalition mit CDU/CSU stimmen ließ.

Dennoch steht der Satz von Regine Hildebrandt stellvertretend für eine Stimmung, die viele Jusos in der SPD auch ein Jahr nach dem deutlichen Votum für den Koalitionsvertrag immer noch so unterschreiben würden.

Aber warum ist das so? Die SPD macht in den Augen vieler Genossinnen und Genossen (und wenn man der Meinung mancher Berichterstatter folgt) ihre Sache doch gar nicht so schlecht. Sie ist "der Motor der großen Koalition", wird Sigmar Gabriel nicht müde, zu betonen. Sie kann zentrale Projekte umsetzen und so real etwas an der Lebenswirklichkeit vieler Bürgerinnen und Bürger verändern. Der Mindestlohn kommt, die Rente wird umgestaltet und die Frauenquote ist bald nicht mehr reines Wunschdenken. Dennoch, die SPD muss sich mit teils schmerzhaften Kompromissen arrangieren, mit denen sie sich eigentlich nicht abfinden darf. Dazu gehören ein Mindestlohn, der durchlöchert ist von Ausnahmen, eine Frauenquote, bei deren Nichteinhaltung bislang keine Konsequenzen vorgesehen sind, die Einstufung Bosniens, Serbiens und Mazedoniens als sichere Herkunftsländer, unzureichende Fortschritte in der Umweltpolitik sowie keine konsequente Politik, wenn es um Waffenexporte geht.

Unsere Generation hat keinen Bock auf eine Politik ohne Visionen, eine Politik, die an unserer Lebensrealität vorbei geht. Die SPD schafft es nicht, unabhängig von der Koalition, die Lebensrealität unserer Generation zu erkennen und diese konsequent zu verbessern. Es fehlt an überzeugenden politischen Lösungen. Die SPD übersieht entscheidende Fragen und Entwicklungen.

Um linke Politik zu machen, müssen wir uns und unser Handeln immer wieder hinterfragen und vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen in der Gesellschaft auf den Prüfstand stellen. Uns stellen sich die Fragen: "Wie sieht ein linker Gesellschaftsentwurf aus? Was ist gutes Leben? Was ist gutes, linkes Leben?". Wir Jusos stellen diese Fragen stellvertretend für unsere Generation.


Wieviel Wir braucht das Ich?

Wir müssen uns als Jusos und als SPD programmatisch weiterentwickeln - völlig unabhängig von der aktuellen Regierungskoalition. Diese Entwicklung entsteht aber nicht nur durch Parteitagsbeschlüsse und Wahlprogramme. Wir müssen die entscheidenden Fragen unserer Zeit identifizieren, ihre Hintergründe beleuchten, sie diskutieren und Antworten finden. Diese Antworten dürfen aber nicht nur für morgen reichen, sondern müssen Antworten für die nächsten zwanzig Jahre liefern. Sie müssen einen modernen linken Gesellschaftsentwurf vom Guten Leben formen.


Was sind diese Fragen und wem stellen wir sie?

Das neoliberale Dogma, Probleme seien am besten individuell zu lösen, prägt unsere Zeit. Es geht darum, was der oder die Einzelne in seinem/ihrem eigenen Leben verbessern kann. Unsere Gesellschaft individualisiert sich. Wir sind uns immer mehr selbst die Nächsten. Es scheint, wir müssten es sein.

Es reicht uns aber nicht, nur jedem Menschen gleiche Chancen einzuräumen und auf das Prinzip der Eigenverantwortung zu setzen! Und damit sind wir nicht alleine. Das Gute Leben, das unsere Generation fordert, kann niemals nur Aufgabe eines Individuums sein. Finanzielle Sicherheit und beruflicher Erfolg, Work-Life-Balance, Zeit für Familie und Freunde kann sich kein Mensch alleine erkämpfen.

Unsere Gesellschaft verändert sich, bringt neue Herausforderungen. Wir stellen uns dem.

Guckt man sich die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre an, ist eine der Hauptveränderungen schnell identifiziert: die Digitalisierung der Gesellschaft. Sie stellt uns vor immer neue Herausforderungen. Sie erleichtert Arbeitsprozesse und birgt ein riesiges Potenzial. "Das Internet ist ein Ur-Sozialdemokratisches Projekt", schrieb Nico Lumma in der letzten Ausgabe unseres Juso-Verbandsmagazins Update (Vgl. Update 14.2). Und damit hat er Recht! Die Digitale Gesellschaft ermöglicht uns kreative Entfaltung, erleichtert Kommunikation und vernetzt alle Teile der Welt miteinander. Sie ist eine riesige Chance, um eine gerechtere Gesellschaft zu erkämpfen.

