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HEGEMONIE/1832: Libyen - Besetzungsvorwände ... (SB)



Wir können feststellen, dass alle einig sind, dass wir das Waffenembargo respektieren wollen. (...) Ich mache mir keine Illusionen, dass das natürlich noch eine schwierige Wegstrecke sein wird.
Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Libyen-Konferenz in Berlin [1]

Auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Bismarck fand vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 in Berlin die Kongo-Konferenz statt. Damals verabschiedeten Vertreter der USA, des Osmanischen Reichs, der europäischen Mächte und Rußlands die sogenannte "Kongoakte", welche die Aufteilung Afrikas in Kolonien vorantrieb und die Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten für eine gewisse Frist einhegte, bis sich der anwachsende Druck ihrer Rivalität im Ersten Weltkrieg entlud. An die damalige deutsche Vermittlerrolle, die eine eskalierende Gemengelage konkurrierender Raubzüge formell austarierte und zugleich den eigenen Übergriff in Stellung brachte, erinnert nicht von ungefähr die aktuelle Libyen-Konferenz in Berlin. Die bedeutendste hochrangige Zusammenkunft dieser Art auf deutschem Boden seit der Petersberger Afghanistan-Konferenz vor fast zwanzig Jahren hat unter Federführung der Bundesregierung nach monatelangen Verhandlungen alle maßgeblichen Akteure zusammengeführt, um die Weichen für das weitere Schicksal des nordafrikanischen Landes und letztlich des gesamten Kontinents zu stellen. [2]

Deutschland hatte sich 2011 nicht am Angriffskrieg gegen Libyen beteiligt, der zu Sturz und Ermordung Muammar al Gaddafis führte, und auch in den vergangenen Jahren nicht in den innerlibyschen Machtkampf eingemischt. Dies begünstigte das Vorhaben der Bundesregierung, Vermittlung ohne eigene Interessen in diesem Konflikt vorzutäuschen, um damit die deutsche Ausgangsposition mit Blick auf die künftigen Auseinandersetzungen maßgeblich zu verbessern. Tatsächlich spielt das rohstoffreiche Land in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Rolle in den strategischen Entwürfen Berlins, hegemonialen Einfluß auf dem afrikanischen Kontinent zu erringen. In Libyen geht es um die Kontrolle der Fluchtrouten in Richtung Europa, dessen vorgelagerte Flüchtlingsabwehr unter deutscher Führung konzipiert und durchgesetzt wurde. Zudem war das Land 2018 nach Rußland und Norwegen drittgrößter Erdöllieferant der Bundesrepublik, wobei der Konzern Wintershall-DEA dort einer der größten Förderer ist. Und nicht zuletzt sieht die deutsche Exportwirtschaft in Libyen einen vielversprechenden Absatzmarkt, wie das schon vor 2011 der Fall gewesen war. [3]

Wollte man von einer diplomatischen Meisterleistung insbesondere der Bundeskanzlerin sprechen, so bestand diese darin, die Formel der Nichteinmischung durchzusetzen, um damit der deutschen Einmischung den Weg zu bereiten. Dazu war es erforderlich, alle Beteiligten darauf einzuschwören, daß keiner der maßgeblichen Akteure diesen Stellvertreterkrieg für sich entscheiden kann, weshalb eine Übereinkunft kompromißfähig ist, die vorerst auch die Gegenseite bremst. In der gemeinsamen Abschlußerklärung verpflichten sich alle Akteure, eine Einmischung in dem bewaffneten Konflikt oder in die inneren Angelegenheiten Libyens zu unterlassen. Zudem sollen internationale Anstrengungen zur Überwachung des Waffenembargos verstärkt, die Milizen umfassend demobilisiert und entwaffnet und Verletzungen eines Waffenstillstands sanktioniert werden.

Natürlich bleibt diese Vereinbarung bloße Makulatur, sofern ihre Einhaltung nicht überwacht und durchgesetzt wird. Genau darin sehen EU und Bundesregierung den Ansatzpunkt, verlorenen Boden gutzumachen und sich in vorderster Front zu positionieren. Der Ministerpräsident der sogenannten Einheitsregierung, Fajes Al-Sarradsch, hat die Entsendung einer UN-Schutztruppe gefordert, um seinem Widersacher Khalifa Haftar Einhalt zu gebieten. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat eine Schutztruppe der EU für Libyen vorgeschlagen. Und dieser Ruf nach einer Militärintervention fiel nicht nur in der Großen Koalition auf fruchtbaren Boden. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erklärte, es sei "vollkommen normal", daß sich auch Deutschland in einen auswärtigen Militäreinsatz in Libyen einbringe. Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter forderte die EU auf, sich als "handlungs- und gestaltungsfähigen Akteur gegenüber Russland und den Regionalmächten ins Spiel zu bringen". Der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid erklärte, Deutschland müsse "offen sein für eine solche Mission". Auch der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour hält es für "unklug, einen europäischen Einsatz in Libyen von vornherein auszuschließen".

