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HEGEMONIE/1840: Ersatzkriege um rote Linien ... (SB)



Große Teile des Globalen Südens wollen sich nicht in die Kriegsfront der NATO einreihen. Deren Versuch, Russland auf den Schlachtfeldern der Ukraine als strategischen Gegner auszuschalten, tritt mithin als europäischer Krieg hervor. Das ist weniger eine Bedingung des Ortes als einer Geschichte, die in der Blockkonfrontation des sogenannten Kalten Krieges verwurzelt ist. Auch wenn die Russische Föderation nicht mehr die Sowjetunion ist, so hat ihr größter Nachfolgestaat die Funktion des geostrategischen Kontrahenten der westlichen Militärallianz behalten, nicht zuletzt deshalb, weil deren politische Legitimation nicht ohne einen militärischen Gegner auskommt. Vor allem die atomare Bewaffnung Russlands verleiht der Konfrontation Glaubwürdigkeit. Die strategische Parität vor 1991 ist heute auf eine Weise entsichert, dass der Albtraum der atomaren Vernichtung auch nach dem Erwachen in der alltäglichen Wirklichkeit nicht mehr aufhört.

Dabei hätte diese Zuspitzung vermieden werden können, wenn die Regierungen der NATO-Staaten auf die wiederholten Offerten der russischen Führung, etwaige Eskalationen durch intensivere regionale Zusammenarbeit, Bündnispolitik und Rüstungskontrolle zu reduzieren, eingegangen wären. Mit derartigen Avancen dürfte es auf längere Zeit vorbei sein, nun setzt die Führung in Moskau in imperialer Symmetrie zur NATO auf territoriale Expansion und die Rückeroberung als russisch identifizierter und nach 1991 unabhängig gewordener Regionen. Allein ihr atomares Drohpotential hat bisher verhindert, den Verlautbarungen westeuropäischer Regierungen, es ginge um einen Sieg der Ukraine über den Aggressor, Taten folgen zu lassen, die diese Behauptung wirksam untermauert hätten. In dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hat sich eine Wunde geöffnet, aus der viel Blut fließt.

Seit vier Monaten verlangt die Führung der Ukraine die Lieferung von mehr und effizienteren Waffen. Dem wird seitens der NATO-Staaten nur bedingt stattgegeben, was deren Behauptung, es gebe nichts Wichtigeres, als die Ukraine bei der Verteidigung des Landes gegen die russischen Invasoren nicht alleine zu lassen, als bloßen Winkelzug der Strategie erkennen lässt, den Angreifer in einen Abnützungskrieg zu verstricken. Russlands militärische Handlungsfähigkeit soll kontinuierlich geschwächt werden, ohne dafür selbst Verluste in Kauf nehmen zu müssen. Wo der von vielen Regierungen und Medien der NATO-Staaten erhobene Anspruch, den russischen Angriffskrieg vollständig zurückschlagen zu müssen, mit der Moral des "gerechten Krieges" unterfüttert wird, bleibt allerdings die Frage offen, warum für dieses hehre Anliegen keine eigenen Kräfte in die Waagschale geworfen werden.

Wieso ignorieren die VerfechterInnen einer "wertegelenkten" Außenpolitik die im Verlaufe des Konfliktes mit Russland ohnehin erodierende Vorsicht bei der Vermeidung eines Atomkrieges nicht gänzlich, um eine Kriegsentscheidung mit dem Auffahren eigener Truppen und entsprechender Feuerkraft in der Ukraine zu erzwingen? Warum müssen UkrainerInnen sterben, weil die NATO auf Sieg setzt, aber aus diesem Krieg unbeschadet hervorgehen will? Wie lässt sich eine Moral, die die Gerechtigkeit des Himmels anruft und das Böse auf der anderen Seite der Front verortet, mit dem rationalen Kalkül vereinbaren, dass dieser Feind schlicht zu mächtig ist, um sich mit ihm direkt und unvermittelt anzulegen? Wie kann die Gefahr eines Atomkrieges zum einen als Grund dieser Zurückhaltung geltend gemacht werden, während zum andern die roten Linien des Kreml unter bewusst in Kauf genommener Gefahr atomarer Eskalation permanent ausgetestet werden?

Rhetorische Fragen wie diese, die der Disparität von propagandistischer Mobilmachung und realpolitischem Hegemonialstreben entspringen, lassen zumindest erkennen, dass es der NATO nicht um den Bestand der Ukraine als souveräner Staat oder das Wohlergehen seiner Bevölkerung geht. Die ideologisch überdeterminierte Begründung, mit der die NATO die militär- und informationstechnische Aufrüstung der Ukraine wie die beispiellosen ökonomischen Sanktionen gegen Russland legitimiert, um einen unerklärten Krieg gegen den Angreifer zu führen, macht zudem vergessen, dass Staaten in einem prinzipiellen Konkurrenzverhältnis stehen. Frieden ist keine pastorale Idylle, sondern das Ergebnis von Waffengängen. Staaten sind nicht miteinander befreundet und helfen einander nicht, sie verfolgen konkrete bündnis- und handelspolitische Ziele, die sogar einen Übertritt ins Feindeslager bewirken können. Staaten sind als Rechtssubjekte keine Personen, auch wenn derartige Analogien im internationalen Recht üblich sind. So wie Russland verfolgt die NATO eigene Ziele, während die Bedeutung der Ukraine für beide Seiten nicht über die einer wohlfeilen Beute oder eines Bauernopfers hinausgeht.