Sie birgt aber auch viele Probleme. Die Digitale Teilung der Gesellschaft wird immer deutlicher. Wohnort, Alter und finanzielle Mittel haben erheblichen Einfluss darauf, wie ich mich an der Digitalen Gesellschaft beteiligen kann. Viele Teile des Internets monopolisieren sich, Datensammler wollen alles über uns wissen, Cyberkriminalität nimmt zu. Daneben treten immer neue Probleme auf, die wir offline gar nicht kannten. Eine teils beängstigende Anonymität, eine Entfremdung tritt auf. Viele fragen sich: "Bin ich im Internet noch ich? Bin ich allein? Gibt es noch ein Wir?". Doch liefert die SPD hier noch nicht die Antworten, die diesen Fragen begegnen.

Auch in anderen Lebensbereichen, beispielsweise in der Bildung, kommt es immer mehr auf uns selbst an. Über unserer Generation hängt ein erheblicher Erwartungsdruck. G8, Bachelor-Master, verkürzte Ausbildungsgänge. Alle müssen schneller und besser sein. Probleme sollen nicht gemeinschaftlich gelöst werden, sondern Du musst es alleine schaffen. Schaffst Du die Schule nicht, oder schmeißt dein Studium hin, hast Du versagt! Dass es an Leistungs- und Zeitdruck liegen könnte, die uns eine kapitalistische Gesellschaft aufdrücken, wird als Antwort nicht zugelassen. Es fehlt an Anerkennung und die Chance auf Selbstentfaltung. Wir werden in ein Korsett gepresst, das uns die Gesellschaft vorgibt. Wir wollen nicht ständig mit der Angst zu versagen rumlaufen und abhängig sein von dem, was uns die Gesellschaft hinwirft.

Deshalb kämpfen wir für echten gesellschaftlichen Fortschritt. Diesen Fortschritt kann es nur mit Gerechtigkeit geben. Wir müssen uns die politischen Rahmenbedingungen zur Erfüllung unserer Ziele erkämpfen. Das geht nur, wenn wir alle gemeinsam kämpfen.

Über diesen Fortschritt, diese Herausforderungen werden wir Jusos im kommenden Jahr diskutieren. Wir fragen uns und alle anderen: "Was ist gutes Leben? Und was ist gutes Leben für alle, wenn gut immer etwas anderes ist? Wie können wir den Begriff der Solidarität wieder bedeutsam machen? Was ist unser Zukunftsentwurf für eine solidarische und selbstbestimmte Gesellschaft?"

In unserer Kampagne Links Leben wollen wir in verschiedenen Formaten zusammenkommen und unsere Idee, unsere Forderungen nach einem guten, linken Leben entwickeln. Es wird online diskutiert. Es gibt einen Videowettbewerb, wir treffen uns im ganzen Land verteilt in Zukunftswerkstätten und stellen uns diesen Fragen. Der Höhepunkt wird das Sommercamp sein. Dort werden wir vier Tage lang gemeinsam links leben und die Diskussionen der vorhergegangenen Wochen und Monate zusammenführen und unsere Vision für ein gutes linkes Leben, einen zukunftsfähigen Gesellschaftsentwurf präsentieren. Aber nicht nur als Jusos. Wir wollen über den Verband hinaus mit Partnerinnen und Partnern, mit Nicht-Mitgliedern und anderen gesellschaftlichen Akteuren zusammenkommen. Wir Jusos vertreten eine Generation, die ein anderes Leben will.

Mit dieser Kampagne gehen wir einen Schritt, den keine andere politische Jugendorganisation beschreitet. Uns reicht es nicht, nur die aktuellen Fragen unserer Zeit ad hoc zu lösen. Wir streiten für einen Gesellschaftsentwurf, der unser aller Leben verbessert. Wir stellen Fragen und werden gemeinsam Antworten finden. Das birgt auch eine riesige Chance für die SPD. Unsere Kampagne zeichnet einen Gesellschaftsentwurf, der sozialdemokratische Politik in den nächsten zwanzig Jahren beeinflussen wird. Es wird eine sozialdemokratische Politik sein, die die Sorgen, Hoffnungen und die riesigen Potenziale junger Menschen anspricht und unsere Gesellschaft verändern kann.


Charlotte Rosa Dick ist stellv. Bundesvorsitzende der Jusos.
Moritz Deutschmann ist stellv. Bundesvorsitzender der Jusos.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2014, Heft 205, Seite 54-56
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2015


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