Angela Merkel hat wie schon in diversen internationalen Konflikten der Vergangenheit abermals vorexerziert, daß das Beharren auf eine diplomatische Lösung nicht zwangsläufig die Ausflucht des Papiertigers sein muß. Zwar war die von Putin und Erdogan erzwungene Waffenruhe Voraussetzung der Berliner Konferenz, doch gelang es weder Italiens Premier Giuseppe Conte noch Wladimir Putin, eine Verständigung zwischen Sarradsch und Haftar herbeizuführen. Sarradsch verweigerte ein Gespräch mit Conte, weil dieser Haftar zuerst empfangen hatte. Haftar reiste aus Moskau ab, ohne den vereinbarten Waffenstillstand zu unterzeichnen und brüskierte damit seine Gastgeber. Deutsche Diplomatie brachte die beiden Erzrivalen nach Berlin und hielt sie wie auch alle anderen Beteiligten durch intensive Gespräche davon ab, im letzten Augenblick querzuschießen. [4]

Seit September hatten in Berlin fünf Treffen ranghoher Diplomaten aus den beteiligten Ländern stattgefunden. Erst als die Verhandlungsführer im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt signalisierten, daß eine Einigung in greifbarer Nähe sei, entschied sich Merkel dafür, die Staats- und Regierungschefs an einen Tisch zu bitten. In den Vorgesprächen waren Grundzüge der "Berliner Erklärung" entstanden, die beim Gipfel nach Klärung der letzten offenen Fragen verabschiedet werden sollten. Doch erst als sich Merkel bei Putin in Moskau die Zusage abgeholt hatte, daß auch er die Konferenz unterstützt, lud die Kanzlerin offiziell zum Gipfel.

Deutschland unterstützt seit September 2019 die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen. Der UN-Sondergesandte für Libyen, Ghassan Salamé, hat einen dreistufigen Friedensplan entwickelt. Zunächst muß es demnach einen Waffenstillstand zwischen der Einheitsregierung und Haftars Milizen geben. Zweitens sollen sich die Staaten, die in den Konflikt involviert sind, darauf verständigen, gemeinsam auf ein Ende der Kämpfe hinzuwirken und das Waffenembargo einzuhalten. Dann kann es schließlich auch einen innerlibyschen Friedensprozeß geben. Die Bundesregierung kann sich also darauf berufen, den UN-Gesandten bei der Umsetzung seines Friedensplans zu unterstützen und damit im Interesse der sogenannten internationalen Gemeinschaft zu handeln.

Wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zum Auftakt der Konferenz erklärt hatte, seien die "relevanten Akteure" versammelt. Daß sich die Europäer bislang nicht einig gewesen seien, sei ja kein Geheimnis, was vor allem auf das Konto der Franzosen als Helfer Haftars und der Italiener als Unterstützer Sarradschs geht. Bis vor sechs Monaten seien auch die Russen und Türken in Libyen noch "nicht relevant" gewesen. Die Europäer hätten in diesem Konflikt bisher nicht viel zu sagen, obgleich er sich im zentralen Mittelmeer praktisch vor ihrer Haustür abspielt. Sie seien also gefragt, wenn es um die Durchsetzung des UN-Waffenembargos geht: "Wenn nicht dort, wo dann?"

Wenn die EU im Libyenkonflikt Rußland und die Türkei auffordert, sich nicht einzumischen, sondern zurückzuziehen, geschieht dies nicht aus einer Position der Stärke heraus, sondern zeugt zunächst von einer machtpolitischen Defensive. Die Libyen-Konferenz hat jedoch die Karten insofern neu gemischt, als EU und Bundesregierung einen Fuß in die Tür gestellt haben, bevor diese vor ihrer Nase zugeschlagen wurde.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/politik/libyen-berlin-merkel-egos-1.4762409

[2] www.wsws.org/de/articles/2020/01/18/pers-j18.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/370859.geopolitik-gespielter-gleichmut.html

[4] www.tagesspiegel.de/politik/libyen-konferenz-in-berlin-wie-das-buergerkriegsland-befriedet-werden-soll/25446566.html

20. Januar 2020


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