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HEGEMONIE/1822: Moskau - Karussell der Janusköpfe ... (SB)



Mit der gewaltsamen Ausschaltung des russischen Parlaments am 4. Oktober 1993 vollzog Boris Jelzin die Agenda von westlichen Beratern initiierter Radikalreformen, gegen die das Abgeordnetenhaus opponiert hatte. Es stand der Expansion westlicher Hegemonial- und Kapitalinteressen in die Russische Föderation entgegen. Mit seiner Beseitigung wurde der Weg von der Sowjetunion zu einem Rußland vollendet, in dem die Macht der Oligarchen im Bündnis mit Kreml und Klerus gestärkt wie durch das System der gelenkten Demokratie gegen jeden sozialen Widerstand von unten gesichert wird.

Am 21. September 1993 löste der russische Präsident Boris Jelzin mit einem verfassungswidrigen Dekret den Kongress der Volksdeputierten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) auf, um freie Hand bei der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Radikalreformen zu haben. Die Volksdeputierten verbarrikadierten sich im Sitz des RSFSR, dem Weißen Haus in Moskau, und es kam zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen auf den Straßen der russischen Hauptstadt. Entscheidend war schließlich, daß Jelzin vom Militär und den Sicherheitsbehörden unterstützt wurde. Das Parlamentsgebäude wurde am 4. Oktober mit Panzergranaten sturmreif geschossen und dabei fast zerstört. Die meisten Abgeordneten flohen, und am 5. Oktober brach der Widerstand gegen Jelzins Präsidialmacht zusammen.

Die Regierungen und Medien der NATO-Staaten begrüßten Jelzins Verfassungsputsch, der heute - so zum Beispiel im Deutschlandfunk [1] - als "Putsch gegen Boris Jelzin" bezeichnet wird, natürlich nicht ganz uneigennützig. Was gemeinhin als "Streit zwischen Reformern und Kommunisten" dargestellt wird, war der von der damals noch starken Kommunistischen Partei Rußlands unternommene Versuch, den Ausverkauf des Landes an kapitalstarke westliche Investoren und die sich formierende Oligarchenklasse im eigenen Land durch regulatorische Halteseile zumindest einzuschränken. Damals zeigte sich bereits, daß die von westlichen Beratern wesentlich organisierten marktwirtschaftlichen Reformen zu einem sozialen Kahlschlag führen sollten, der der Bevölkerung des Landes große materielle Einbußen bescherte und sie so drastisch verelenden ließ, daß die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern innerhalb kurzer Zeit von 65 auf 59 Jahre sank.

Am 12. Dezember 1993 schließlich ließ sich Jelzin per Referendum zeitgleich mit den Wahlen zur ersten Staatsduma eine Verfassung bestätigen, die die bis heute starke Stellung des Präsidenten im politischen System der Russischen Föderation begründete. Der trotz - oder gerade wegen - der gewaltsamen Ausschaltung des verfassungsmäßigen Parlaments im Westen als Freiheitsheld gefeierte Jelzin erhielt Vollmachten, die einer Präsidialdiktatur, wenn sie denn etabliert werden sollte, wenig Hindernisse in den Weg legte. Mit diesem konstitutionellen Akt, der im Gefolge des Niederschießens der parlamentarischen Opposition um so leichter durchzusetzen war, wurde das postsowjetische Regierungssystem an die autoritären Erfordernisse des neoliberalen Kapitalismus angepaßt. Der russische Präsident ernennt mit Zustimmung der Staatsduma den Regierungschef und auf dessen Vorschlag die einzelnen Minister, er ernennt den Chef der Zentralbank und das Oberkommando der Streitkräfte, er verfügt mit der Leitung des Sicherheitsrates über eine außerdemokratische Nebenexekutive, mit Hilfe derer er den Ausnahmezustand erklären und die Streitkräfte auch gegen innere Feinde mobilisieren kann. Vor allem jedoch stellt das Recht des Präsidenten, die Staatsduma aufzulösen, wenn diese dreimal den von ihm vorgeschlagenen Ministerpräsidenten ablehnt, ein wirksames Mittel gegen jegliche parlamentarische Unabhängigkeit dar. Hinzu kommt, wovon Boris Jelzin in seiner Amtszeit reichlich Gebrauch machte, die Möglichkeit, anhand von ihm verfügter Erlasse und Verordnungen per Dekret zu regieren.

