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REDE/974: Steinmeier zur aktuellen Lage in der Türkei vor dem Deutschen Bundestag, 10.11.2016 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, in der Debatte zur aktuellen Lage in der Türkei vor dem Deutschen Bundestag am 10. November 2016 in Berlin:


Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Welt ist vorgestern Nacht nicht einfacher geworden. Die Sorgen vieler Menschen sind eher größer geworden, und das in einer Zeit, in der die Welt wahrlich genug Anlass zur Sorge hat. Einer dieser Anlässe ist die sich seit Monaten zuspitzende Lage in der Türkei, über die wir heute sprechen und diskutieren können. Ich danke für die Initiative aus den Fraktionen zu dieser Vereinbarten Debatte, nicht nur, weil wir unsere Sorgen ausdrücken wollen über Entlassungswellen, Inhaftierungen, Repressalien, sondern weil wir auch über Konsequenzen in unserem Handeln nachdenken müssen. Ich würde mich freuen, wenn wir es uns dabei nicht zu einfach machen, indem wir entweder diskutieren längs eigener Vorurteile oder Feindbilder gegenüber der Türkei oder Erdogan oder aber nach dem Grundsatz: Ich habe es schon immer gewusst. - Die einfachen Lösungen, die ohnehin selten sind, stehen uns im Falle der Türkei, liebe Kolleginnen und Kollegen, erst recht nicht zur Verfügung.

Ich schlage vor, dass wir zunächst einmal anerkennen: Die Türkei erlebt stürmische und bedrohliche Zeiten; und das erleben nicht in erster Linie wir in Deutschland, sondern das erleben vor allen Dingen die Menschen in der Türkei. Viele Menschen dort leiden unter den seit Wochen wachsenden Spannungen, machen sich Sorgen um die Richtung, die das Land einschlägt. In Deutschland haben viele Mitbürger Verwandte, Familie, Freunde in der Türkei. Natürlich geht ihnen allen die Unruhe in der Türkei noch viel näher, und sie leiden mit.

Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns zu Anfang gemeinsam Solidarität zeigen: Wir Deutschen stehen an der Seite der Menschen in der Türkei, und wir wollen alles tun und dazu beitragen, die türkische Demokratie zu festigen.

Es sind bedrohliche Zeiten für die Türkei in gleich mehrerer Hinsicht: Direkt an den Außengrenzen der Türkei toben die schwersten Konflikte unserer Zeit. Rund drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien hat die Türkei aufgenommen. Die inneren Spannungen des Landes sind weiter ungelöst. Die Versöhnungsversuche der letzten Jahre sind dahin. Der Brückenbau zum kurdischen Südosten ist abgebrochen. Und dann im Juli der Putschversuch, der die Türkei erschüttert hat, ein Angriff auf das Herz der türkischen Demokratie. Es ist ein Glück, dass dieser Versuch schnell gescheitert ist. Wir trauern um die Opfer der Putschnacht, und wir bewundern die vielen, vielen couragierten Menschen in der Türkei, die in dieser Nacht die Verfassung und die demokratischen Institutionen verteidigt haben.

Natürlich wissen wir um die terroristische Bedrohung. Der sogenannte "Islamische Staat" hat in den letzten Monaten mehrfach in der Türkei zugeschlagen und viel zu viele Menschenleben gekostet, unter ihnen auch elf Deutsche in Istanbul am Anfang dieses Jahres.

