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FRIEDEN/1076: Hermann Scheer - Streiter für eine andere Gesellschaft (SB)



Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer ist am 14. Oktober in einem Berliner Krankenhaus an Herzversagen gestorben. Seine politische Laufbahn begann mit dem Parteieintritt 1965, seit 1980 saß er für die Sozialdemokraten im Bundestag. Heute ist sein Name untrennbar mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz verbunden, das in Deutschland einen Boom an Windrädern, Solardächern und Biogasanlagen ausgelöst hat und Vorbild für andere Länder wurde. Weniger bekannt, aber dennoch von maßgeblicher Bedeutung für Scheers politische Einstellung war sein ursprüngliches und bis zum Schluß ungebrochenes Engagement für Frieden und Abrüstung. Kontroversen ging er dabei nicht aus dem Weg. So bezeichnete er den Einsatz der NATO im Kosovo als "Kriegsverbrechen", woraufhin ihn der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder aus der Partei entfernen wollte.

Scheer stand nicht einfach nur für einen Umbau der Gesellschaft mit immer mehr grünen Technologien ein, sondern er sah darin auch eine Chance, die Voraussetzungen für Konflikte in der ganzen Welt zu verringern. Wenn fossile Energieträger oder Uran in anderen Weltregionen lagern, ausgebeutet und über lange Strecken zu den Konsumenten gebracht werden müssen, erzeugt das Spannungen, so seine Überlegung. Erstens kämpfen in den Ressourcenländern verschiedene Interessengruppen um die Beute, zweitens sehen sich die Importländer zu interventionistischen Maßnahmen gezwungen, sollte der Versorgungsstrom unterbrochen werden. Energiegewinnung und -verbrauch sollten wieder zusammengeführt werden und wie bei der Photovoltaik an einem Ort stattfinden.

Mit solchen Forderungen kam der Sozialdemokrat auch bei den Linken an. In einer mitreißenden Rede am 4. September 2010 auf der Energiekonferenz in Hamburg, die von sechs Landtagsfraktionen und der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke organisiert wurde [1], warnte Scheer, daß sich die Gegenkräfte anschickten, den im Jahre 2000 durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz eingeleiteten, raschen Strukturwandel auszubremsen. Als vorausschauend hat sich seine Aussage erwiesen, daß es keinen abflauenden, "sondern einen sich zuspitzenden Energiekonflikt unter der Decke des allgemeinen Bekenntnisses zu erneuerbaren Energien" gibt [2]. Noch am selben Tag versprach die schwarz-gelbe Bundesregierung den vier großen Energiekonzernen E.on, RWE, Vattenfall und EnBW eine Laufzeitverlängerung ihrer Atomkraftwerke. Bis zu vierzehn Jahre dürfen die Meiler länger am Netz bleiben.

Der in Waiblingen bei Stuttgart lebende Bundestagsabgeordnete strebte einen Wechsel von kommerzieller Primärenergie - Erdöl, Erdgas, Kohle, Uran - zu nicht-kommerzieller Primärenergie wie Sonne, Wind, Wasserströme und Wellen an. Dabei war Hermann Scheer kein Öko- oder Sozialrevolutionär. Als Parlamentarier ging er selbstverständlich Kompromisse ein und strebte nach Möglichkeit den Konsens an. Dennoch setzte er sich nicht betriebsblind für die Erneuerbaren ein. "Wer eine falsche Prämisse akzeptiert und ihr nicht sofort widerspricht, wird am Schluß ihr Opfer", sagte er und positionierte sich folgerichtig auch gegen die Offshore-Windenergie, die er wie Atom- und Kohlekraftwerke zu den "Großstrukturen" zählte, die, wiewohl regenerativ, doch zum Nutzen der Energiekonzerne gebaut werden. Die Energiewirtschaft habe das Problem mit erneuerbaren Energien, daß man die Sonne nicht privatisieren könne, sagte er auf der Energiekonferenz und fügte verschmitzt an: Sie sei, wenn man es so wolle, "die einzige linke Energiequelle".

Die Bundesregierung betreibe eine "Einschläferungsstrategie", indem sie so tue, als hätte sie begriffen, daß kein Weg an erneuerbaren Energien vorbeiführten, wetterte Scheer. Seine Aussage wird durch den jüngsten Energievertrag mit der Atomwirtschaft bestätigt. Dem von Scheer maßgeblich mit auf die Bahn gebrachten Strukturwandel weg von der profitgetriebenen, oligopolen Energieversorgung hin zu dezentralen Formen wird von der Bundesregierung entgegen anderslautender Beteuerungen ein Bremsklotz vorangestellt. Das sollte beim Namen genannt werden. Im Bundestag hinterläßt Hermann Scheer eine Lücke, von der bislang nicht zu erkennen ist, wer das Format hätte, sie zu füllen.


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Anmerkungen:

[1] Eine Reihe von Beiträgen zur Energiekonferenz finden Sie unter den Indizes BERICHTE und INTERVIEWS im INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT.

[2] Alle Scheer-Zitate von der Energiekonferenz: Audio-Abschrift Schattenblick.

15. Oktober 2010