Dementsprechend handelt es sich bei den Bevölkerungen um ein abstraktes Subjekt heterogener Art - längst nicht alle RussInnen sind mit der Kriegführung des Kreml einverstanden, längst nicht alle UkrainerInnen wollen ihre leibliche wie wirtschaftlichen Existenz für die Verteidigung des Landes preisgeben, längst nicht alle Menschen in den NATO-Staaten sind der Ansicht, dass es Aufgabe ihrer Regierungen sei, ihre Lebenssicherheit durch imperiale Ambitionen zu gefährden. Um so systematischer wird die Verwechslung staatlicher Konkurrenzsubjekte, die sogar die Gefahr totaler Vernichtung eingehen, um im Krieg zu obsiegen, mit ihren Insassen inszeniert.

Das heißt nicht, dass sich nicht erhebliche Teile der jeweiligen Bevölkerungen mit ihren Staatsprojekten auch zum Preis ihres Lebens identifizieren können, selbst wenn sie nicht von der nationalen Reichtumsproduktion begünstigt sind, sondern lediglich Bestätigung aus völkischer Identität saugen. Die auf Staaten projizierte Moral wird in dieser spezifischen Identität so fruchtbar wie scharf gemacht. "Wir und die anderen" - was in der Verallgemeinerung der einzelnen Menschen in Volk und Nation abstrakt bleibt, wird beim Sterben im Krieg und beim Malochen in der Fabrik konkret.

Entladen wird sich die im Spagat zwischen moralischem Anspruch und geostrategischer Realpolitik aufgebaute Spannung in einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland, sollte nicht zuvor der Abstieg von den Höhen selbstgerechter Urteilskraft erfolgt sein. Bezeichnenderweise herrscht in dieser Hinsicht bei den Hauptakteuren USA und Russland Betriebsblindheit vor.

Erstere sind in vielerlei Hinsicht ein gescheiterter Staat - im "Leuchtturm von Freiheit und Demokratie" herrscht ein Klima finsterer Gewalt und weißer Suprematie. Schwarze werden fast routinemäßig von der Polizei erschossen und sind im monströsen Gefängniskomplex weit überproportional vertreten. Sie haben schlechtere Chancen vor Gericht, eine deutlich geringere Lebenserwartung als die weiße Mehrheit, leiden am meisten unter der massiven sozialen Ungleichheit und sterben wie andere nichtweiße Minderheiten mit weit größerer Wahrscheinlichkeit an Covid. Das Recht auf straffreie Abtreibung wird gerade abgeschafft, die Präsenz von Schusswaffen verweist auf einen latenten Bürgerkrieg, hunderte von Schulschießereien werden als Beweis für die Notwendigkeit bewaffneter Selbstbestimmung verstanden, Millionen Menschen in den USA hungern, obwohl das Land ökonomisch weltweit führend ist, pro Kopf der Bevölkerung werden am meisten klimaschädliche Emissionen weltweit freigesetzt, dennoch oder gerade deshalb rangieren die USA bei der durchschnittlichen Lebenserwartung auf Rang 48 weltweit. Das Produzieren gefakter Beweise als Vorwand zum Führen von Angriffskriegen ist eine US-amerikanische Spezialität, und der an den Resten der indigenen Bevölkerung verübte innere Kolonialismus findet im äußeren Kolonialismus im Süden der Amerikas sein grausames Pendant.

Dieses Land, dem ein rassistischer und misogyner Präsident Rekordzahlen an Covid-Toten beschert hat, was seinen guten Aussichten auf Wiederwahl ebenso wenig Abbruch tut wie der von ihm ausgegangene Aufruf zur Erstürmung des Capitols wegen angeblichen Wahlbetrugs, gilt als Verkörperung jener Freiheit und Demokratie, die angeblich zur Zeit in der Ukraine gegen Russland verteidigt wird. Gerade daraus, so beispielsweise der US-Politologe John J. Mearsheimer, schöpft Russland die Motivation, der Einschnürung durch die NATO entgegenzutreten. Seiner Ansicht nach wäre weder die Krim annektiert worden noch der Krieg um den Donbass ausgebrochen, wenn die US-Regierung nicht an erster Stelle versucht hätte, die Ukraine in die NATO zu manövrieren [1].

