Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


FRIEDEN/1135: Demo Unteilbar - Werte mehrheitsfähig (SB)



Für ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit!
Für ein solidarisches und soziales Miteinander statt Ausgrenzung und Rassismus!
Für das Recht auf Schutz und Asyl - Gegen die Abschottung Europas!
Für eine freie und vielfältige Gesellschaft!
Solidarität kennt keine Grenzen!
Aus dem Aufruf "[Hashtag]unteilbar - Für eine offene und freie Gesellschaft - Solidarität statt Ausgrenzung" [1]

Zu vermuten, daß sich eigentlich alle Menschen unter diesen Positionen aus dem Aufruf zur Demonstration Unteilbar versammeln können müßten, könnte in der Bundesrepublik 2018 nicht unzutreffender sein. Daß sich am 13. Oktober in Berlin dennoch ein 240.000 Menschen starker Demonstrationszug formierte, ist Ausdruck der Notwendigkeit, der anwachsenden Barbarisierung zu widerstehen. Vermeintlich selbstverständliche Gebote der Humanität sind alles andere als das. Ihr universaler Anspruch wird auf vielfältige Weise konterkariert und gebrochen, wie die zahlreiche Präsenz dagegen Protestierender auf den Straßen der Hauptstadt an diesem Samstag belegt. Die Bedeutsamkeit dieses Aufmarsches wird auch dadurch nicht geringer, daß die Regierungspartei SPD und andere Organisationen prominent vertreten sind, denen leicht nachgewiesen werden könnte, daß ihre Politik häufig weder sozial gerecht noch der Wahrung der Menschenrechte zuträglich ist.

Vor dem Hintergrund der Konfrontationen in Chemnitz, Köthen und anderen Orten, an denen die extreme Rechte aus ihrer Feindseligkeit Andersdenkenden gegenüber kein Hehl macht und die raumgreifende Präsenz maskuliner, mit aggressiven Symbolen signierter Körper den öffentlichen Raum in Zonen akuter Gefährdung und selektiver Zugehörigkeit parzelliert, ist die tausendfache Bereitschaft, dagegen ein Zeichen zu setzen, mehr als nur eine Meinungsbekundung, die so irrelevant ist wie ein Klick auf eine Internetpetition oder ein Like unter einen FB-Post.

Wenn eine Viertelmillion Menschen gegen die organisierte Feindseligkeit jenen gegenüber, die angeblich nicht dazugehören, sichtbar und hörbar Stellung bezieht, dann zeugt das zum einen davon, daß die Ahnung, sich in einem latenten Bürgerkrieg um die politische Zukunft des Landes zu befinden, kein exklusives Merkmal linksradikaler Gruppen und AktivistInnen mehr ist. Zum andern zeigt sich die Brüchigkeit der These von der allgemeinen Entpolitisierung der Bevölkerung. Zwar hat die Breite des Bündnisses, das zu Unteilbar aufgerufen hat, mit ideologischen Widersprüchen aller Art zu kämpfen. Die gemeinsame Schnittmenge ruft allerdings so viel vitales Interesse wach, daß eine soziale Bewegung entstehen könnte, die sich weder innerhalb von Parteien formiert noch exklusiven Ideologien verpflichtet ist. Je mehr dieses Land von autoritärer Staatlichkeit, sozialdarwinistischer Konkurrenz und militaristischer Selbstbehauptung bestimmt wird, desto greifbarer und praktischer wird das Übergreifende des emanzipatorischen sozialen Widerstandes. Vielleicht münden die Bruchlinien der weit ausgespannten politischen Positionen einmal nicht in erschöpfende Wortklaubereien, deren ideologiekritische Zuspitzung an die Stelle des Mutes tritt, dessen es bedarf, gegen die aus materiellen Gewaltverhältnissen erstehende Ohnmacht aufzubegehren.

Wie schwierig das Bekenntnis zu universalen Werten, deren Unteilbarkeit den Schutz des schwachen, verletzlichen und vernichtbaren Lebens ohne Ansehen von Herkunft, Geschlecht und Hautfarbe beansprucht, unter den Bedingungen des Kampfes um gesellschaftliche Hegemonie sein kann, bewies Sahra Wagenknecht in ihrer Funktion als Vertreterin der von ihr mitinitiierten Bewegung Aufstehen. Indem sie nicht zur Teilnahme an der Unteilbar-Demonstration aufrufen wollte, weil dort die Forderung nach offenen Grenzen im Mittelpunkt stände und dadurch Menschen ausgegrenzt würden, die diese Position nicht teilen, obwohl sie gegen Rassismus eingestellt seien, zog sie eine tiefe Furche zwischen den sozialen Ansprüchen deutscher StaatsbürgerInnen und dem Interesse geflohener Menschen und MigrantInnen, daran nicht minder teilzuhaben als die einheimische Bevölkerung.

Wagenknecht griff damit ein Argument auf, das dem universalen Anspruch der Menschenrechte schon im ersten Schritt die aus Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staatsvolk resultierenden Privilegien und Hierarchien entgegenhält. Abgesehen davon, daß sich in dem Aufruf zur Unteilbar-Demo keine explizite Forderung nach offenen Grenzen findet, steht die geltend gemachte Differenz zwischen nationaler Privilegierung und kosmopolitischem Gleichheitsanspruch für die Dialektik von Realpolitik und Wertekonsistenz. Vergleichbar mit der Diskrepanz, die Bundeskanzlerin Angela Merkel produziert, wenn ihr angelastet wird, die Grenzen für alle und jeden geöffnet zu haben, während ihre Administration das Gegenteil dessen tut und die Flüchtlingsabwehr bis zur Einrichtung neuer Lager für notleidende Menschen ausbaut, möchte Wagenknecht mit linken Idealen identifiziert werden und diese zugleich politisch unterlaufen.

