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HEGEMONIE/1820: Nord Stream 2 - Selbstbesinnung gefragt ... (SB)



Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ist nach Kiew und Moskau gereist, um die Quadratur des Kreises zu erwirken. Es geht dabei um nichts weniger als ein politisches Gesamtkonzept für die geplante Ostseepipeline Nord Stream 2, "mit dem alle Staaten in der EU, mit dem Russland und die Ukraine, leben können" [1]. Unerwähnt ließ Altmaier die USA, die im Konzert einander widersprechender Interessen auf dem Energiesektor in schrillen Tönen mitmischen. Wie schon ihre am 8. November 2011 eingeweihte Vorgängerin Nord Stream 1 gleicht das Nachfolgemodell um so mehr einem Pulverfaß, da diverse brisante politische und wirtschaftliche Konkurrenzverhältnisse aufeinanderprallen, von ökologischen Risiken des Großprojekts ganz zu schweigen. Altmaier fällt dabei die Aufgabe eines Eisbrechers zu, der Kompromisse ausloten soll, die Wladimir Putin und Angela Merkel dann Ende der Woche bei ihrem Treffen in Sotchi verkünden könnten.

Im Spagat deutscher Interessen an einer gesicherten Energieversorgung und Geschäften hiesiger Unternehmen mit Rußland auf der einen und Unterstützung der Sanktionspolitik Washingtons wie auch der EU auf der anderen Seite hat sich die Bundesregierung bislang auf die Ausflucht zurückgezogen, die neue Pipeline sei ein unternehmerisches Vorhaben, in das sich die Politik nicht einmische. Die politische Dimension von Nord Stream 2 läßt sich jedoch nicht länger ausblenden, zumal vor dem Hintergrund des von US-Präsident Donald Trump losgetretenen Handelskrieges, der wiederum nur ein Vorbote massiver geostrategischer Umwälzungen sein dürfte. Zugleich ist die Bundesrepublik keineswegs ein bloßer Spielball zwischen den Mühlsteinen mächtiger Akteure, sondern strebt über die Führungsposition in Europa hinaus wachsende Einflußnahme in den angrenzenden Weltregionen an.

Die umstrittene zweite Gaspipeline soll ebenfalls von Sankt Petersburg durch die Ostsee nach Greifswald führen und ab 2020 jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas transportieren können. Die Regierung in Kiew fürchtet, abgehängt zu werden, da die bislang genutzten Pipelines, die über ukrainisches Territorium führen, künftig kaum noch gebraucht würden. Der mit immensen wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfenden Ukraine entgingen Transitgebühren von jährlich zwei Milliarden Dollar, und der Konflikt im Osten könnte sich weiter verschärfen, wenn Rußland nicht mehr auf den Gastransit durch die Ukraine angewiesen ist. Die stellvertretende Außenministerin der Ukraine, Jelena Zerkal, fährt schweres Geschütz gegen die Pipeline auf und erklärt, Nord Stream 2 würde Deutschland zu einem europäischen Gasdrehkreuz machen und seine Macht in Europa festigen. Bundeskanzlerin Merkel befürworte das Projekt, weil Deutschland den größten Gasmarkt aufweise und die volle Kontrolle über die kleineren Länder anstrebe. [2]

An einem für Kiew erträglichen Kompromiß müßte allerdings auch die russische Regierung Gefallen finden, für die über den Ukrainekonflikt hinaus weit mehr auf dem Spiel steht. Die Annäherung und engere wirtschaftliche Zusammenarbeit während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders schien ein Phase wachsender Kooperation einzuleiten, die auf Grundlage gefestigter ökonomischer Beziehungen auch einen welt- und sicherheitspolitischen Ertrag versprach. Dies hätte der Einkreisung Rußlands durch den Vormarsch der NATO und die Osterweiterung der EU im günstigsten Fall die Spitze nehmen und einer Partnerschaft mit Europa den Weg bereiten können. Inzwischen herrscht jedoch wieder kalter Krieg, so daß es bei der Kontroverse um Nord Stream 2 eher darum geht, eine weitere Eskalation zu verhindern.

