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THEORIE/173: John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit - nach 40 Jahren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011

John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit - nach 40 Jahren

Von Julian Nida-Rümelin


Vor vier Jahrzehnten erschien das epochale Werk A Theory of Justice von John Rawls. Es wurde schnell ein Klassiker, in derselben Kategorie wie Platons Politeia, Aristoteles' Nikomachische Ethik, Hobbes' Leviathan, Lockes Second Treatise, Rousseaus Contract Social und Kants Zum ewigen Frieden.


A Theory of Justice erschien 1971, also auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte. Überall in den westlichen Universitätsstädten hatten die Studierenden aufbegehrt gegen eine entpolitisierte Wissenschaft, gegen den Vietnam-Krieg, gegen die Ungerechtigkeit in der Dritten Welt. Nichts hatten sie dabei stärker verändert als die Universitäten selbst. Aber auch das Ende des Vietnam-Kriegs war ein Triumph dieses Aufbegehrens. In A Theory of Justice ist dieses Aufbegehren nur am Rande und meist nur mittelbar zu spüren, etwa wenn sich John Rawls in zwei Paragraphen mit den Grenzen des Widerstandsrechts und der Weigerung aus Gewissensgründen befasst. Das Buch skizziert vielmehr eine "fast gerechte Gesellschaft" und diese Gesellschaft hat vieles mit den westlichen Demokratien gemein. Es handelt sich um Verfassungsstaaten mit vertrauten Institutionen wie Marktwirtschaft, Familie, Grundrechte. Dennoch liegt in dieser zeitlichen Koinzidenz ein wesentlicher Grund für den Erfolg dieses Werkes. Für die Studenten ging es auch um die grundsätzliche Frage, ob ihre Ziele im demokratischen Rahmen erreichbar sind, oder diesen sprengen. Rawls' Theorie gibt eine Antwort: Es ist der normative, politische und legislative Rahmen westlicher Demokratien, der Gerechtigkeit ermöglicht, ja der universelle Argumente für sich hat. Unter den Bedingungen der rationalen Wahl im Urzustand würden Repräsentanten von Gruppen zwei Prinzipien der Gerechtigkeit wählen: Das erste umfasst ein System gleicher maximaler Grundfreiheiten, zu dem Rede-, Versammlungs- und Religionsfreiheit gehören, und das zweite erklärt Ungleichverteilungen nur insofern für legitim, als sie der am schlechtesten gestellten Personengruppe zugute kommen. Man könnte sagen, Rawls gibt eine reformistische, sozial-liberale Antwort auf das Aufbegehren der Jugend.

Gerechtigkeit - das ist für Rawls, wie 2.500 Jahre zuvor für Platon, die oberste politische Tugend. Das gesamte politische Institutionsgefüge hat sich daran zu messen, es hat gerecht zu sein. Alle anderen normativen Aspekte sind Teil der Gerechtigkeit. Man könnte sagen, die Trias der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Solidarität - geht auf im Begriff politischer Gerechtigkeit.

Das Werk verfolgt drei Ziele, zwei davon benennt der Autor selbst: Eine Alternative zur damals noch dominanten ethisch-politischen Theorie des Utilitarismus zu entwickeln und die vertragstheoretische Tradition des politischen Denkens zu erneuern. Beide Ziele werden - mit einigen Abstrichen - erreicht. Das dritte Ziel wird nicht genannt, aber es ergibt sich aus der Logik des Gesamtoeuvres von John Rawls und von diesem Ziel kann man guten Gewissens sagen, es wird geradezu triumphal realisiert. Um sich das klar zu machen, müssen wir ein wenig ausholen: John Rawls ist zur Analytischen Philosophie zu zählen. Diese ist weniger durch inhaltliche Positionen, denn durch bestimmte philosophische Methoden charakterisiert. Sie versteht sich als systematisch, nicht als historisch, befasst sich nicht oder allenfalls am Rande mit Textexegese, und ist optimistisch, was die Lösbarkeit philosophischer Probleme angeht. In ihrer Frühphase ist sie zu großen Teilen positivistisch und weist der Philosophie die Rolle der logischen und wissenschaftstheoretischen Klärung von Fragestellungen zu, die in den Einzelwissenschaften aufgeworfen werden. Die Praktische Philosophie, die Ethik, die Politische Philosophie als normative Disziplinen darf es nach diesem Verständnis nicht geben.

