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FRIEDEN/1064: Angriff auf Gaza Freedom-Flottille - Zivilgesellschaft rührt an Machtinteressen (SB)



Mit dem Angriff auf die Gaza Freedom-Flottille hat die israelische Regierung ein blutiges Exempel an der größten Aktion der internationalen Zivilgesellschaft gegen die hermetische Abriegelung Gazas statuiert. Die Aktivistinnen und Aktivisten, die sich an Bord der ursprünglich neun mit 10.000 Tonnen Hilfsgütern beladenen Schiffe begeben haben, wußten in Anbetracht des israelischen Überfalls auf Gaza, daß ihr Engagement nicht ohne Risiko ist. Sie haben sich dennoch dazu entschlossen, die Blockade ohne die Rückendeckung staatlicher Regierungen zu durchbrechen, weil es das immer mehr vergessene Schicksal der Bevölkerung Gazas gebot.

Auch nach dem Massaker, das die israelischen Streitkräfte mit dem drei Wochen währenden Beschuß des kleinen Gebiets anrichtete, hat es für seine Bevölkerung kaum eine Linderung des Mangels gegeben, dem sie durch den bereits seit vier Jahren in unterschiedlichem Ausmaß vollzogenen Entzug ihrer materiellen Lebensgrundlagen ausgesetzt ist. Nach einer militärischen Attacke, vor der die Palästinenser nicht einmal fliehen konnten, weil es so gut wie keinen Ausweg aus dem von den Betroffenen häufig selbst als "Hölle" bezeichneten Gaza gibt, und die umfassende Zerstörungen an ihren Häusern, ihrer bescheidenen wirtschaftlichen Produktivität und ihrer Landwirtschaft hinterließ, hat sich die sogenannte internationale Gemeinschaft damit zufriedengegeben, den Angreifern die weitere Kontrolle über die Bevölkerung zu überlassen. Die engen politischen Beziehungen, die die USA und die EU zu Israel unterhalten, bestimmen die Ratio des Umgangs mit einer Besatzungsmacht, die diesen Status auch nach dem Abzug aus Gaza aufgrund der vollständigen Abhängigkeit seiner Bevölkerung von den Entscheidungen der israelischen Führung stets behalten hat.

Als Feigenblatt dienten den angeblich den Menschenrechten verpflichteten westlichen Regierungen Forderungen an die Gaza regierende Hamas, die auf reziproke Weise zu erfüllen Israel nicht abverlangt wurde und wird. Die diplomatische Boykottierung der islamistischen Partei nach ihrem Wahlsieg 2006 und die Isolation Gazas vertiefte die innerpalästinensische Spaltung zu Lasten der legitimen Forderung der Palästinenser nach Eigenstaatlichkeit. Indem die palästinensische Bevölkerung immer mehr in Flüchtlinge außerhalb Palästinas, in israelische Araber und in die Bevölkerungen Ostjerusalems, des Westjordanlands und Gazas auseinandergerissen wurde, nahm man ihr die gemeinsame Stimme, die sie benötigt, um ein auch nur annähernd vergleichbares Gewicht in Friedensverhandlungen mit Israel einbringen zu können.

Die offizielle Kriminalisierung der Hamas durch EU und USA führte zudem dazu, daß die Bevölkerung Gazas einer Kollektivbestrafung ausgesetzt und in Geiselhaft der politischen Interessen Israels und seiner Verbündeten genommen wurde. An den Bewohnern dieses dicht besiedelten, weitreichend von äußerer Versorgung abhängigen Gebiets wird die Unterwerfung des Menschen mit aller technokratischen und machtpolitischen Konsequenz vollzogen, die die Logik der Bevölkerungs- und Sozialkontrolle moderner staatlicher Verfügungsgewalt gebietet. Die Reduzierung des bürgerlichen Daseins unter dem permanenten Ausnahmezustand staatlicher Willkür auf das "nackte Leben", mit dem der italienische Philosoph Giorgio Agamben die totale Vereinnahmung des Menschen nicht nur als gesellschaftliches Subjekt, sondern auch als biologisches Wesen beschrieb, findet in der Negation der Lebensansprüche der Bewohner Gazas seinen adäquaten Ausdruck.