An dem Milliardenprojekt des russischen Gazprom-Konzerns sind über die Finanzierung auch deutsche Unternehmen wie Wintershall und Uniper beteiligt, die Röhren sind bereits produziert, doch der Baubeginn verzögert sich. Deutsche Firmen, die Geschäfte mit Rußland machen, beklagen seit Jahren die auch seitens der Bundesregierung unterstützten Sanktionen und rufen sie zumeist vergeblich auf, die Ostwirtschaft nicht weiter zu schädigen. Vor Altmaiers Reise hat Michael Harms, Geschäftsführer beim Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft, die Bundesregierung aufgefordert, beim Ostsee-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 eine Vermittlerrolle zwischen der Ukraine und Rußland einzunehmen. Wie er argumentiert, gehe es bei den Verhandlungen zwischen dem russischen Gaskonzern Gazprom und der ukrainischen Gasgesellschaft Naftogaz vor allem um den Umfang des Gastransits durch die Ukraine. Es herrsche Einigkeit darüber, daß das ukrainische Transitnetz weiterhin benötigt wird, weil der Importbedarf in der EU steigt und Nord Stream 2 noch auf Jahre nicht mit voller Kapazität zur Verfügung stehen wird. Die Frage sei nun, auf welche Durchleitungsmengen sich die beiden Seiten einigen können.

Die EU-Kommission lehnt Nord Stream 2 weiterhin mit der Begründung ab, dadurch wachse die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen. So kritisierte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager das Vorhaben jüngst mit den Worten, es sei nicht im europäischen Interesse: "Wir haben die gemeinsame Strategie, unsere Energie aus vielfältigen Quellen zu beziehen - und uns nicht so stark von Russland abhängig zu machen." Dies sei nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes geboten, betonte die Kommissarin, es gehe auch um Sicherheitsinteressen. Noch deutlicher wurde die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock mit dem Vorwurf, das Pipeline-Projekt konterkariere die Sanktionspolitik der EU: "Das Projekt wird allein aus wirtschaftspolitischen Gründen betrieben, aber europapolitisch läuft es allen Ansprüchen zuwider."

Neben der Ukraine lehnen auch Polen oder die baltischen Länder, die sich umgangen fühlen, Nord Stream 2 entschieden ab. So fordert Warschau eine neue Pipeline über polnisches Territorium, da ein Verlauf durch die Ostsee zum Verlust von Transitzahlungen für russisches Gas führen würde, das momentan durch Polen geleitet wird. Auch könnte Rußland nach Abschluß des Baus von Nord Stream 2 seine Gaslieferungen nach Polen aussetzen, ohne Deutschland und anderen westlichen Verbraucherländern zu schaden. Der damalige polnische Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski verglich 2006 den deutsch-russischen Vertrag sogar mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Die südosteuropäischen Staaten haben unter massivem deutschen Druck im Zuge der Sanktionen gegen Rußland Anfang 2015 auf das Konkurrenzprojekt South Stream verzichtet. Diese Staaten werfen Deutschland Doppelzüngigkeit vor, wenn Nord Stream 2 trotzdem weiterverfolgt wird.

Aufgewühlt wird diese ohnehin schon komplexe Gemengelage durch die USA, die im August 2017 ein Gesetz für verschärfte Sanktionen gegen Rußland verabschiedet haben, die dessen Energiesektor treffen sollen. Damit will die Regierung Trump auch die US-Gasexporte zu Lasten der russischen steigern und Arbeitsplätze in den USA schaffen: Hochpreisiges amerikanisches Flüssiggas aus dem extrem umweltschädlichen Fracking soll russische Erdgaslieferungen vom europäischen Markt verdrängen. Der wegen seiner Drohungen gegen deutsche Unternehmen bereits umstrittene neue US-Botschafter in Berlin, Richard Grenell, hat vor "russischem Einfluss" auf Deutschland und Europa durch Nord Stream 2 gewarnt: "Wir sind sehr besorgt wegen des Pipeline-Projekts", so Grenell. Die USA arbeiteten eng mit den Europäern zusammen, die ebenfalls besorgt seien. Die gegenwärtige Pipeline-Strategie bezeichnete er als "sehr problematisch". Daß es nicht zuletzt darum geht, das teure US-amerikanische Fracking-Gas in Europa zu verkaufen, erwähnte er nicht. [3]