Eingeschränkt wird die Machtfülle des russischen Präsidenten außerhalb seiner Bestätigung durch Wahlen und oberhalb der Schwelle schwacher parlamentarischer Opposition nur durch ein Amtsenthebungsverfahren. Dazu müßte ihn die Staatsduma des Hochverrats oder schwerer Gesetzesverstöße bezichtigen, wozu es allerdings eines Gutachtens des Obersten Gerichtshofes bedarf, das die Strafbarkeit der Handlungen des Präsidenten bestätigte, sowie einer Bestätigung des Verfassungsgerichtes über den rechtsmäßigen Verlauf der Amtsenthebung. Die "Vertikale der Macht", auf die sich Jelzins Nachfolger Vladimir Putin stützt, ist in der Russischen Föderation nicht prinzipiell anders strukturiert als etwa in Präsidialsystemen wie den USA und Frankreich, aber im Verhältnis zu diesen doch so gut ausgebaut, daß dem russischen Präsidialsystem durchaus ein besonders autoritärer Charakter nachgesagt werden kann.

Eben das wird in der EU immer wieder zum Anlaß genommen, die Legitimität des Herrschers im Kreml in Frage zu stellen. Wie sehr diese Entwicklung auf der breiten Gutheißung des Jelzinschen Verfassungsputsches nicht zuletzt durch die Bundesregierung unter Helmut Kohl wie der von westlichen Staaten ausgehenden Manipulationen zu seiner Wiederwahl beruht, gehört zu den hierzulande meist unterschlagenen Faktoren postsowjetischer Entwicklung. Die zusehends antidemokratische Herrschaftssicherung in der EU schöpft bis heute Legitimation aus der als Sieg von Freiheit und Demokratie ausgeschlachteten Wende zu Beginn der 1990er Jahre. Je mehr sich der krisenerschütterte Kapitalismus autoritärer Mittel zur Durchsetzung seiner staatlichen Ordnung bedient, desto rigider wird ein Antikommunismus, dem der Gegner längst abhandengekommen ist, so daß er ihn auf den Leichenfeldern des sozialen Krieges reanimieren muß.

Es sollte den Bevölkerungen der realsozialistischen Staatenwelt keineswegs überlassen bleiben, mit basisdemokratischen Mitteln vielleicht ganz andere Formen gesellschaftlicher Eigentumsordnung und Verfassungswirklichkeit zu schaffen. Daß die Strategie apologetischer Legendenbildung im Falle des größten aus der Erbmasse der Sowjetunion hervorgegangenen Staates mit besonders aggressiven Mitteln durchgesetzt wird, ergibt sich schon daraus, daß nur der Gedanke an die Möglichkeiten sozialer Befreiung, die aus der Oktoberrevolution hätten hervortreten können, wenn sie nicht an Unzulänglichkeiten gescheitert wäre, die dem unerreichten Ideal des Kommunismus nicht anzulasten sind, die TrägerInnen heutiger Klassenherrschaft immer noch erschauern läßt.

Analog dazu wird am Tag der deutschen Einheit gerne vergessen, daß ein eigenständiger demokratischer Weg der DDR durch die von der BRD-Regierung ausgehende gezielte Förderung rechter Kräfte zur Wendezeit torpediert wurde. Wenn heute die große Zahl neofaschistischer Verbindungen im Osten Deutschlands beklagt wird, wird kaum Rechenschaft über die systematische Diffamierung der DDR als "Unrechtsstaat" und die damit verbundene Abwertung der Lebensleistung ihrer Bevölkerung abgelegt, obwohl diese kollektive Herabwürdigung mitverantwortlich dafür sein dürfte, daß AfD und Pegida mit ihrer Anti-Establishment-Rhetorik Gehör finden. Noch weniger wird an den nationalistischen Tenor der Demonstrationen erinnert, auf denen die soziale Bewegung gegen die SED ins Fahrwasser einer nationalchauvinistischen Wiedervereinigungspropaganda manövriert wurde [2]. Geschichte wird im Lichte herrschender Interessen erzählt, anstatt im Widerstreit fundamentaler Gewaltverhältnisse entschlüsselt und auf den Stand heutiger Kämpfe gebracht zu werden. Das wäre schlichtweg unverträglich für die SachwalterInnen jener Deutungsmacht, die den Platz, auf dem alternative Sichtweisen entstehen könnten, vollständig besetzen soll.


Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/vor-25-jahren-niederschlagung-des-putschs-gegen-boris-jelzin.871.de.html?dram:article_id=429635

[2] https://www.heise.de/tp/features/Der-blinde-Fleck-in-der-Debatte-4180355.html

4. Oktober 2018


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