Noch viel mehr Menschen in der Türkei leben in der ständigen Angst vor den perfiden Waffen des Terrors. Unsere Haltung ist klar und unmissverständlich: Wir verurteilen den Putschversuch. Was geschehen ist, muss aufgearbeitet werden: politisch und auch strafrechtlich; keine Frage. Wir verurteilen jede Form des Terrorismus und gehen mit allen Mitteln des Rechtsstaates gegen terroristische Strukturen vor, inklusive der PKK. Das ist und das bleibt unsere Haltung. Deshalb kann ich die anderslautenden öffentlichen Vorwürfe meines türkischen Kollegen nicht nachvollziehen. Ich weise sie entschieden und mit Nachdruck zurück, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Aber wenn wir die aktuellen Turbulenzen in der Türkei analysieren, dann müssen wir eben auch fragen, ob das, was wir jetzt beobachten, ob der Personenkreis derjenigen, die jetzt verfolgt werden, wirklich noch im Zusammenhang mit dem Putschversuch oder dem Terrorismus steht. Vor allem müssen wir fragen, ob das Vorgehen der türkischen Regierung mit den Mindeststandards rechtsstaatlicher Verfahren vereinbar ist. Auch darüber müssen wir heute debattieren und mit der Türkei notfalls darüber streiten.

All die Stürme, all die Turbulenzen, die die Türkei erlebt, deuten in meinen Augen am Ende ganz klar auf eines hin: Die Türkei steht an einer Wegscheide. Es geht um die Richtung des Landes: entweder hin nach Europa oder weg von Europa, hin zu einer verfassten Demokratie, inklusive einer respektierten parlamentarischen Opposition, oder weg von ihr.

Ich glaube, wir sollten an dieser Wegscheide ein deutliches Signal an die Türkei senden, und das Signal heißt: Wir stehen für die europäische Bindung der Türkei. Wir wollen die europäische Bindung der Türkei. Und wenn ich mir die Krisen und Konflikte in der Nachbarschaft der Türkei anschaue, dann sage ich als Außenminister ganz offen: Wir brauchen die europäische Bindung der Türkei.

Wenn wir einen nüchternen Blick auf die Fakten werfen, dann stellen wir fest: Die europäische Bindung liegt auch im Interesse der Türkei, ob wir über die wirtschaftlichen Verbindungen nach Europa und Deutschland reden oder über Sicherheit. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so klar diese Fakten, so klar unsere Signale sein mögen: Die Verantwortung für die Richtung, die die Türkei nimmt, liegt allein in der Türkei und nirgendwo anders.

Die letzten Wochen haben uns leider gezeigt, dass die Entscheidungen und Maßnahmen der türkischen Führung und auch die rhetorische Eskalation gegenüber engsten Partnern wohl in eine andere Richtung weisen. Ja, wir wünschen uns gute Beziehungen zur Türkei, aber die Realität hat sich verändert, und darauf müssen wir unsere Politik ausrichten.

Das hat aus meiner Sicht zwei Seiten:

Wir lassen die politische Führung dort nicht aus der Verantwortung. Wir suchen weiterhin und gerade jetzt noch intensiver das Gespräch mit der Regierung. Nächsten Dienstag werde ich zu politischen Gesprächen nach Ankara reisen. Die Sorgen über das, was in der Türkei passiert, betreffen am Ende nicht nur unser bilaterales Verhältnis, sondern sie betreffen die vielen internationalen Institutionen, in denen wir mit der Türkei verbunden sind. Auch da gehören die Themen hin; denn viele der internationalen Bündnisse sind nicht einfach nur Zweckbündnisse, sondern sie sind auch Wertebündnisse. Das ist natürlich der Europarat, das ist aber auch die NATO. Wenn wir die politische Führung in der Türkei in Verantwortung einbinden wollen, dann müssen wir auch diese Foren für kontroverse Debatten nutzen, um wenigstens unseren Standpunkt gegenüber der Türkei klarzumachen.

Deshalb gehört in diesem Zusammenhang, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ein Wort zum Verhältnis der Türkei zur EU. Natürlich - das haben Sie, ich, wir alle miteinander erlebt - kriegen Sie als Politiker am leichtesten Beifall, wenn Sie in jedes Mikrofon "Abbruch aller Gespräche" sagen. Die Frage ist nur: Ist das klug? Sollten wirklich wir diejenigen sein, die jetzt die Tür zuwerfen? Klar ist doch: Wenn die Türkei die Todesstrafe wiedereinführen sollte, dann ist das unmissverständlich das Ende der Beitrittsgespräche. Aber zugleich weiß ich doch: Wenn wir jetzt die Tür zuschlagen, den Schlüssel wegwerfen, dann enttäuschen wir viele Menschen in der Türkei, die gerade jetzt Hilfe suchend nach Europa schauen und auf Unterstützung hoffen. Deshalb ist das meiner Meinung nach eben nicht der klügste Weg.