John Rawls hatte sich in seiner ersten Aufsatz-Publikation mit der Frage befasst, wie eine ethische Theorie begründet werden könnte. Er entwickelt eine Entscheidungsprozedur (Outline of a Decision Procedure for Ethics, 1951), die sich anlehnt an übliche, in der Wissenschaftstheorie analysierte Verfahren der (induktiven) Theoriebildung. In A Theory of Justice wird das Überlegungsgleichgewicht, das reflective equilibrium präsentiert, das jede Theorie anstrebt oder jedenfalls anstreben sollte. Die Rawlssche Theorie, Gerechtigkeit als Fairness zu rekonstruieren, erhebt diesen Anspruch ein Gleichgewicht herzustellen, zwischen dem, was er als well considered moral judgements bezeichnet, also den wohlüberlegten normativen Urteilen hinsichtlich der Gerechtigkeit einerseits und der theoretischen Begründung, hier in Gestalt eines ursprünglichen Vertrages, andererseits. Rawls entwickelt eine substanzielle Theorie der Gerechtigkeit und stellt damit seine Kritiker vor eine unangenehme Alternative: Entweder sie lehnen das gesamte Unterfangen ab und können dann inhaltlich dazu nicht Stellung nehmen, oder sie nehmen dazu Stellung und akzeptieren damit implizit, dass es möglich ist, eine Theorie der Gerechtigkeit zu diskutieren. Mit der intensiven und kritischen Rezeption der Theory of Justice geht die Phase eines dominierenden ethischen Subjektivismus in der Analytischen Philosophie zu Ende.

Der Utilitarismus hatte dem Ansturm des analytischen Subjektivismus noch am ehesten standgehalten. Rawls will jedoch zeigen, dass der Utilitarismus in der normativen politischen Philosophie nicht überzeugen kann. Sein zentrales und überzeugendes Argument ist das der separateness of persons. Der Einzelne kann um eines späteren Vorteils willen heute einen Nachteil in Kauf nehmen. Aber der Vorteil des Einen rechtfertigt nicht die Benachteiligung des Anderen - es handelt sich ja um zwei getrennte Personen. Die theoretische Umsetzung dieses Argumentes ist der Rückgriff auf das Vertragsargument.

Rawls wollte die vertragstheoretische Tradition systematisch erneuern. Er bezog sich dabei am deutlichsten auf Immanuel Kant, aber auch Elemente von John Locke und Jean-Jacques Rousseau sind erkennbar. Das gemeinsame Grundmotiv der Vertragstheoretiker ist, dass jede Herrschaft gegenüber Allen gerechtfertigt werden muss. Es gibt keine Herrschaft von Natur. Eine legitime politische Ordnung muss daher im Interesse jedes Einzelnen sein. Nur eine allgemein zustimmungsfähige Ordnung kann als gerecht gelten. John Rawls steht dabei in der Tradition von Kant, weil der Vertrag als Test verstanden wird, weil die Zustimmung unter Bedingungen erfolgt, die nie realisiert sind. Es handelt sich um einen fiktiven Vertrag. Der Rawlssche Vertrag sichert Fairness, weil er so konstruiert ist, dass niemand benachteiligt werden kann. Er sichert gleiche Freiheit, weil die Ausgangsbedingungen diese garantieren.

Für John Rawls ist die gerechte Gesellschaft ein Kooperationsgefüge. Die Vorteile der Kooperation gilt es fair zu verteilen. Soziale Gerechtigkeit realisiert gleiche Freiheit. Es ist kein Zufall, dass die Theorie von John Rawls auf die Programmatik der Sozialdemokratie stärker eingewirkt hat als auf die anderer Parteien.


Julian Nida-Rümelin (* 1954) ist Professor der politischen Theorie und Philosophie an der Universität München und Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD, er war Kulturstaatsminister. Veröff. u.a. Demokratie und Wahrheit.

(Sekretariat.Nida-Ruemelin@lrz.uni-muenchen.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011, S. 23-24
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2011