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PARTEIEN/188: Die Arbeit der Zuspitzung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2019

Die Arbeit der Zuspitzung
Ein vielversprechender Aufschlag von Carsten Brosda

von Thomas Meyer


"Die Arbeit der Zuspitzung", das war nicht nur der Titel eines bekannten Buches von Peter Glotz, sondern auch die beste Überschrift für die Lebensleistung dieses langjährigen Vordenkers der SPD, der gleichzeitig Spitzenpolitiker, Publizist, Kommunikationswissenschaftler und Chefredakteur (der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte) war. Er hat diese unterschiedlichen Perspektiven in seinem Denken und Handeln auf einzigartige Weise verschmelzen. Während Erhard Eppler, der andere große sozialdemokratische Vordenker dieser Epoche, vor allem die grundlegenden Konzepte seiner Partei mit Programmen und Denkschriften in den wichtigsten Zukunftsfeldern wie Steuerpolitik, Abrüstung, Frieden und Ökologie geprägt hat, sorgte Peter Glotz mit unerschöpflichem Einfallsreichtum und medialer Dauerpräsenz dafür, dass seine Partei in der öffentlichen Aufmerksamkeit stets auf Augenhöhe mit den neuesten Diskursen und Herausforderungen war, oft war er den Debatten sogar einen Schritt voraus. Kein Wunder daher, dass es ihm - zusammen mit Willy Brandt - als Gründer des "Kulturforums der Sozialdemokratie" 1983 und als dessen langjährigem Vorsitzenden gelang, die maßgeblichen mitte-linken Sozialwissenschaftler, Künstler und Intellektuellen der Zeit im kulturellen Orbit seiner Partei zu versammeln. Viele wirkten dann mit ihrer Kritik oder Unterstützung als Botschafter der sozialdemokratischen Ideen in der Gesellschaft. Dabei hat er sich außer auf das direkte Gespräch zwischen den "Kulturschaffenden" und Politikern vor allem auf die beiden Kulturmedien öffentliche Debatte und Sachbuch gestützt, beide in steter Wechselwirkung. Fast alle großen Themen, um die es ging, hat er im Frühstadium ihrer Karriere im mitte-linken Geist zugespitzt. Sie haben bis heute ihre Prägekraft nicht verloren: Zivilgesellschaft und ziviler Ungehorsam, eine Verfassung für Europa, die Erneuerung der europäischen Linken, Neubelebung der Aufklärung, alte und neue Medien, Bedingungen einer linken kulturellen Hegemonie, digitaler Kapitalismus und die neuen Kulturkämpfe, die er auslöst. Bis heute aktuelle Themen.

Glotz' Eingriffe erschöpften sich nie in ihrer beträchtlichen Tageswirkung. Ihr weit gespannter Wirkungsbogen entsprang dem besonderen Gespür des Autors für die Verknüpfung der drei Zutaten einer guten Debatte: den richtigen Zeitpunkt, die Vertrautheit mit den aktuellen sozialwissenschaftlichen Publikationen und die Kunst der anregenden und Neugier weckenden Zuspitzung. Weil er die Medien bestens verstand, konnte er sich ihrer wirksam bedienen. Da die SPD, Gott sei's geklagt, eine überaus vergessliche und denkfaule Partei ist, wo es auf die Erinnerung an geleistete Vorarbeiten und die Kontinuität der Ideen und ihrer Vermittlung ankommt (etwa bei der Nutzung und Fortführung ihrer großen weltbildstiftenden Parteiprogramme), und da sie auch nicht zum Eifer bei der Nutzung der gewichtigen aktuellen Orientierungshilfen aus den eigenen Reihen neigt (sehr innovativ etwa jener der Grundwertekommission mit Wolfgang Thierse und Gesine Schwan), hat Glotz' früher Tod 2005 im öffentlichen Bild der SPD eine umso spürbarere Lücke hinterlassen. Der mediale Platz der Sozialdemokratie, den er immer eindrucksvoll gefüllt hatte, konnte weder durch gute Regierungsarbeit, soweit sie gelang, noch durch die kompetente Arbeit an tragfähigen Zukunftsideen ihrer hochkarätig besetzten Kommissionen (siehe oben) besetzt werden.

Nun hat sich mit Carsten Brosda eine Stimme zu Wort gemeldet, die in Anklängen an Glotz erinnert. Auch er ein erfahrener Journalist, Kenner der neuen Medien, Kultursenator in Hamburg und jetzt auch Vorsitzender des Kulturforums der SPD. Er hat ein äußerlich kleines Buch vorgelegt, das es in sich hat. Darin führt er die aktuell ergiebigsten Medien-, Parteien- und Politikanalysen der Sozialwissenschaften zusammen und spitzt sie handlungsorientiert für eine neue Standortbestimmung der SPD zu. Er legt die Instrumente bereit, mit denen sich die Sozialdemokratie, voran ihre neue Partieführung, das viel gesuchte sozialdemokratische Narrativ maßschneidern könnte, um wieder in die öffentliche Diskurs-Offensive zu gelangen. Der etwas sperrige Buchtitel Die Zerstörung. Warum wir für den gesellschaftlichen Zusammenhalt streiten müssen deutet an, dass sich sein Text so als die überfällige Antwort auf die auch die SPD betreffende Zerstörungspolemik des YouTubers Rezo versteht, die ohne ernstzunehmende Antwort ihrer Adressaten geblieben ist.

