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FRIEDEN/1132: Sakrament Sozialdarwinismus (SB)



Es mag dem Wunsch vieler auf Harmonie und Frieden bedachter Menschen geschuldet sein, daß Barack Obama auf dem Evangelischen Kirchentag mit einer Botschaft [1] aufwartete, mit der er nichts verkehrt machen konnte. Die Behauptung, die Welt sei niemals wohlhabender, gesünder und besser ausgebildet gewesen, kam bei den 70.000 Gläubigen schon deshalb gut an, weil "die Welt" als Subjekt so numinos wie die Ohnmacht eines Großteils ihrer Bevölkerung konkret ist. Wer von den Kommandohöhen herab auf die Kämpfe und Nöte am Boden des gesellschaftlichen Schlachtfeldes blickt, kann vieles wider besseren Wissens idealisieren, und dafür sind ehemalige Staats- und Regierungchefs allemal zuständig.

Gerade weil die Diskrepanz einer solchen Heilsbotschaft zu den Zwangsverhältnissen der Arbeitsgesellschaft, der extensiven Naturzerstörung und den neokolonialistischen Ausbeutungspraktiken nicht zu brücken ist, schlägt sie auf einem Treffen religiös inspirierter Menschen ein wie eine Bombe, deren Explosivkraft darin besteht, die Anspannung realer Widerspruchserfahrung zur Lösung, um nicht zu sagen Erlösung zu bringen. Wie schon in seinen Wahlkämpfen versteht sich Obama als guter Prediger darauf, Hoffnungen zur Emphase irrationalen Überschwanges kulminieren zu lassen. Der fruchtbare Boden, auf den seine Glücksbombe fällt, ist reichlich gedüngt mit den Schmerzen all jener, die sich angesichts derartiger Behauptungen in ihrer Not noch wirksamer ignoriert und mißachtet fühlen als im negativen Dasein gesellschaftlicher Ausgrenzung ohnehin schon.

So kommt auch die Adressierung der Jugend als einer historisch privilegierten Generation, der der Zugang zu Informationen und Möglichkeiten offenstehe, die zur Zeit seiner und Angela Merkels Geburt unvorstellbar erschienen, mit der Leichtfüßigkeit eines Versprechens daher, das sich jeder Überprüfbarkeit entzieht, sonst wäre es kein solches. Die Einbindung junger Menschen in die mikroelektronische Produktionsweise eröffnet ihnen zweifellos Informationsquellen aller Art, doch was nützen diese, wenn sie sich nicht in angemessene Erwerbsmöglichkeiten ummünzen lassen oder den Studierenden in Form der Kredite, die sie für ihre akademische Ausbildung aufnehmen müssen, wie ein Mühlstein um den Hals hängen?

In jedem Fall werden die Jugendlichen als bloße Empfänger vermeintlicher Chancen und Gelegenheiten, die Institutionen und Industrien ihrem Geschäftsinteresse gemäß bereitstellen, in den Wartestand einer Konkurrenzgesellschaft versetzt, aus dem sie nur herauskommen, wenn sie den Ansprüchen der Käufer ihrer Arbeitskraft genügen, sprich sich ihnen unterwerfen. Darin erfolgreich zu sein, und nichts anderes meint Obama mit "opportunities", befreit den Menschen nicht von den Fesseln kapitalistischer Vergesellschaftung, sondern zieht diese noch etwas enger an, was immer dann, wenn der Schmerz nachläßt, auch als lustvoll empfunden werden mag. Sich davon zu emanzipieren, von anderen taxiert, benutzt, belohnt oder bestraft zu werden, ist mit der hierarchischen Ordnung einer Religion oder dem bürgerlichen Anspruch eines Staates hingegen unvereinbar. Das gilt insbesondere, wenn erstere letzterem zuarbeitet, wie es die Amtskirchen in der Bundesrepublik tun.

Die 1954 geborene Bundeskanzlerin konnte in ihrer Jugend, obschon kein SED-Mitglied, eine Karriere als Wissenschaftlerin absolvieren, die sie zu ihrem politischen Aufstieg in der BRD befähigte. Im Unterschied zu vielen Jugendlichen in der Bundesrepublik wie den USA hatte sie in der DDR niemals das Problem, eine Arbeitsstelle oder Wohnung zu finden, auch drohte ihr kein Dasein im sozialen Prekariat als einzige Lebensperspektive. Sie mußte sich nicht wie viele US-Amerikaner Sorgen um ihre medizinische Betreuung oder das tägliche Sattwerden machen. Sie mußte sich allerdings der Staatsdoktrin unterwerfen, doch konnte sie dafür Sozialgarantien in Anspruch nehmen, die in Obamas Bilanz, laut der es Welt niemals besser als heute ging, keinen Platz haben. Die Freiheit der Jugend, die bei diesem Anlaß in den Himmel demokratischer Werte gehoben wurde, reduziert sich bei genauerer Betrachtung auf die Auswahl, die der Supermarkt bietet, und das Angebot, anstatt sich mit den Bedingungen und Zielen kapitalistischer Vergesellschaftung zu konfrontieren, den Traumwelten kulturindustrieller Befriedungsproduktivität zu frönen.

Doch geht es bei einer symbolpolitischen Veranstaltung wie am Brandenburger Tor nicht darum, etwas anderem gegenüber Rechenschaft abzulegen als der Legitimität einer Staatlichkeit, der die Religion auch unter dem Vorzeichen konstitutioneller Säkularität stets ein Schmiermittel erster Ordnung ist. Im Sinne dessen, daß er der Jugend dazu verhilft, die nächste Sprosse auf der Leiter sozialdarwinistischer Selektion zu erklimmen, hat Barack Obama auf dem Kirchentag ganze Arbeit geleistet und - dem Anlaß angemessen - ein Zeichen der Hoffnung gesetzt, auf das der Klerus nicht hereinfallen muß, um es mit Inbrunst zu zelebrieren.


Fußnote:

[1] The world has never been wealthier, it has never been more healthy, it's never been better educated, young people today have access to information and opportunities that would be unimaginable when I was born or Angela was born, and if we can sustain that progress, then I feel very optimistic about our futures, but it's ultimately gonna depend on the young people here today and my job now is to help them taking the next step.
http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2017/05/26/der_deutsche_evangelische_kirchentag_live_aus_berlin_dlf_20170526_0935_a5b1a2bd.mp3

26. Mai 2017


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