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HEGEMONIE/1590: Fünf Jahre EU-Osterweiterung ... kein Grund zum Feiern (SB)



Am 1. Mai 2004 wurden mit Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn acht sogenannte Transformationsstaaten in die EU aufgenommen, deren Bürger sich viel davon versprachen, nach einer für sie größtenteils durch wirtschaftliche Einbußen bestimmten Übergangsphase von realsozialistischer Planwirtschaft zu neoliberaler Marktwirtschaft in den sicheren Hafen der Europäischen Union einzulaufen. Heute ist den Menschen kaum mehr nach Feiern zumute, hat sich doch das Wirtschaftswachstums der letzten Jahre als Strohfeuer erwiesen, dessen Verlöschen die betroffenen Bevölkerungen um so frierender zurückläßt.

Da die neuen Mitgliedstaaten schon vor ihrem EU-Betritt ein bevorzugtes Ziel westeuropäischer Investoren waren und sich kapitalkräftigen Geschäftsleuten dort ein El Dorado an günstigen Erwerbsmöglichkeiten bot, erfüllten sich die Gewinnerwartungen, die eine Zukunft in der hochproduktiven EU ausgelöst hatte, vor allem für die dort bereits lebenden Menschen. Osteuropäer konnten dort zwar mehr als in ihrer Heimat verdienen, die von ihnen ausgenutzten Produktivitätsunterschiede zahlten sich für das westeuropäische Kapital jedoch weit mehr aus. Heute befinden sich viele osteuropäischen Banken und Versicherungen, Agrarflächen und Immobilien in den Händen westlicher Investoren. Doch auch die einheimischen Eliten, die den boomenden Finanzkapitalismus für sich entdeckten und fruchtbare Allianzen mit westeuropäischen Kapitalgebern eingingen, gehören zu den Gewinnern eines Wachstums, das nur zu einem geringen Teil auf industrieller und landwirtschaftlicher Grundlage erwirtschaftet wurde.

Für die lohnarbeitende Bevölkerung erschwerend hinzu kamen die Rationalisierungsmaßnahmen, mit denen Güterproduktion, Agrarwirtschaft und Dienstleistungssektor auf Rentabilität nach EU-Standard getrimmt wurden. Die Vernichtung vorhandener Arbeitsplätze und bewährter Strukturen der Substitution konnte durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors nicht armutsfest kompensiert werden. Der tiefgreifende neoliberale Strukturwandel, der zu einen die eigenen Sozialsysteme ausblutenden Wettbewerb um die günstigsten Standortbedingungen für ausländische Investoren entuferte, vernichtete auch letzte Reste aus sozialistischen Zeiten stammender Vergünstigungen wie kostenlose Gesundheitsversorgung, erschwinglicher Wohnraum oder billige Verkehrs- und Grundnahrungsmittel.

Die hohen Wachstumsraten, die einige osteuropäischen Staaten erzielten, begünstigten keineswegs alle Menschen, sondern kamen der sozialdarwinistischen Verfaßtheit des neuen Liberalismus gemäß vor allem denjenigen zugute, die sich mit der neuen Zeit am besten zu arrangieren wußten. Die Befreiung ihrer Gesellschaften von sozialistischer Gleichmacherei war ein Projekt zur Wiederherstellung weitgehend eingeebneter Klassenunterschiede, das nun, da immer mehr Menschen in diesen EU-Staaten unter extremer Armut leiden, als erfolgreich abgeschlossen gelten kann. Anderlautende Analysen, die den Beitritt der osteuropäischen Staaten als Erfolgsgeschichte verkaufen, orientieren sich an makroökomischen Indikatoren, die über die Verteilung des Wohlstands in den jeweiligen Ländern und die Verluste an allgemeiner Daseinsvorsorge, die mittelose Menschen erlitten haben, nichts aussagen.

Wenn selbst in den Zentren des EU-Kapitalismus wie Frankreich, Deutschland und England soziale Not um sich greift, dann ist es um Hilfen für Osteuropa schlecht bestellt. In der alten EU fürchtet man viel mehr, von dem Gewicht der Schuldenpyramiden, die insbesondere österreichische, aber auch andere westliche Banken in den neuen Mitgliedstaaten errichtet haben, mit in den Abgrund gerissen zu werden. An eine sozialökonomische Einebnung des innereuropäischen Gefälles ist weniger denn je zu denken, sollen die Produktivitätsabstände doch auch in Zukunft dazu dienen, den Zentren des EU-Kapitalismus Investitionschancen und Expansionsräume zu eröffnen.

Ideologisch firmiert die Osterweiterung der EU unter dem Titel der Einigung eines gespaltenen Kontinents. Immerhin mußte nicht, wie im Fall Jugoslawiens, bombardiert werden. Bei Polen, Balten, Ungarn, Tschechen und Slowaken reichte das Versprechen auf eine Prosperität, deren wertbildende Grundlage schon vor fünf Jahren nicht mehr hielt, was finanzkapitalistisch generierte Gewinne versprachen, aus, um sich vom Anschluß an eine auf das Marktdogma eingeschworene Wirtschaftsgemeinschaft Vorteile zu erhoffen. Wenn sogar die führenden Volkswirtschaften der EU vor einer deutlichen Reduzierung ihrer industriellen Kapazitäten stehen, müssen sich die Arbeiter an deren verlängerten Werkbänken in Osteuropa besonders warm anziehen.

Heute bleiben Jubelfeiern über diesen Schritt weitgehend aus, kann man doch von Menschen, die in zunehmendem Maße von Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut umgetrieben werden, kaum Lobgesänge auf die neue Zeit erwarten. Wenn die älteren von ihnen merken, daß man im Kapitalismus durchaus eine materielle Not erleiden kann, gegenüber der selbst bescheidener realsozialistischer Wohlstand Gold war, dann könnten sie sich Gedanken über all das machen, was im Überschwang der Begeisterung für die neuen Herren leichtfertig aus der Hand gegeben wurde. Auch wenn nur eine geringe Chance darauf bestände, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, so wäre die nach vorne gewandte Emanzipation von den Zumutungen der Freiheit-und-Demokratie-Doktrin weit erstrebenswerter, als von der Totalität dieser Wahrheit so sehr in seinen politischen Möglichkeiten beschnitten zu werden, daß sich zur Armut auch noch Ohnmacht gesellt.

30. April 2009