Brosda untersucht zunächst die real stattfindenden "Zerstörungen" in den für die Politik maßgeblichen Gesellschaftsbereichen, bevor er aus den Ergebnissen den Stoff für den "Wiederaufbau" eines zeitgemäßen sozialdemokratischen Politikentwurfs destilliert. Die "Zerstörung des öffentlichen Gesprächs" resultiert, wie er zeigt, aus dem enormen Bedeutungszuwachs der sozialen Medien und ihrer Manipulation durch die großen Betreiber. Diese fragmentieren und emotionalisieren die große Öffentlichkeit bis hin zum gesellschaftlichen Kommunikationsinfarkt. Sie ersetzen keineswegs, wie viele denken oder vorgeben, die klassischen journalistischen Mittler durch eine unvermittelte Verständigung an der Basis. Vielmehr ermächtigen sie neue, anonyme und nicht kritisierbare Mittler, die ominösen Algorithmen, die Kontrolle über den Fokus unserer Aufmerksamkeit und die Führung unserer Gespräche zu ergreifen. Sie sind alles andere als "bloß Technik", sondern zweckgerichtet programmierte Manipulatoren, die stets das Extravagante, Schrille prämieren und damit der besonnenen Argumentation als Kern der Demokratie den Boden entziehen. Sie zu durchschauen und in ihrer Wirkung zu neutralisieren, ist die Voraussetzung für die Verbreitung eines neuen demokratischen Gesprächs. Das erfordert die Durchsetzung eines aktiven, diskursiven Journalismus - online und offline - gegen die großen Konzerne, der die medienvermittelten Gespräche moderiert und dafür ein starkes gesellschaftliches Mandat erhält.

Der Zerstörung der Mitte und der offenen Gesellschaft sowie der Art, wie die Zerstörung des Planeten politisch verhandelt wird, liegt dem Autor zufolge eine Überwältigung der Gesellschaft durch fundamentale Ängste zugrunde. Diese sind zwar im Kern berechtigt, werden aber infolge ihrer einseitigen Verarbeitung und unverantwortlichen Aufheizung durch Akteure an den politischen Rändern nur noch als destruktive und spaltende Energien wirksam. Die Grünen bilden den einen Pol der neuen Polarisierung, indem sie die Angst vor der Zerstörung des Planeten vermeintlich emotional überhitzen und das Umweltthema aus seinen sozialen Bezügen herauslösen. Die rechten Populisten von der AfD verschärfen die Ängste vor der wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt durch Migration maßlos. Es sind Ängste, die sich vor allem auf die Zukunft richten und daher auch von Leuten geteilt werden, denen es heute gut geht. Der Rechtspopulismus lebt von der "Kulturalisierung sozialer und ökonomischer Konflikte" und der politischen Instrumentalisierung der Ungewissheit über das, was kommt. Beide Randpositionen nutzen die von ihnen hochgezüchteten wirklichen Ängste für das Angebot einer neuen Solidarität durch Ausgrenzung der Anderen und für die Erzeugung von Scheinsicherheit durch simple Weltbilder. Die grüne Erlösungsideologie erfasst die kosmopolitischen Eliten in den Großstädten, die Vielfaltsfeindschaft der AfD findet ihre Anhänger eher auf dem Land und in den kleinen Städten, aber beileibe nicht nur unter den sozial Abgehängten, sondern bis weit hinein in Teile der verunsicherten Mittelschichten.

Diese Zuspitzung geht allerdings eine Drehung zu weit, wenn nicht hinzugefügt wird, dass die radikalen Pole dieses Modells als idealtypische Fluchtpunkte in der sozialen Realität nur sehr kleine Randgruppen erfassen, während sich im großen politischen Feld ihres abgeschwächten Einflusses - viel mehr bei den Grünen als bei der AfD - vor allem Menschen finden, für die das jeweilige Bedrohungsszenarium nur noch in unterschiedlichen Graden der Relativierung und der demokratischen Mäßigung gilt. Bei den Grünen und den Milieus, die sie repräsentieren mag es noch viel elitäre Überheblichkeit geben, aber 30 Jahre nach Rudolf Bahro kaum noch Anflüge demokratieskeptischer Selbstermächtigung. Letztere ist aber in problematischer Weise gerade für einen ansehnlichen Teil der AfD kennzeichnend. Damm wäre die Vorstellung einer Äquidistanz der SPD zu den beiden kulturell-politischen Welten irreführend.

