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INTERNATIONAL/019: Argentinien - Vorbild für Europa, Raus aus der Finanzkrise (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. Dezember 2011

Argentinien: Vorbild für Europa - Raus aus der Finanzkrise

von Marcela Valente

Der Präsidentschaftssitz 'Casa Rosada' in friedlichen Zeiten. Während der Tumulte von 2001 war er umringt von Demonstranten - Bild: © Marcela Valente/IPS

Der Präsidentschaftssitz 'Casa Rosada' in friedlichen Zeiten. Während der Tumulte von 2001 war er umringt von Demonstranten
Bild: © Marcela Valente/IPS

Buenos Aires, 19. Dezember (IPS) - In den USA protestiert die Occupy-Wallstreet-Bewegung gegen die Vorherrschaft der Banken, und auch in deutschen Großstädten gehen Demonstranten auf die Straße, um ihrem Unmut über die Finanzpolitik Luft zu machen. In Argentinien brach das Finanzsystem bereits vor zehn Jahren zusammen, tausende Demonstranten besetzten die Straßen der größten Städte und vertrieben mit ihren Kochtopf-Konzerten die Mächtigen von ihren Stühlen. Seitdem wurde die Geschichte der Finanzpolitik in Argentinien anders fortgeschrieben.

Die Proteste in Argentinien eskalierten am 19. und 20. Dezember 2001 mit dem Tod von 40 Menschen und mehreren hundert Verletzten. Die Demonstranten protestierten gegen die jahrelang anhaltende Rezession, die Staatsverschuldung, die sich in allen Bereichen des alltäglichen Lebens bemerkbar machte und die horrenden Preise für Nahrungsmittel, die durch die Eins-zu-Eins-Bindung des Peso an den Dollar künstlich hoch gehalten wurden.

Im Dezember 2001 kollabierte schließlich das Wirtschaftssystem des Landes, zog das politische Aus nach sich und wirkte sich flächendeckend auch auf die Gesellschaft aus: 52 Prozent der rund 37 Millionen Argentinier lebten unterhalb der Armutsgrenze, 24 Prozent waren arbeitslos, und die Flughäfen waren voll mit jungen Leuten, die ihr Glück im Ausland suchen wollten.

Die Krise wirkte sich auf fast alle sozialen Schichten aus. Nicht nur den Armen, sondern auch der oberen Mittelschicht - so lange sie ihr Geld nicht längst abgehoben oder ins Ausland transferiert hatte - ging es schlecht. Die Menschen kamen nicht mehr an ihre Ersparnisse, da die Banken alle Konten eingefroren hatten und kein Geld mehr herausgaben. Weltweit waren Bilder zu sehen, wie Argentinier Supermärkte plünderten. In der Folge der sozialen Unruhen nahm Präsident Fernando de la Rúa noch im Dezember den Hut, und innerhalb von zehn Tagen konnte Argentinien vier Übergangspräsidenten vorweisen.

"Die Krise von 2001 war das Ergebnis der Anpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds aus den 90er Jahren", ist die Soziologin Norma Giarraca überzeugt. "Das sind die gleichen marktwirtschaftlichen Voraussetzungen, die heute der europäischen Wirtschaft zu schaffen machen." Giarraca ist Wissenschaftlerin am Gino-Germani-Forschungsinstitut der staatlichen Universität von Buenos Aires und Autorin des Buchs 'Zeiten der Rebellion: Haut alle ab!', das die sozialen Bewegungen in den Fokus stellt, die sich im Zuge des wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruchs in Argentinien im Jahr 2001 gründeten.


Zehn Prozent Wirtschaftswachstum

Doch dann ging es bergauf: Im Januar 2002 wurde Übergangspräsident Eduardo Duhalde ins Amt gehoben. Er stellte alle Zahlungen an ausländische Gläubiger ein und kippte die Bindung an den US-Dollar. Um völliges Chaos abzuwenden, führte er allerdings eine Bandbreite ein, in der sich der argentinische Peso gegenüber dem Dollar bewegte. Damit trug Duhalde zwar der Realität Rechnung, brachte aber zum einen die Gläubiger gegen die argentinische Regierung auf und zum anderen die Bevölkerung selbst, die nun ihre Ersparnisse, so sie noch welche hatte, auf ein Drittel abgewertet sah.

Doch die wirtschaftliche Erholung des Landes zeigte schließlich, dass die Maßnahmen gerechtfertigt waren: Seit 2003, als Néstor Kirchner von der Peronistischen Partei das Präsidentschaftsamt übernahm, wuchs die argentinische Wirtschaft jedes Jahr um stolze zehn Prozent - mit der Ausnahme von 2009, als die weltweite Finanzkrise auch Argentinien einholte und das Wachstum auf 0,9 Prozent drückte.

Kirchner sorgte auch dafür, dass Argentinien seine Schulden beim Internationalen Währungsfonds begleichen konnte: Ein Teil des Geldes wurde aus der Staatskasse bezahlt, ein anderer in venezolanische Schuldscheine umgeschrieben. Die Maßnahmen Duhaldes und Kirchners, die auch finanzielle Unterstützung für Arme und Arbeitslose beinhalteten, sorgten schließlich dafür, dass sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Zahl der Menschen unterhalb der Armutsgrenze unter zehn Prozent sank. "Argentinien hat die richtigen wirtschaftspolitischen Weichen gestellt", sagt Giarraca gegenüber IPS.

Allerdings: Die Forderung der Bevölkerung nach einem Austausch des politischen Personals hat sich nicht erfüllt. Die alten Eliten sind noch immer politisch aktiv, wie sich auch bei den Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr zeigte, als sich unter anderem Alberto Rodríguez Saá zur Wahl stellte, jüngerer Bruder des erfolglosen Übergangspräsidenten Adolfo Rodríguez Saá. Auch Duhalde trat noch einmal in den Ring. Beide erhielten aber nur eine geringe Anzahl der Stimmen.


Wohlstandsstaaten verschwinden

"Auch in den Industriestaaten in Europa und den USA hat die hohe Staatsverschuldung nun in eine Finanzkrise geführt", sagt Giarraca. Die Einkommensschere wird immer größer und die sozialen Spannungen nehmen zu. Für die Soziologin spiegelt die Occupy-Bewegung die Proteste der argentinischen Mittelschicht vor zehn Jahren wider. "Die Wohlstandsstaaten der 70er Jahre sind am Verschwinden."

Der Ökonom Julio Gambina, Präsident der Stiftung für Politik- und Sozialforschung in Argentinien, fordert Europa nun auf, dem argentinischen Beispiel zu folgen. Zum einen müssten geschwächte europäische Staaten wie Griechenland ihre Schuldzahlungen einstellen, zum anderen ihre Währung abwerten. "Das wird allerdings nicht ganz einfach." Die Staaten müssten dafür den Euro aufgeben und zu ihren nationalen Währungen zurückkehren, wie dies Griechenland bereits überlegt hatte und heftige Kritik der übrigen Euro-Länder einheimste.

Während die lateinamerikanischen Staaten mit eigenen Wirtschaftsunionen und politischen Gefügen wie der Anfang Dezember gegründeten 'Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten' versuchten, ihre Unabhängigkeit von den USA zu festigen, müssten sich die europäischen Staaten von der Hegemonie Deutschlands und Frankreichs befreien, so Gambina. "Deutschland und Frankreich führen Europa zu mehr sozialer Ungleichheit und sind verantwortlich für den sinkenden Wohlstand großer Teile der Bevölkerung." (Ende/IPS/jt/2011)


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http://www.celac.gob.ve/
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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2011