Weder Merkel noch Wagenknecht machen sich durch Festlegung auf die eine oder andere Position unwideruflich kenntlich. Die Linken-Politikerin erklärt nach bewährter Debattenmechanik die soziale Frage zum Hauptwiderspruch, dem sich andere Probleme nachzuordnen hätten. Indem sie sich auf die Seite als deutsch ausgewiesener Lohnabhängiger stellt und ihnen gegenüber den Zutritt nichtdeutscher Menschen relativiert, verabschiedet sie sich von einem klassenkämpferischen Internationalismus, der die prinzipielle Solidarität aller von Kapitalismus und Imperialismus betroffenen Menschen in den Mittelpunkt des gemeinsamen Kampfes stellt. Diese Position hat in der Ära des Klimawandels zusätzliche Relevanz erhalten, flüchten die Menschen aus den Ländern des Globalen Südens doch nicht mehr nur vor den Folgen weltumspannender Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrategien westlicher Metropolengesellschaften, sondern auch vor der von diesen mitverantworteten Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen.

Das kapitalistische Weltsystem ist mithin nicht nur durch die kapitalistische Globalisierung ineinander verschränkt, deren angleichender Übergriff auf regionale und nationale Verhältnisse von der Neuen Rechten als Ergebnis "kulturmarxistischer" Gleichmacherei angeprangert wird. Seine Bevölkerungen sind durch die Klammer sozialökologischer Prozesse, die einen erdgeschichtlich schmalen Korridor menschliches Leben ermöglichender Klimabedingungen offenhalten, um so mehr zu kollektiver Bewältigung der dagegen gerichteten, vor allem aus kapitalistischer Verwertungslogik und Überproduktion erstehenden Bedrohungen verpflichtet.

Kurz gesagt, eine Zukunft, die das Leben möglichst vieler Menschen unter möglichst gerechten Bedingungene garantiert, anstatt die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen mit genozidaler Überlebenslogik auf die Spitze sozialdarwinistischer Auslese zu treiben, ist wenn schon nicht aus freien Stücken, dann doch notwendigerweise kosmopolitisch und universal. Die soziale Frage stellt sich weltweit, und sie wird Menschen, die großen Wohlstand genießen und großen Verbrauch in Anspruch nehmen, erhebliche Einschränkungen in ihrer Lebensweise aufbürden. Bevor dies unter Durchsetzung alternativloser Sachzwänge geltend gemacht wird, läßt sich unter sozial verträglicheren und ökologisch nachhaltigeren Bedingungen im Vorweg dessen darüber nachdenken, wie sich dieser Quantensprung solidarischer Zukunftsgestaltung auf den Weg bringen läßt.

Ob diese Zukunft dem Ökosozialismus, dem Kommunismus, einer Postwachstumsdoktrin, dem demokratischen Konföderalismus oder anderen heute noch als utopisch bezeichneten Gesellschaftsentwürfen verpflichtet ist, ändert nichts an der Unverträglichkeit des Kapitalismus für die Wahrung des Lebens und die Unmöglichkeit, die Menschen weiterhin in nationale Grenzen zu bannen, die die Konfliktlinien der Krisenkonkurrenz markieren und tödliche Ausgrenzung und hochgefährliche Staatenkriege hervorbringen. Daß solche Gesellschaftsentwürfe zur Zeit weder politisch durchsetzbar noch mehrheitskompatibel sind, macht sie weder irrelevant noch unmöglich.

Gleiches gilt für die Forderungen des Unteilbar-Protestes, gegen dessen SachwalterInnen aus dem Umfeld von SPD und Grünen von vornherein eingewendet werden könnte, FürsprecherInnen imperialistischer Strategien zu sein, die die Menschenrechte wie ein Schild vor sich hertragen, um in ihrem Schutz gegen sie verstoßen zu können. Daß Wagenknecht nun mit ihrem Taktieren hinter PolitikerInnen zurückfällt, die sich weit weniger als sie für soziale Gerechtigkeit einsetzen, ist das Ergebnis des Mißbrauches universalistischer Forderungen als bloßes Blendwerk politischer Agenden und die nicht erfolgende Überprüfung der Behauptung, ihnen gerecht werden zu wollen.

So steht und fällt die Wirkung des starken Auftrittes vom 13. Oktober mit den daraus gezogenen Konsequenzen für einen politischen Aktivismus, der von den herrschenden Interessen nicht mehr zu bändigen ist, weil er ernst macht mit den einmal erhobenen Forderungen. Entstände tatsächlich eine Massenbewegung von unten im Sinne der proklamierten Ideale, dann lösten sich viele der unterschwelligen Widersprüche unter ihren AktivistInnen wie von selbst. Unteilbar, also nicht korrumpierbar, nicht durch die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse gegeneinander ausspielbar zu sein trifft das Problem des politischen Kampfes schon recht genau. Sich auf dieser Basis einzufinden und an den einmal erhobenen Forderungen festzuhalten schafft eine Handlungsfähigkeit, dergegenüber alles opportunistische Taktieren und Schielen auf Mehrheiten an der Absehbarkeit bloßer Manöverlagen vergeht.


Fußnote:

[1] https://www.unteilbar.org

15. Oktober 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang