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HEGEMONIE/1602: Siedlungsmythos im Dienst israelischer Okkupation (SB)



Die massenhafte Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948 samt der systematischen Auslöschung ihrer Siedlungsspuren markiert in der palästinensischen Geschichte als Zäsur der Katastrophe (Nakba) den Wendepunkt zu einem Flüchtlingsdasein oder einer Existenz in zunehmend eingeschränkten Lebensräumen. Weit davon entfernt, diesen Verlust jemals rückgängig zu machen, mußten die ursprünglichen Bewohner des Landes seither eine fortschreitende Einschnürung hinnehmen, die zu dem Freiluftgefängnis des Gazastreifens und dem fragmentierten Bantustan des Westjordanland geführt hat, welche weniger denn je ein lebensfähiges Staatsgebilde der Palästinenser möglich erscheinen lassen.

Das Trugbild eines weithin wüsten und unfruchtbaren Landes, das erst durch die jüdischen Einwanderer belebt und kultiviert wurde, darf heute angesichts einer langen Reihe fundierter historischer Studien als widerlegt gelten. Tatsächlich existierte eine jahrhundertelange bäuerliche Besiedlung, die eine blühende Landwirtschaft hervorgebracht hat, deren Erzeugnisse einst nicht nur die einheimische Bevölkerung versorgten, sondern im Zuge reger Handelstätigkeit auch nach Europa verschifft wurden. Zudem hatten sich vor allem in städtischen Zentren Gewerbe herausgebildet, die einen Warenverkehr weit über die Region hinaus beförderten.

Der Gründungsmythos des Staates Israel unterschlägt die Verdrängung und Vernichtung der vorgefundenen Kultur, auf deren Grundlage die eigene Inbesitznahme und Expansion erst möglich war. Neben der sprunghaften Okkupation im Zuge einer mit militärischen Mitteln erzwungenen Besetzung palästinensischer Gebiete war es eine ununterbrochene schleichende Ausweitung israelischer Zugriffsmöglichkeiten auf administrativem Weg, die den Landraub vorantrieb, verbriefte Rechte aushebelte, Wege verwehrte und den Alltag der Palästinenser mit Mühsal und Erniedrigung überhäufte. So verwandelten sich die palästinensischen Enklaven schließlich zu Ghettos, wobei der Gazastreifen für Bewohner des Westjordanlands vollends unerreichbar gemacht wurde. Die große Mauer ist zum Symbol eines Apartheid-Regimes geworden und stellt ihrerseits ein Instrument der Annexion dar. Sie vervollständigt ein System aus Siedlungsblöcken, deren Zufahrtstraßen ebenso wie die Kontrollposten und eine Vielzahl weiterer Einschränkungen und Schikanen das Westjordanland zerschneiden.

Die jahrhundertelange Besiedlung war einst der bäuerlichen Bevölkerung so vertraut, daß es vielfach keiner schriftlichen Unterlagen oder Grundbucheinträge bedurfte. Dies machte sich die israelische Verwaltung zunutze, um die Landrechte palästinensischer Bauern zu bestreiten. Nachdem zahllose Palästinenser von ihrem Besitz vertrieben worden waren oder aus anderen Gründen ihr Land nicht mehr bestellen konnten, fiel dieses automatisch dem Staat zu und ging damit in jüdischen Besitz über.

Unterdessen fressen sich die jüdischen Siedlungen unaufhaltsam immer tiefer in palästinensisches Land, weshalb der Siedlungsbau zu den zentralen Streitpunkten einer Friedenslösung gehört. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat in seiner Rede vom 14. Juni, die sich aus einer Kette von Vorbedingungen zusammensetzt, die für die Palästinenser unannehmbar sind, jedes Einfrieren auf dem aktuellen Niveau abgelehnt. Das normale Leben der Siedler und deren natürliche Vermehrung dürften nicht eingeschränkt werden, was de facto mit einer ungebrochenen Expansion gleichzusetzen ist. Daß Netanjahu nichts anderes im Sinn hat, unterstreicht auch seine Forderung, daß zwischen Israel und einem Palästinenserstaat Grenzen festgelegt werden müßten, die verteidigt werden können. Die Erfüllung dieser Formel liefe zwangsläufig darauf hinaus, daß ein beträchtlicher Teil der besetzten Gebiete zu israelischem Territorium wird.

Wenn heute von jüdischen Siedlungen gesprochen wird, so handelt es sich dabei um einen irreführenden Begriff, der an die frühere Kibutzbewegung erinnert und deren Ideologie entlehnt. Der Siedlungsmythos von einer umkämpften Existenz bei der Urbarmachung und Bewässerung des Landes, einer handwerklichen und gewerblichen Produktivität und einer Selbstverteidigung kleiner jüdischer Gemeinschaften hat nicht das geringste mit dem Ausbau der Siedlungsblöcke zu tun. So beansprucht der flächenmäßig größte Block Maale Adumim mehr als 30 Quadratmeilen Land, wobei seine gut 35.000 Einwohner eine kleine Stadt bilden. Die meisten Neuankömmlinge sind dorthin gezogen, weil die Mieten subventioniert werden und die Infrastruktur ausgezeichnet ist. Man hat Zugang zu fruchtbarem Land, eine gesicherte Wasserversorgung und den Komfort städtischer Einrichtungen. (New York Times 22.06.09)

Ebenso irreführend wie die Bezeichnung "Siedlung" ist die Unterscheidung zwischen offiziellen und inoffiziellen Siedlungen. Nach Artikel 47 der Vierten Genfer Konvention und Artikel 2.4 der UNO-Charta sind all diese Siedlungen illegal, weil sie auf einer völkerrechtswidrigen Annexion nach zuvor erfolgter Gewaltanwendung beruhen. Was immer die israelische Regierung diesbezüglich autorisiert hat, verstößt gegen internationales Recht. Vor diesem Hintergrund erweist sich der ewige Streit um die Frage, welche Siedlungen unantastbar und welche verhandelbar seien, als inszeniertes Scheingefecht, das die unablässige Expansion verschleiern soll.

Da die Bevölkerung in den "Siedlungen" erheblich schneller wächst als im israelischen Kernland, sind der "natürlichen" Ausdehnung keine Grenzen gesetzt. Zusammen mit den jüdischen Bewohnern im ebenfalls illegal besetzten Ostjerusalem zählen die "Siedler" inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen, die gut zehn Prozent der jüdischen Einwohnerschaft "Großisraels" entsprechen. Auf diese Weise werden in Form einer unausgesetzten Expansion vollendete Tatsachen geschaffen, deren Eindämmung oder gar Umkehrung immer schwieriger, ja beinahe unmöglich erscheint.

Netanjahu hat keineswegs ein Zugeständnis gemacht, als er den lange gescheuten Begriff der Zweistaatenlösung endlich doch in den Mund nahm. Was er hinsichtlich des Siedlungsbaus für unverzichtbar erklärt, ist dessen ungehinderte Ausweitung nach dem sattsam bekannten Muster. Es bleibt den Interpreten seiner Rede überlassen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wen er mit seinem ausgeklügelten Schachzug täuschen wollte.

23. Juni 2009