Wie in Vergessenheit zu geraten droht, wurden die Planungen zum Bau der Ostsee-Pipeline anfangs von der EU unterstützt, die dem Projekt im Jahr 2000 eine prioritäre Stellung im Programm Transeuropäische Netze einräumte. Diese Haltung änderte sich sukzessive, als Rußland Ende 2005 der Ukraine wegen nicht beglichener Rechnungen Gaslieferungen sperrte, wodurch es kurzfristig auch zu Lieferausfällen in die EU kam. Obgleich die russische Handlungsweise durchaus nachvollziehbar war und sich in der Ukraine Figuren wie die als "Gasprinzessin" bekanntgewordene Julia Timoschenko exzessiv am Gastransit bereichert hatten, setzte sich westlicherseits die Bezichtigung einer Erpressung durch Rußland durch. Auf EU-Ebene wurden Überlegungen vorangetrieben, eine eigene Energieaußenpolitik zu entwickeln und künftig Energiequellen, Lieferanten und Transportwege stärker zu diversifizieren. In diesem Zusammenhang wurde beschlossen, den Bau einer anderen Gaspipeline unter Umgehung Rußlands vom Schwarzen Meer nach Österreich in der Gestalt der Nabucco-Pipeline zu unterstützen, die jedoch nicht realisiert werden konnte.

Man kann das Argument möglicher Erpressung im Verlauf einer Pipeline natürlich ebensogut umkehren und argumentieren, daß Transitländer das Passieren ihres Territoriums mitunter als Druckmittel nutzen, um exklusive Lieferbedingungen für sich selbst durchzusetzen. Gasexporte von Rußland nach Westeuropa auf direktem Weg durch die Ostsee machen Lieferant und Konsumenten unabhängig von Schwierigkeiten durch Transitländer, die beispielsweise Preisangleichungen an das europäische Niveau nicht akzeptieren wollen und dadurch die Versorgungssicherheit Westeuropas gefährden. Einmal davon abgesehen, daß es dabei um Profite und Devisen geht, so daß grundsätzlich mit harten Bandagen gekämpft wird, wäre durchaus eine relativ stabile gesamteuropäische Versorgungsstruktur unter Einbeziehung Rußlands denkbar und wohl auch realisierbar, stünde dem nicht das langfristige Interesse im Wege, einen Regimewechsel in Moskau herbeizuführen und Verfügung über die enormen Ressourcen des Landes zu erlangen.

Daß die deutschen Eliten das alte Ziel des Vorstoßes nach Osten in neuem Gewand verfolgen, mag zur Erklärung beitragen, warum eine Sanktionspolitik unterstützt wird, die teils ins Fleisch der eigenen Wirtschaft schneiden kann. Das politische Kalkül sortiert seine Prioritäten anhand der Feindbilder, und wer Rußland auf die eine oder andere Weise angreifen will, definiert den Bezug von russischem Gas zwangsläufig als Abhängigkeit und nicht in erster Linie als strategischen Vorteil im Kontext partnerschaftlicher Beziehungen.

Von diesen geostrategischen Einschätzungen unberührt bleibt die ökologische Grundsatzfrage. Rußland, Europa und die USA setzen gleichermaßen auf eine fossilistische Energieversorgung durch Öl, Gas und Kohle, die den Klimawandel anheizt. Die dafür erforderliche Infrastruktur birgt in jedem Fall akute Gefahren, weshalb eine Abwägung zwischen Fracking und einer weiteren Ostseepipeline, die mit dem vermeintlich kleineren Übel argumentiert, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben versucht. Sich in Gestalt opportuner Vorteilserwägungen auf eine Diskussion deutscher Standortpolitik zu beschränken, blendet deren aggressiven Verbrauch von Mensch und Natur aus. Eine solche Debatte führt keinesfalls dazu, der Ultima ratio des Strebens, sich auch und gerade in Krisenzeiten tunlichst einen Platz an den Fleischtöpfen zu sichern, den Rang abzulaufen.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/altmaier-in-kiew-und-moskau-die-pipeline-als-politikum.1773.de.html

[2] www.deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2018/05/14/ost-ausschuss-deutschland-muss-bei-nord-stream-2-vermitteln/

[3] www.contra-magazin.com/2018/05/nord-stream-2-usa-wollen-gaspipeline-verhindern/

14. Mai 2018


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