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HEGEMONIE/1793: Nein und wieder Nein zu Mangelverwaltung und Notstandsregime (SB)



Was hat sich in der Zeitspanne von neun Monaten zwischen dem 25. Januar 2015, als Syriza mit 36,34 Prozent ein für die noch junge Linkspartei grandioses Ergebnis bei den griechischen Parlamentswahlen erzielte, und dem 20. September 2015, als sie bei vorgezogenen Neuwahlen mit 35,47 Prozent wiederum als stärkste Partei von der Bevölkerung mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, verändert? Von der Hoffnung auf einen kämpferischen Aufbruch der griechischen und damit europäischen Linken blieb die Einsicht, daß der Glaube an die Macht demokratischer Willensbildung nirgendwo hinführt außer in die Ohnmacht neuerlicher Unterwerfung. Es wurden neue Maßstäbe für linke Realpolitik gesetzt, während der revolutionäre Elan, einmal als nichtakzeptabel erkannte Verhältnisse unumkehrbar zu überwinden, ins Refugium geheimer Wünsche verwiesen wurde.

Der Aufschrei moralischer Empörung über die Politik des alten und voraussichtlich neuen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras hilft wenig, denn der "Verrat" war schon in dem Spagat angelegt, sich auf den Verbleib in EU und Eurozone festzulegen und den Kampf gegen die Herren der Festung quasi von innen zu führen. Nach dem überwältigenden "Nein" der griechischen Bevölkerung zur Memorandumspolitik der Troika wäre es nicht zu spät gewesen, den Austritt zumindest aus der Eurozone zu wagen, zumal der frühere Finanzminister Yanis Varoufakis enthüllt hatte, daß für einen solchen Fall bereits Vorkehrungen getroffen waren. Hätte die griechische Regierung die unversöhnliche Haltung der Troika und die dadurch notwendig werdende Konsequenz, keine vergeblichen Verhandlungsangebote mehr an sie zu machen und die Eurozone zu verlassen, im Sinne des Nein öffentlich diskutiert, dann hätte es durchaus breite Unterstützung für diesen Schritt geben können. Die Verstaatlichung der Banken unter Regie einer vom Euro unabhängigen Zentralbank, die Rücknahme aller Privatisierungsvorhaben, die starke Besteuerung der Finanzwirtschaft und großer Vermögen, die Vergesellschaftung wichtiger Schlüsselindustrien und Infrastruktureinrichtungen sowie die öffentliche Förderung aller Strukturen kommunaler Selbstorganisation und privater Subsistenz hätten einen Neubeginn ermöglicht, der für andere EU-Staaten unter Krisenverwaltung zum Vorbild hätte werden können.

Doch mit der nur wenige Tage später erfolgten Unterwerfung unter das Diktat der Gläubiger wurde der Mut des Aufbruchs in die Ohnmacht umgemünzt, den Schritt in das Ungewisse nicht zu wagen, weil die damit verbundenen Gefahren als unkalkulierbar erschienen. Tatsächlich ist nichts daran zu beschönigen, daß die Aufkündigung des Schuldendienstes und die Rückkehr zu einer unter Weltmarktbedingungen quasi wertlosen Drachme Gewaltoptionen auf den Plan gerufen hätte, die vom Bürgerkrieg bis zur NATO-Intervention reichen. Nicht umsonst wurde Syriza von den Funktions- und Kapitaleliten der EU systematisch diskreditiert und demontiert, nicht umsonst wurden Vorkehrungen getroffen, die einer kolonialistischen Okkupation gleichkommen. Die mit dem Abtragen der realistischerweise niemals mehr zu begleichenden Staatsschuld von über 300 Milliarden Euro begründeten Maßnahmen der Enteignung öffentlicher Einrichtungen, der Mehrwertsteuererhöhung, Renten- und Sozialkürzung sind durch die faktische Aushebelung der Souveränität der griechischen Bevölkerung und Regierung abgesichert:

Die Regierung muss die Institutionen zu sämtlichen Gesetzesentwürfen in relevanten Bereichen mit angemessenem Vorlauf konsultieren und sich mit ihnen abstimmen, ehe eine öffentliche Konsultation durchgeführt oder das Parlament befasst wird. [1]