Der Dialog mit der politischen Führung ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Zivilgesellschaft. Wenn die Zivilgesellschaft in ihrer Existenz bedroht ist, dann ist die Demokratie in ihrer Existenz bedroht. Das ist unsere Erfahrung. Gerade wir Deutsche wissen, wie unendlich wichtig die rechtsstaatlich garantierten Freiräume für Journalismus, Kultur und Wissenschaft sind. Wir wissen auch, wie gefährlich es ist, wenn diese Freiräume unablässig beschnitten werden. Deshalb will ich heute ein Bündel an Maßnahmen vorschlagen, um der türkischen Zivilgesellschaft den Rücken zu stärken.

Erstens. Wir wollen versuchen, verfolgten Wissenschaftlern, Kulturschaffenden und Journalisten, die in der Türkei nicht mehr arbeiten können, hier in Deutschland die Weiterarbeit zu ermöglichen. Wir wollen die Stipendien der Philipp-Schwartz-Initiative für türkische Forscher deutlich aufstocken, und wir wollen gemeinsam mit der deutschen Kultur- und Medienszene Möglichkeiten für türkische Journalisten und Kulturschaffende schaffen.

Zweitens. Wir setzen auf den Austausch unter jungen Menschen. Wir wollen die Deutsch-Türkische Jugendbrücke auch finanziell stärken.

Drittens. Wir wollen in der Türkei Freiräume für die Zivilgesellschaft schaffen. Wir wollen die Ernst-Reuter-Initiative neu beleben, und wir wollen beim Goethe-Institut dafür werben, dass es einen Ort für die Zivilgesellschaft in Diyarbakir eröffnet, also gerade in einer kurdisch geprägten Region, und das Modell auf Ismir und Gaziantep erweitert.

Viertens. Wir wollen mithelfen, dass die unabhängige und vielfältige Berichterstattung in der Türkei erhalten bleibt. Wir fördern mittlerweile diverse Onlinemedienprojekte, zum Beispiel das Nachrichtenportal eurotopics, das über aktuelle europäische Debatten auf Türkisch berichtet.

Schließlich werden wir unsere Rolle als Gastland der Istanbuler Buchmesse nutzen und uns gerade dort für die Freiheit des Wortes, für den Schutz von Kunst und Künstlern starkmachen.

Dieses Paket für die Zivilgesellschaft gehört jetzt genauso essenziell zu unseren Aufgaben wie der intensivierte Dialog, möglicherweise auch die Kontroverse mit der politischen Führung. Beides werde ich in der nächsten Woche, am kommenden Dienstag, in Ankara weiterverfolgen.

Zum Schluss will ich den Blick etwas weiten: Wenn wir auf die Türkei, aber auch auf die wachsenden Fliehkräfte bei uns in Europa und natürlich auf das Wahlergebnis sowie den Wahlkampf in den USA schauen, dann begleiten uns dabei in der Tat viele Sorgen. Aber wir sollten in unserer eigenen Haltung umso fester stehen. Wir wissen, auf welchen Werten wir stehen, und vor allem, welche politische Kultur wir uns erhalten wollen. Denn wir wissen: Aus Polarisierung und grenzenloser Konfrontation ist noch nie Gutes erwachsen. Das sagen wir auch unseren Freunden in der Türkei. Doch die Entscheidung über den Weg, die wird weiter in Ankara liegen.

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Quelle:
Bulletin Nr. 132-2 vom 10. November 2016
Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier,
in der Debatte zur aktuellen Lage in der Türkei vor dem Deutschen Bundestag
am 10. November 2016 in Berlin
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Telefon: 030 18 272-0, Fax: 030 18 10 272-25 55
E-Mail: internetpost@bpa.bund.de
Internet: www.bundesregierung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2016

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