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HEGEMONIE/1671:G20-Gipfel ... Verarmungspolitik im globalen Maßstab (SB)



Ob die Riots beim G20-Gipfel in Toronto die internationale Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet als das tonangebende Narrativ von den wenigen Randalierern, die das Anliegen der vielen friedlichen Demonstranten torpedierten, darf bezweifelt werden. Daß der Widerstand gegen das globale Verarmungsprogramm ohne diese Auseinandersetzungen überhaupt zur Kenntnis genommen worden wäre, ist nicht minder unwahrscheinlich. Wo 19.000 Sicherheitskräfte in martialischer Rüstung aufmarschieren, um einen mit übermannsgroßem, durch rasiermesserscharfen Stacheldraht gesicherten Zaun zur Hochsicherheitszone ausgebauten Konferenzbereich zu schützen, kann von demokratischer Partizipation der von der dort verhandelten Politik Betroffenen ohnehin nur sehr bedingt gesprochen werden. Dem angsteinflössenden Aufmarsch der Staatsgewalt und die informelle Verhängung des Ausnahmezustands über die Stadt Toronto teilen vor allem mit, daß das herrschende Krisenmanagement sinnfälliger Ausdruck eines postdemokratischen Zeitalters ist, in dem Bürgerprotest auf symbolpolitischen Eventcharakter reduziert oder wegen einzelner militanter Aktionen massenmedial kriminalisiert wird.

Während brennende Polizeifahrzeuge in Dauerrotation über die Bildschirme flimmern, fallen durch Demonstranten belegte Akte polizeilicher Gewaltanwendung oder die Verhaftung von Personen, die ganz offensichtlich nicht an Gewalttaten beteiligt waren, schon wegen der Einschränkung journalistischer Arbeit durch die Polizei der Schere politischer Opportunität zum Opfer. Die hochprofilierten Zeugnisse ziviler Militanz dadurch entschärfen zu wollen, indem man sie, entsprechenden Vorfällen auf früheren Demonstrationen zu internationalen Gipfeln gemäß, Agents provocateurs auf Seiten der Sicherheitsbehörden anlastet, ändert am begründeten Widerstand der Demonstranten nichts [1]. Die Legitimität, auf die sich Regierungen stützen, die völkerrechtswidrige Kriege führen, um ein höchst ungerechtes Gesellschaftssystem weltweit durchzusetzen, ist nicht minder bestreitbar als die militanter Formen zivilen Protests. Wenn die Anliegen sozialer Bewegungen durch derartige Handlungen rundheraus diskreditiert werden können, dann brauchen die Aktivisten der Zivilgesellschaft gar nicht erst anzutreten, dann liefe jeder Protest, bei dem es um zentrale politische Fragen geht, ins offene Messer des konterpropagandistischen Apparats.

Während die Widersprüche zwischen mehr oder weniger stark verschuldeten, eher export- oder eher importorientierten Staaten viel Stoff für eine Berichterstattung bieten, die an den grundlegenden Problemen des kapitalistischen Weltsystems nicht rühren will, bildet die Abschlußerklärung des G20-Gipfels [2] prinzipielle Einigkeit darüber ab, daß die angestrebte Erholung der Weltwirtschaft auf der gleichen ordnungspolitischen Grundlage erfolgen soll, der die krisenhafte Zuspitzung geschuldet ist.

So wird die von diversen europäischen Regierung beschlossene Sparpolitik in der Festlegung der G20-Regierungen auf das währungspolitische Ziel der "Preisstabilität" verankert. Antiinflationäre Maßnahmen zur Minderung der Staatsschulden setzen vor allem an den Sozialprogrammen an, obwohl diese in Zeiten der Wirtschaftskrise und eines geringfügigen Wachstums, das keine neuen Arbeitsplätze schafft, dringender denn je gebraucht werden. Länder mit hoher Staatsverschuldung sollen Budgetkürzungen vornehmen, "während sie offene Märkte behalten und die Wettbewerbsfähigkeit für den Export verbessern". Forcierter Standortwettbewerb durch Sozialkürzungen, die ein niedriges Lohnniveau bewirken, und Steuerbegünstigungen für Investoren sind ein sicheres Rezept zur Verschärfung des sozialen Konflikts. Diesen wirksam zu unterdrücken muß bei massenhafter existenzbedrohender Verelendung auf staatsautoritäre Verhältnisse hinauslaufen. Wie sonst soll sich eine Lohnarbeit, die nicht einmal die Reproduktion der Arbeitskraft ermöglicht, und die soziale Kaltstellung einer immer größeren Zahl angeblich unproduktiver Bürger durchsetzen lassen?

