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HEGEMONIE/1724: 11. September 2001 ... Mythenbildung dekonstruiert (SB)



Am 11. September 2011 gedenkt der westliche Kulturkreis der Anschläge von New York und Washington, die vor zehn Jahren aller damit verwobenen Mythenbildung zum Trotz die Welt nicht verändert haben. Ausbeutung, Verelendung und Unterdrückung der Schwachen als Konstanten der auf überlegener Waffengewalt gründenden kapitalistischen Verwertung blieben nicht nur in Kraft, sondern wurden innovativ fortgeschrieben, so daß man von einem neuen Kapitel im uralten Buch der Herrschaft des Menschen über den Menschen sprechen kann. Beklagte man am Jahrestag alle unannehmbaren Opfer, könnte man nicht umhin, Hunderttausende Iraker, Zehntausende Afghanen und Tausende Libyer einzubeziehen. Hielte man den gewaltsamen Angriff auf eine Zivilbevölkerung für ächtenswert, hätten die Kriege der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten nicht stattgefunden. Begegnete man anderen Kulturen mit Achtung, verböte es sich von selbst, sie im Namen eigener Suprematie als Feindbild zu diskreditieren.

Reichtum aus Armut erwirtschaftet, Sättigung auf dem Rücken der Hungernden, Freiheit als Macht zur Unterdrückung und Überleben zu Lasten der Sterbenden bedurften nach dem westlicherseits proklamierten Sieg im Kampf der Systeme einer neuen Doktrin. Wurde zuvor die beste weil kapitalistische Gesellschaftsordnung mit dem verteufelten Kommunismus kontrastiert, so mußte der folgende ideologische Entwurf zur nachhaltigen Ausblendung der Eigentumsfrage archaischer ansetzen und mithin tiefer greifen. Der Streit konkurrierender Wirtschaftsweisen hatte die sozialen Verhältnisse zwangsläufig im Fokus der Kontroverse gehalten, die mit der diesbezüglichen Befindlichkeit der Bevölkerungen munitioniert wurde. Nach dem Triumph räuberischer Übermacht galt es den nunmehr ungehinderten Fortbestand derselben als unhinterfragbaren Normalzustand auszuweisen und mittels eines innovativen Bedrohungsszenarios zu überblenden.

Das Jahre vor dem 11. September 2001 strategisch konzipierte und propagandistisch unterfütterte Feindbild des Islam war in mehrfacher Hinsicht mit Bedacht und Weitsicht gewählt worden. Zum einen schlug es die Klaviatur des überwunden geglaubten Widerstreits der monotheistischen Weltreligionen und der auf ihnen gründenden Kulturen mit Macht an. Zum anderen bahnte es die geplanten militärischen Vorstöße in eben jene Weltregionen, die nicht nur heiß begehrte Ressourcen beherbergen, sondern als geostrategischer Keil zwischen Rußland und China die Gegner künftiger Kriege einkesseln und spalten.

Von entscheidender Bedeutung für die innovative westliche Expansionsdoktrin war das Konstrukt des "Kriegs gegen den Terror", proklamierte dieser doch eine allgegenwärtige Bedrohung, die weltweite, zeitlich unbegrenzte und nicht zuletzt auf breiter Basis konzertierte Übergriffe rechtfertigte. In einem unablässigen Kreuzzug kündigt das nordatlantische Militärbündnis heute all jenen, die sich ihm in den Weg zu stellen wagen oder schlichtweg über Ressourcen verfügen, welche die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten für sich reklamieren, legalisierte Unterwerfung und Vernichtung an.

Auf ihrem Gipfel in Lissabon hat die NATO im letzten Oktober einen innovativen strategischen Entwurf auf den Weg gebracht, der ihren Anspruch auf globale Dominanz unterstreicht, die Palette möglicher Kriegsvorwände entufert und andere Bündnisse, internationale Institutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen als Hilfstruppen rekrutiert. Die EU wird als militärisches Bündnis adressiert, Rußland als Partner zweiter Klasse umworben, die UNO zum Zuträger degradiert, die Afrikanische Union als Handlanger akzeptiert, das breite Spektrum der Hilfsorganisationen im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit vereinnahmt. Wo man nicht eigenhändig die Keule schwingen kann, müssen Satrapen das Schlachten übernehmen. Wer zum Kämpfen partout nicht taugt, soll nach Maßgabe seiner sonstigen Mittel einen angemessenen Beitrag leisten, um die westliche Wertegemeinschaft offensiv und präventiv durchzusetzen.

Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 mag es von Interesse sein, damals vorgenommene Einschätzungen im Lichte heutigen Erkenntnisstands neu zu bewerten. Am Tag nach den Anschlägen von New York und Washington hatte der Schattenblick zu den Ereignissen und deren zu prognostizierenden Folgen in drei Kommentaren Stellung genommen, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben und im folgenden als Zeitdokumente in Auszügen wiedergegeben werden.

HEGEMONIE/439: Tag Eins der Neuen Weltordnung
KRIEG/332: "Kriegserklärung" - Die Zwanghaftigkeit der Rachelogik
HERRSCHAFT/395: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns


"So, wie westliche Historiker das "kurze" 20. Jahrhundert gerne in den Zeitraum von 1917 bis 1990 fassen, so läßt sich der politische Beginn des neuen Milleniums auf den 11. September 2001 datieren. Mit ihm hat sich die vom Vater des heutigen US-Präsidenten George W. Bush während des Zweiten Golfkriegs proklamierte Neue Weltordnung endgültig konstituiert. Die neunziger Jahre darf man demgemäß als Übergangsperiode verstehen, in der das Zeitalter der Nationalstaaten und des Systemwettstreits zwischen Sowjetunion und USA in die Ära einer nicht mehr internationalen, sondern supranationalen Gleichschaltung unter dem Banner der westlichen Wertegemeinschaft und kapitalistischen Weltwirtschaft vollzogen wurde."

"Die sichtbaren Merkmale dieses Übergangs bestehen in der Demontage des klassischen Völkerrechts, das einem Interventionismus Platz gemacht hat, der auf dem besten Wege ist, selbst das fadenscheinige Gewebe des humanitären Vorwands zugunsten des Arguments des größeren Knüppels abzustreifen, in der Karriere des Prinzips Marktwirtschaft zum monolithischen Dogma, das den Raub am andern in das Prinzip der Produktivität um jeden Preis, allem voran dem der Konkurrenz, verwandelt hat, und in der Elimination umfassender politischer Kritikfähigkeit zugunsten des alles übertönenden Klapperns elektronischer Register, die jede geistige Tätigkeit dem Verwertungszwang der Wissensgesellschaft unterwerfen. Dabei sind die Lebensbedingungen vieler Menschen schlechter geworden, während die versprochene Friedensdividende von Anfang an in die Sicherung stabiler hierarchischer Sozialverhältnisse gesteckt wurde."

"Mit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington haben sich die zum Jahreswechsel 2000 laut gewordenen Warnungen vor einer terroristischen Offensive auf die Vereinigten Staaten übererfüllt. Das Menetekel einer Rückkehr des Krieges in die Erste Welt, das bereits drohte, aufgrund nichteingetretener Prognosen zur Schimäre bürokratischer Wichtigtuerei zu verkommen, hat sich in einer Weise bewahrheitet, deren Sprengkraft weit über die der realen physischen Zerstörung hinausgeht. Die Administrationen und Sicherheitsbehörden der westlichen Welt verfügen nun über Optionen politischer Umgestaltung, wie es sie mindestens seit 1990 nicht mehr gegeben hat, und sie werden sie zweifellos in dem vielfach geltend gemachten Sinne eines entschlosseneren Kampfes gegen den sogenannten Terrorismus nutzen."

"Da dieser, wie die Sicherheitsexperten seit Jahren betonen, schon längst nicht mehr alleine militärische Einrichtungen oder Regierungsbehörden bedroht, sondern praktisch an jeder Stelle der hochorganisierten Industriestaaten zuschlagen kann, gibt es keinen Bereich der Gesellschaft, der von dem nun ausgerufenen politischen Paradigmenwechsel nicht betroffen wäre. Auf der einen Seite "Eine Welt", so Bundeskanzler Schröder über die nun um so mehr zur Schicksalsgemeinschaft zusammengeschmiedete Bevölkerung der westlichen Welt, deren Interdependenz so hochgradig sein soll, daß ihre Verletzlichkeit angeblich größer denn je ist, auf der anderen Seite praktisch unsichtbare Angreifer, die die hochentwickelte Maschinerie gegen sich selbst ausspielen - dieses Szenario verlangt nach jener starken Medizin, die in den Labors der Sozialtechnokraten zwar schon lange bereitliegt, jedoch aufgrund ihrer Toxizität für konventionelle Verfassungsgrundlagen bislang nur bedingt eingesetzt wurde."

"Der ehemalige US-Außenminister James Baker, ein politischer Veteran aus der Amtszeit Bush seniors und Architekt der Golfkriegsallianz, behauptet, diese politischen Vorgaben hätten die Hände der USA hinter ihrem Rücken gefesselt, nun sei es jedoch an der Zeit, sie loszubinden und die Handschuhe auszuziehen, um die Feinde des Landes zu bestrafen. Diese exemplarische Stimme steht für die große Gruppe der Politiker, die nun die Stunde für gekommen halten, die bereits ausgiebig prognostizierte Zukunft autoritärer Staatlichkeit in die Tat umzusetzen."