Dort geht es, das sei auch angeblichen Linken, die meinen, Israel gegen die angeblichen "Hamas-Sympathisanten" und "Antisemiten" der Freedom-Flottille verteidigen und die Macht, die aus den Gewehrläufen israelischer Angriffstruppen kommt, feiern zu müssen, ins Stammbuch geschrieben, nicht in erster Linie um einen Nationalitäten- oder Territorialkonflikt. Die elende Verfassung seiner Bevölkerung und die Prosperität der sie kujonierenden Besatzungsmacht repräsentiert den globalen Konflikt zwischen den mehrheitlich in den Ländern des Südens und Ostens lebenden Hungerleidern und den immer noch weit besser gestellten Bevölkerungen westlicher Metropolengesellschaften. Wenn das postmodern fragmentierte Subjekt überhaupt noch zu so etwas wie Klassenbewußtsein in der Lage sein sollte, dann kann es an dieser Stelle zweifellos fündig werden. Vom gegenseitigen Ausspielen verschiedener Bevölkerungen, die viel mehr miteinander verbindet, als sie erkennen sollen, im Zeichen eines angeblichen nationalen Interesses sind auch jüdische Israelis nicht frei, was um so tragischer ist, als die Tradition des Judentums auch eine ganz andere, den Menschen als Gattungswesen allgemein verbindende Entwicklung ermöglicht.

Gerade weil sich in der Geschichte Palästinas und Israels mehrere Entwicklungsstränge kolonialer, imperialistischer und faschistischer Genese kreuzen, ist dieser Konflikt von paradigmatischer Bedeutung für die politische Entwicklung in der Welt. Wenn eine Konstellation wirtschaftlich wie militärisch führender Staaten moderne Protektorate auf dem westlichen Balkan, im Irak und Afghanistan etabliert und in den Palästinensergebieten über Jahrzehnte Zonen der tiefgreifenden Entrechtung und Unterwerfung der dort lebenden Menschen akzeptiert, dann stellt das den von ihnen beanspruchten demokratischen und humanitären Wertekodex grundsätzlich in Frage. Daran ändert auch die politische Repression in anderen Teilen der Welt nichts, wäre es doch Sache einer sich als zivilisatorische Blüte der Menschheit verstehenden Kultur, auf vorbildliche Weise voranzugehen, anstatt mit revanchistischem Dünkel die Unterdrückungspraktiken von ihr kritisierter Gesellschaften zu reproduzieren.

Die Frage nach dem ideellen Bestand westlicher Kultur haben die Aktivistinnen und Aktivisten der Freedom-Flottille aufgegriffen und zugespitzt. Sie haben dies mit dem basisdemokratischen Engagement von Menschen unterschiedlichster Herkunft getan, die das Wissen darum vereint, daß die Probleme des anderen Menschen untrennbar mit der eigenen Lebenswirklichkeit verbunden sind. In der Bundesrepublik wurde dieses Engagement bis zum Angriff auf die Schiffe der Freedom-Flottille weitreichend mit Mißachtung gestraft, hätte es doch Fragen an die Politik der Bundesregierung gegenüber Israel und die daraus resultierenden negativen Folgen für die Palästinenser aufwerfen können.

Um so mehr erweist sich, daß das Eintreten ganz normaler Bürger für die Interessen und Rechte ihrer Stimme und ihrer Lebenschancen beraubter Menschen unabdinglich ist. Die in politischen Fensterreden so häufig beschworene Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den politischen Prozeß wurde mit dieser Aktion allerdings so sehr an die Schwelle konkreter Machtinteressen getrieben, daß der gegen folgenreiche politische Wirksamkeit abgeschottete Bereich des symbolpolitischen Aktionismus verlassen und die Arena einer Konfrontation betreten wurde, in der nicht nur in diesem Fall blank gezogen wird, um die Interessen der Herrschenden durchzusetzen. Gerade weil der Verlust von Menschenleben nicht wiedergutzumachen ist, soll das Opfer der Aktivistinnen und Aktivisten der Freedom Flottille nicht umsonst gewesen sein.

31. Mai 2010