Die G20-Staaten wollen das Finanzkapital nicht auf eine Weise für die Refinanzierung durch den Steuerzahler in Haftung nehmen, die seine Geschäfte ernsthaft beeinträchtigte, und kompensieren die dadurch entstehenden Defizite mit Einschnitten bei den Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihrer bereits erfolgten Ausgrenzung am wenigsten für die weitere wirtschaftliche Entwicklung benötigt werden. Das unbedingte Primat des globalen Freihandels nach Lesart der WTO soll die globalisierten Wertschöpfungsketten aufrechterhalten, so daß an eine Überwindung des Hungers und der Armut in den Ländern des Südens auf lange Sicht nicht zu denken ist. Die besondere Würdigung des Internationalen Währungsfonds (IWF) durch die G20-Staaten verweist auf den Vorrang, den Mechanismen der Schuldenreduktion genießen, wie sie derzeit am Beispiel Griechenland durchgeführt werden. Wohlklingende Absichtsbekundungen zur Reduzierung des Welthungers lassen anhand der Absicht, diese Aufgabe dem "privaten Sektor" zu übertragen, erkennen, daß sich die Regierungen aus der Verantwortung für Millionen Hungernde unter dem Vorwand eines Marktregulativs stehlen wollen, das das Fungieren konkreter Raubinteressen wirksam vernebelt.

Zwar ist die Abschlußerklärung in vielen Positionen ambivalent, da sie den Verfechtern einer strikten Sparpolitik den Vorrang gibt, aber auch der US-Regierung entsprechen will, die für die Fortsetzung einer wachstumsfördernden Ausgabenpolitik eintritt. Insgesamt jedoch steht der Abbau der Staatsschulden bei Aufrechterhaltung von Investitionsanreizen für Kapitaleigner im Vordergrund. Die Herstellung von Liquidität für überschuldete Banken, die ihrerseits den Staatskredit bereitstellen, bleibt zielführendes Prinzip, und zwar nicht zu Lasten einer höheren Besteuerung von Kapitaleinkünften und Privateigentum, was wiederum die Kapitalrendite negativ beeinflußte, sondern durch die Senkung von Löhnen und Sozialausgaben.

Am Beispiel Griechenland wird dies exemplarisch vorgeführt. Man ist sich einig darüber, daß die griechischen Oligarchen notorisch am Fiskus vorbeioperieren und daß sie neben dem Kernwiderspruch der Eurozone, eine gemeinsame Währung mit engen Konvergenzkriterien bei unterschiedlicher nationaler Wirtschafts- und Steuerpolitik zu unterhalten, einen Gutteil der Verantwortung für die Schuldenkrise des Landes tragen. Die Behebung dieses Mißstands geht jedoch in erster Linie auf Kosten der Einkünfte abhängig Beschäftigter und der Sozialtransfers für Erwerbsunfähige. Arbeit wird entwertet, um niedrige Zinsraten zu generieren. Diese führen nicht zu vermehrten Investitionen in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, da der Absatz ihrer Produkte an der schwachen Kaufkraft gering entlohnter und alimentierter Bürger krankt, sondern begünstigen Geschäfte am Finanzmarkt, die eine weit höhere Rendite erbringen als nur langfristig rentable Investitionen in produzierende und dienstleistende Gewerbe. Während an den Börsen mit neuerlichen Spekulationsblasen Schulden maximiert werden, stagnieren die Einkommen arbeitender Menschen, die Binnennachfrage und damit das gesamtgesellschaftliche Produkt.

Der auf dem G20-Gipfel bestätigte und die Proteste in Toronto befeuernde Vorrang der Austeritätspolitik läuft auf eine deflationäre Wirtschaftsentwicklung hinaus, die die Lebensmöglichkeiten der großen Mehrheit der Menschen weiter einschränkt und den Sozialdarwinismus als Maxime kapitalistischer Vergesellschaftung legitimiert. Daß dies heute nicht mehr nur im Kreis der G7/8-Staaten, sondern durch die 20 führenden Wirtschaftsmächte beschlossen wird, verleiht dem Klassenkampf von oben noch mehr Wucht, als er in einer multipolaren Weltordnung hätte, in der eine starke Blockfreienbewegung die Interessen der Länder des Südens vertritt. Die Fortschreibung des neoliberalen Paradigmas trotz seiner Delegitimierung durch zwei Jahre Weltwirtschaftskrise bestätigt die düstersten Prognosen. Da die Rückkehr zum Klassenkompromiß der fordistischen Ära aufgrund der fortgeschrittenen Produktivkraftentwicklung und des daraus resultierenden Abbaus angemessen entlohnter Erwerbsarbeit versperrt ist und das Rentabilitätsprimat des Kapitals Alpha und Omega aller wirtschaftspolitischen Entscheidungen bleibt, stellt sich nurmehr die Frage nach der Beherrschbarkeit der verarmten Massen.

Fußnoten:

[1] http://www.indymedia.org.uk/en/2010/06/454462.html

[2] http://g20.gc.ca/toronto-summit/summit-documents/the-g-20-toronto-summit-declaration/

28. Juni 2010