"Dabei ist nicht einmal geklärt, wer überhaupt für die Anschläge verantwortlich sein könnte, doch die Formierung der westlichen Welt zur legitimen Vergeltung ist in vollem Gange. Ihr steht die Erinnerung an die offen bekundete Freude vieler US-Bürger über die Bombardierung Bagdads 1991 ebenso im Weg wie die Dämonisierung Nordvietnams zur Rechtfertigung eines Vernichtungskriegs gegen seine Bevölkerung oder die Überzeichnung "der Serben" zur Ausgeburt barbarischer Grausamkeit, um zu ihrer Bestrafung und Umerziehung schreiten zu können. Die eigene Legitimationspraxis wird nun allen Stimmen angelastet, die es wagen, auch nur ein in sich bereits gebrochenes, weil reale Faktoren ausblendendes Bild wie die "Gewaltspirale" auf diese Katastrophe anzuwenden."

"Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten genießt seit vielen Jahren das Privileg, niemals in die Lage der vielen Opfer ihrer Bomben und Granaten zu geraten, und hat darüber vergessen, in welche Gefahr sie durch die eigene Regierung gebracht wird. Nicht nur die eigenen Soldaten, sondern auch die solcher Klientenstaaten wie Israel oder die Türkei bringen Tod und Verderben über der Wucht amerikanischer Kriegstechnik ohnmächtig ausgelieferte Menschen, von denen der amerikanische Steuerzahler im besten Falle vorgibt, nicht zu ahnen, daß seine Dollars etwas mit ihrem Leid zu tun haben. Die "Kriegserklärung", so das stehende Wort des Tages über die Intention der Anschläge, ist ebenso wenig und so sehr erfolgt, wie etwa der Angriff der NATO auf Jugoslawien kein Krieg gewesen sein soll oder der langjährige Feldzug gegen Vietnam niemals zum offiziell erklärten Kriegszustand geführt hat. Es handelt sich viel mehr um eine Folge des kalkulierten Risikos, mit dem Washington seit jeher Politik macht und das es bislang zu eigenen Gunsten gegen andere Menschen und Länder wenden konnte."

"Das Ausmaß der Zerstörung und Gewalt mögen gigantisch gewesen sein, die Absehbarkeit eines solchen Ereignisses war, so behaupten es zumindest die Sicherheitsbehörden, die offensichtlich um die Untiefen amerikanischer Weltpolitik wissen, jedoch ebenso gegeben, wie die nun erwartete Reaktion Washingtons angeblich unausweichlich ist. Auf der Strecke der Eskalation liegt hierzulande die ultimative Einforderung der Parteinahme zugunsten der USA, und sie ist vom Geist einer Vergeltung durchdrungen, die wenig Gutes für die notorischen Abweichler, wo auch immer sie sich befinden mögen, im Gepäck hat."

"Bundeskanzler Schröder hat den USA schon gestern "bedingungslosen Beistand" versprochen und von einer "Kriegserklärung" geredet. Sollte Washington dieses Angebot für bare Münze nehmen und die Beistandsverpflichtung der NATO gegen einen Gegner, über den noch nichts bekannt sein kann, einfordern, dann ist man auf dem besten Wege, dem Klub der brutalen Massenvernichter endgültig beizutreten. Man heißt die Anschläge von New York und Washington nicht gut, weil man gegen einen Vergeltungsschlag ist, sondern hält ihnen die Option einer anderen, nicht auf Rache basierende Politik entgegen, die schließlich dem moralischen Kern aller Werte entspricht, mit denen die westliche Welt ihren Vormachtanspruch untermauert. Man heißt ihn allerdings gut, wenn man ihn zum Ausgangspunkt für, wie es so schön heißt, eine asymmetrische Reaktion nimmt."

"Hatten die Sicherheitsbehörden ihren Anspruch auf größere Budgetierung und schärfere Gesetze bisher durch die bloße Bedrohung begründet, so kann man ihn nun durch die Katastrophe von New York und Washington untermauern. Das gleiche gilt für die hegemonialen Pläne der Länder des Nordens, deren "proaktive" Stabilitätsdoktrin nicht mehr nur durch "robuste" Interventionen, sondern durch die administrative Ausrichtung der Gesellschaften auf das Primat ihrer Abwehrkraft hin durchzusetzen ist. Daß die Politik der harten Hand und des ökonomischen Mangels in erster Linie die Voraussetzungen dieser Eskalation geschaffen hat, taucht im Pragmatismus der Sachzwangdynamik nicht auf."

(Erstveröffentlichung am 12. September 2001)

10. September 2011