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HEGEMONIE/1742: Europäische Einigung ... Trugbild zur Formation unumkehrbarer Herrschaft (SB)



So viel aus der historischen Perspektive katastrophaler Staatenkriege für die europäische Einigung spricht, so sehr ist sie unter dem Vorzeichen der kapitalistischen Marktwirtschaft einem Interesse anheimgefallen, das nicht das der großen Mehrheit der Menschen sein kann. Sie werden vom Zerrbild einer interessenbedingten Krisenanalyse, die sie trotz ihres erbrachten Einsatzes in der Arbeitsgesellschaft bezichtigt, über ihre Verhältnisse gelebt zu haben, in die Irre einer monokausalen Logik geführt, die den Erhalt des herrschenden Verwertungssystems als einer allen Menschen dienenden Ordnung zu einem quasireligiösen Glaubensbekenntnis erhebt. Dagegen erhobene Einwände fallen einer totalitarismustheoretisch bewehrten Extremismusdoktrin zum Opfer, die demagogische Denunzierung und strafrechtliche Verfolgung an die Stelle einer inhaltlichen Debatte um Sinn und Zweck herrschender Machtverhältnisse hat treten lassen.

Die desolate Lage in Portugal, dessen Regierung sich wie ein Musterschüler an den Katechismus des neoliberalen Strukturwandels gehalten hat, ohne daß die Bevölkerung von der Krise des Kapitals verschont geblieben wäre, widerlegt die in ihrer Totalität absolut gesetzte Behauptung, der katastrophale Zustand Griechenlands sei Folge einer verfehlten Steuerpolitik, eines korrupten Beamtenapparats und so aufgeblähter wie ineffizienter administrativer Strukturen. Die Krise des Kapitals geht über zweifellos vorhandene, in ihrer Genese allerdings wiederum systembedingter Mißstände hinaus sehr viel tiefer, als es die zu veritablen Nationalpathologien ausgebauten Bezichtigungen derjenigen glauben machen, die von ihr noch zu profitieren vermögen. Ihnen geht es darum, das bereits Erreichte unumkehrbar zu machen und die Forderung nach der Sozialisierung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts vollends zu tabuisieren.

Indem die europäischen Bevölkerungen unter dem technokratischen Regime eines Euro, der die von Erwerbsarbeit und Sozialtransfers Abhängigen standortpolitisch gegeneinander ausspielt, an die Ziele ihrer nationalen Regierungen und Kapitale gebunden werden, wurde das Projekt der europäischen Einigung als eines mit demokratischen Mitteln von unten organisierten Prozesses längst aufgekündigt. Der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit wurde mit administrativer Sachzwanglogik befriedet und hat einer Hackordnung der Nationalstaaten Platz gemacht, deren repressive Wirkung auf das Potential des sozialen Widerstands desto größer ist, als die Homogenisierung autoritärer Regierungspraktiken auf supranationaler Ebene Ausweichmanöver und Fluchträume geschlossen hat.

Wo politische Aktivisten früher Asyl in anderen europäischen Staaten erhalten konnten oder in bestimmten Ländern verbotene Organisationen Zuflucht im Nachbarland fanden, wurde ein multidimensionales System politischer Repression geschaffen, das vom Europäischen Haftbefehl über EU-Terrorlisten, die unter völlig undurchschaubaren Bedingungen erstellt werden, und Sicherheitsbehörden mit grenzüberschreitender Kompetenz bis zu europäischen Interventionskräften, die im Zweifelsfall auch unzuverlässige Einheiten nationaler Polizeikräfte zur Räson bringen können, eine bis dato nicht gekannte Form supranationaler Kontrolle etabliert. Dieses Regime richtet sich nicht zuletzt gegen die grenzüberschreitende Organisation des sozialen Widerstands, wie etwa der Einsatz europaweit agierender Polizeispitzel oder die Einrichtung einer EU-Datenbank zur Beobachtung von Radikalisierungstendenzen belegen. Ein europäischer Generalstreik ist schon aus Gründen klientelistisch agierender Gewerkschaften so undenkbar, wie die konstitutionelle Verankerung der kapitalistischen Marktwirtschaft auf EU-Ebene Tatsachen geschaffen hat, die gesellschaftliche Veränderungen antikapitalistischer Art wirksam verhindern. Investitionsschutz, Wettbewerbsgerechtigkeit und Marktordnung werden gegen politische Aktionsformen des Streiks, des Boykotts und der Blockade ins Feld geführt, um im Ernstfall mit exekutiver Gewalt erzwungen zu werden.

Von daher ist es nur folgerichtig, wenn die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) den lauter werdenden Chor der Stimmen, die das Land aus der Eurozone verbannen wollen, mit der Forderung seines Austritts aus der EU überholt. Unter der Bedingung einer supranational organisierten administrativen Verfügungsgewalt, in der die Interessen der führenden EU-Staaten tonangebend sind, steht jede Initiative des sozialen Widerstands von potentiell gesellschaftsverändernder Wirkung vor dem Problem, nicht nur gegen die eigene Oligarchie anzutreten, sondern in einen EU-europäischen Legalismus eingebettet zu sein, der selbst einem mit demokratischen Mitteln vorangetriebenen Bruch des kapitalistischen Systems unüberwindliche Hindernisse in den Weg stellt.

Für einen Neustart der EU unter demokratischem und sozialistischen Vorzeichen, wie ihn die deutsche Linkspartei oder das griechische Linksbündnis SYRIZA fordern, stehen die Chancen dementsprechend schlecht. Das unter linken Aktivisten in der Bundesrepublik gemiedene, weil ad hoc als Domäne der Rechten identifizierte Thema einer durch den Austritt diverser Staaten erfolgenden Demontage der EU ist zumindest solange diskussionswürdig, als die herrschenden Machtverhältnisse eine grundsätzliche Veränderung im Rahmen demokratischer Institutionen als äußerst unwahrscheinlich erscheinen lassen. Wo EU und NATO mit anwachsender Selbstherrlichkeit einen supranationalen, jeder demokratischen Intervention enthobenen Dezisionismus praktizieren, dessen exekutiver Vollzug die Bevölkerungen immer mehr in die Defensive ohnmächtiger Reaktion treibt, wo die Unterstellung einer postnationalen europäischen Einigung de facto einen Imperialismus nationalstaatlicher Eliten hervorbringt, der dem strategischen Dispositiv technokratischer Herrschaft gemäß keinen Unterschied mehr zwischen äußerer und innerer Sicherheit, sprich Repression, macht, da ist auch ein Neustart der Debatte über das Verhältnis der Linken zu dieser Form europäischer Einigung geboten.

12. Februar 2012