Die Mitte, das angestammte Territorium der beiden Volksparteien, wird zwischen diesen Polen zerrieben, obgleich beide nicht über realisierbare politische Projekte verfügen, mit denen sie ihre mobilisierenden Versprechen auch einlösen könnten. Denn sowohl eine reine Umweltpolitik ohne soziale und ökonomische Rücksichten, d. h. ernüchternde Kompromisse, wie auch die Vorstellung, eine Gesellschaft ohne Vielfalt sei wünschenswert und möglich, sind nur zweckgerichtete Illusionen.

Was hindert nun aber die Sozialdemokratie, diese Illusionen bloßzustellen und für eine Politik erfolgreich zu werben, die stattdessen auf die Interessen der Anhänger beider Seiten glaubwürdig eingeht? Brosdas Analyse enthält schon die Bedingungen für die bessere Alternative. Diese muss am berechtigten Kern der so unterschiedlichen Ängste auf beiden Seiten anknüpfen, ein wertbegründetes Angebot für eine neue gesellschaftliche Solidarität zum Ausgang nehmen, das in der Sache und emotional überzeugt und verlässliche Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Welt bietet: Ein solches Gesprächsangebot "verortet Solidarität in der Fähigkeit zum Gespräch einer an einem Ort lebenden Gruppe und kann auf diese Weise den notwendigen Gruppenzusammenhalt gleichermaßen offen und inklusiv wie klar konturiert und identitätsstiftend halten. Die solidarische Gruppe ist schließlich kein vorsozial gegebener Zusammenhang, sondern muss im gesellschaftlichen Kontext vernünftig miteinander kommunizierender Bürgerinnen und Bürger stets neu geschaffen werden". Es geht dem Autor also (mit einem Zitat von Andreas Zick) um "Zusammenhalt ohne Ausgrenzung". Damit schlägt er eine tragfähige Brücke zwischen den Gesprächsbereiten und Kompromissfähigen auf beiden Seiten des neuen Grundkonflikts. Die Arbeit an einer "neuen" politischen Mitte, in der die SPD wieder eine Schlüsselrolle spielt, ist nicht nur möglich, sie ist für die Zukunft der Demokratie auch nötig. Hier berührt sich der Essay mit der Botschaft des großen 2010 verstorbenen amerikanischen Sozialdemokraten Tony Judt: Wenn überall auf der Welt die Rechtspopulisten und Extremisten die liberale Demokratie unterminieren und mit erstaunlichem Erfolg für die Rückkehr zur autoritären Herrschaft werben, dann müssen die Parteien der linken Mitte offensiv in Erinnerung rufen, dass eine soziale, Sicherheit und Freiheit gewährleistende Demokratie das wirksamste Gegenmittel gegen das Wuchern von Ängsten und autoritären Versuchungen darstellt.

Brosda schließt mit der Diskussion der Bedingungen, die ein überzeugendes sozialdemokratisches Narrativ erfüllen muss, wenn es Mehrheiten mobilisieren will: "Ein sozialdemokratischer Fortschrittsbegriff beginnt bei einer Beschreibung der Welt, wie sie ist - mit ihrer wachsenden Ungleichheit, der Aushöhlung der Demokratie, dem Raubbau an der Natur und der falschen Versprechen, dass sich individuelle Teilhabe an der Teilhabe am Konsum misst. Dem folgt die Verbindung eigener politischer Instrumente mit dem Ziel einer menschlichen Gesellschaft. Schließlich ist eine Abgrenzung von den implizit oder explizit formulierten Fortschrittsentwürfen anderer Parteien notwendig." Diese Erzählung muss an die in der Gesellschaft tatsächlich virulenten Ängste anschließen, vor allem auch bezogen auf die Naturzerstörung anknüpfen, und für eine Politik stehen, die soziale Teilhabe mit Sicherheit verbindet. Sie muss aber auch an den aktuellen Diskurs über Heimat anschließen, und zeigen, wie aus der neuen Vielfalt heraus ein gemeinsames Verständnis des Miteinanders in einer freien und offenen Gesellschaft werden kann. Das gemeinsame Stichwort für alle Bausteine einer solchen Erzählung ist ihre Fundierung in klar erkennbaren Grundwerten und ihr Beitrag zur Neubegründung gesellschaftlicher Solidarität. Ihre Methode ist, auf dieser Grundlage Brücken zu bauen zwischen den für gute Argumente erreichbaren Menschen auf beiden Seiten der falschen Konfliktlinien. Zu wünschen ist, dass der Autor die Gedanken dieses gewichtigen Buches zur Grundlage für eine beständige Präsenz im öffentlichen Gespräch über die Zukunft der Sozialdemokratie nutzt.


Carsten Brosda: Die Zerstörung. Warum wir für den gesellschaftlichen Zusammenhalt streiten müssen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, 176 S., 18 EUR.


Thomas Meyer

ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der NG/FH. 2015 erschien in der edition suhrkamp: Die Unbelangbaren: Wie politische Journalisten mitregieren.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2019, S. 51 - 54
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
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Telefon: 030/26 935-7151, -52, -53, Telefax: 030/269359238
Internet: www.ng-fh.de, E-Mail: ng-fh@fes.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Februar 2020

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