Wenn einige der Menschen, die am 5. Juli laut "Oxi" gerufen haben, nun ihre Hoffnung in ein Programm der Schadensbegrenzung setzen, dann ist ihnen nicht einmal diese Aussicht gewiß. Tsipras kann nach dem Wahlsieg erklären, die Armen schützen zu wollen, und wird dennoch daran scheitern, daß der Finanzierungsvorbehalt des Memorandums mit den entsprechenden Durchgriffsrechten der sogenannten Institutionen versehen ist. Dem Vorhaben der Koalitionsregierung aus Syriza und Anel, die großen Kapitaleigner des Landes stärker zu besteuern, wurde seitens der Troika nicht entsprochen, weil eine solche Maßnahme angeblich der Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft schade. Mit dem gleichen Argument wird der lohnabhängigen und versorgungsbedürftigen Bevölkerung immer mehr von dem genommen, was sie ohnehin kaum noch hat. Im Ergebnis heißt das nichts anderes, als daß die Verfügungsgewalt über den Kredit die Kontrolle der Arbeit durch diejenigen, die sie so billig wie möglich kaufen wollen, begründet.

Die damit aufgeworfene Klassenfrage wird von Syriza - und dem rechten Koalitionspartner ohnehin - nicht zugunsten einer Position entwickelt, die die Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung bezweckt. Mehr als die Ankündigung eines karitativen Entgegenkommens gegenüber den Bedürfnissen notleidender Menschen ist nicht drin, und das ist auch die Aufgabe einer sozialdemokratischen Linken im neoliberalen Kapitalismus. Die soziale Verelendung verwalten und dafür Sorge tragen, daß der Deckel auf dem Topf herrschender Ungleichheit bleibt, ist das, wonach realpolitisches Krisenmanagement verlangt. Daß die einstige Hoffnungsträgerin Syriza innerhalb eines Dreivierteljahres zur Sachwalterin eines neofeudalen Okkupationsregimes verkommen ist, kann ihr allerdings nicht allein angelastet werden.

Daran haben all diejenigen Verbündeten Syrizas teil, die den Austritt aus EU und Euro nicht in eine Waffe in der Konfrontation mit den Gläubigern verwandeln wollen, indem sie die Reformierbarkeit dieser EU propagieren. Daran hat eine europäische Linke teil, die aller revolutionären Utopie entsagt und affirmativ mit den herrschenden Verhältnissen argumentiert, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß es ihr an Mut für die Unbescheidenheit dieses Vorhabens mangelt. Daran hat nicht zuletzt die Mimesis einer sozialdarwinistischen Logik teil, die mit der Angst vor dem Verlust noch vorhandener Überlebensgarantien eine Spaltungsstrategie befeuert, die die Isolation des Menschen bis ins Atom des fremdbestimmten Marktsubjekts treibt.

Mit der zweiten Kür einer mehrheitlich linken Regierung in Athen tritt das Soziallabor Griechenland in einen Zyklus des längst zum Alltag gewordenen Notstandes ein, in dem demokratische Ansprüche so schnell an die Grenzen ihrer faktischen Realisierbarkeit stoßen, daß es kaum noch Anreize zu ihrer Artikulation gibt. Die um 7 Prozent auf 56,5 Prozent zurückgegangene Wahlbeteiligung belegt, daß sich immer weniger Griechinnen und Griechen etwas vom Parlamentarismus erhoffen. Etwas mehr als 1,9 Millionen unter den etwas mehr als 9,8 Millionen registrierten Wählerinnen und Wählern und damit ein Fünftel der Bevölkerung hat Syriza damit betraut, die Verwaltung der Dauerkrise zu übernehmen, wohl wissend, daß sie dies in den engen Parametern der Memorandumspolitik tut. Ein neuer Aufbruch, wer auch immer ihn initiiert, wird es ungleich schwerer haben als der von viel Sympathie in ganz Europa getragene Versuch, das Problem der griechischen Staatsschulden in gütlichem Einvernehmen mit den Gläubigerinstitutionen zu lösen. Da dieses Problem nicht von der globalen Krise kapitalistischen Wertwachstums zu lösen ist, muß ein weiterer Versuch, eine Gegenposition aufzubauen, von Anbeginn an radikaler mit den herrschenden Verhältnissen brechen.


Fußnote:

[1] GRIECHENLAND/001: Grexit auf Raten - Bankett der Banken ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/brenn/p1gr0001.html

21. September 2015


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