Doch dieses Kriegsmotiv wurde vom Kreml längst durch zwei weitere Begründungen der sogenannten Spezialoperation ergänzt. Zum einen die Denazifizierung der Ukraine, die schon an der Tatsache scheitert, dass rechtsradikale NationalistInnen in Russland wie der Ukraine einen festen, von staatlichen Nachstellungen weitgehend unbelasteten Stand haben. Die Mutmaßung, Russland sei im Anschluss an die Sowjetunion ein antifaschistischer Staat, lässt sich über das Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs hinaus, durch die dieser Kampfbegriff seine zentrale Legitimation erhält, ebenso wenig aufrechterhalten wie die Behauptung, Freiheit und Demokratie seien gleichbedeutend mit einem antifaschistischen Grundkonsens. Faschismus und Kapitalismus auseinanderzudividieren, um ersteres auf eine bloße Gesinnung oder mentale Einstellung zu reduzieren, taugt vielleicht für die Extremismustheorie des Verfassungsschutzes, aber entbehrt jeder historischen Relevanz.

Als der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew, der als enger Vertrauter des russischen Präsidenten gilt, vor einem Monat behauptete, dass es die Ukraine "faktisch nicht mehr gibt, dass der genetische Fond des Volkes, sein kulturelles Gedächtnis vernichtet und ersetzt werden durch zügellose Genderkonzeptionen und leere liberale Werte" [2], berief er sich auf jenen biologistischen Volkstumsgedanken und jene patriarchale Ideologie, die zum Markenkern der Neuen Rechten in aller Welt gehören. Mit einer derartigen Ideologie im Gepäck Antifaschismus zu propagieren ist problematisch zumindest dann, wenn damit ein Kriegsgrund benannt wird, knüpft doch der Spenglersche Dekadenzbegriff, der derartigen von allen Klassenantagonismen und gesellschaftlichen Widersprüchen bereinigte, kulturalistisch und ethnonationalistisch argumentierenden Verfallstheorien zugrunde liegt, an eine Glorifizierung weißen maskulinen Heldentums an, das alles Schwache und Kranke als verwerflich und überflüssig erachtet. Die vermeintliche "Zügellosigkeit" anderer Menschen und Bevölkerungen zu verurteilen war stets eine Domäne klerikaler Repression, und eine solche Sexualmoral wird auch nicht weniger repressiv, wenn sie von staatlicher Seite in Gebrauch genommen wird. Auch können liberale Werte nicht einfach deshalb verworfen werden, weil sie als Waffe imperialistischer Kriegsführung missbraucht werden. Es bedürfte schon einer fundierten Kritik des Liberalismus, wie er für die marxistische Linke einmal selbstverständlich war.

Eine dritte Begründung, den Krieg in der Ukraine über die Grenzen des Donbass hinaus zu führen und territorialen Geländegewinn anzustreben, hat Wladmir Putin in Anspielung auf den Krieg gegen Schweden von 1700 bis 1721 geliefert. Dort habe der Zar Peter I. Gebiete für Russland "zurückgebracht und gefestigt", woraus der Schluss gezogen wird: "Wie es aussieht, fällt auch uns die Pflicht zu, zurückzubringen und zu festigen" [3]. Die ihm schon häufiger angelastete Absicht, als russisch identifizierte Gebiete, die sich nach dem Ende der Sowjetunion für unabhängig erklärten, in die Russische Föderation zu reintegrieren, wird mit diesen Worten eher bestätigt denn verworfen. Anscheinend propagiert Putin tatsächlich ein Russland, in dem die Sowjetunion lediglich eine - zudem abträgliche - Phase der Konstitution eines Reiches war, das zu konsolidieren sein Ziel sei.

Derartige Absichten verfolgen auch die USA und EU auf ihrer politischen, technologischen und ökonomischen Bemittelung jeweils adäquate Weise. Das muss nicht mit territorialer Expansion einhergehen, statt dessen bieten finanz- und handelstechnische Strategien genügend Interventionsmöglichkeiten, die eigenen Ziele auch gegen das Gros der Bevölkerungen in schulden- und mangeltechnisch auf Rekolonisierung zugerichteten Ländern des Trikont zu verwirklichen. Aus einer solchen Position darauf abzustellen, Russland zu schwächen oder zu ruinieren, nimmt das Risiko einer kriegerischen Eskalation ebenso in Kauf wie die Durchsetzung einer Flugverbotszone, für die Flugabwehrstellungen auf russischem Territorium zerstört werden müssten, oder die Lieferung weitreichender Waffensysteme. Die NATO bedient sich eines Klimas der Binnenkonkurrenz, das angebliches Zaudern und Zögern als Feigheit vor dem Feind brandmarkt, während diejenigen, die Russland auf diese oder jene Weise herausfordern, als handlungsstark und mutig charakterisiert werden.

Hinter den Schleiern tränenerfüllter Emphase, mit der dem Leiden der ukrainischen Bevölkerung wortmächtig und bilderstark Rechnung getragen wird, herrscht militaristische Willkür. So werden im Donbass zwangsweise einberufene, häufig schlecht ausgebildete wie ausgerüstete Truppen in die Schlacht gegen einen überlegenen Gegner geworfen. Währenddessen spielen die Regierungen der NATO auf Zeit und sorgen dafür, dass die Ukraine weiterkämpft, ohne wirklich Aussicht darauf zu haben, das von ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erklärte Kriegsziel, die Wiederherstellung des Status quo ante vor Annexion der Krim 2014, erreichen zu können. Allem Anschein nach soll der für beide Seiten verlustreiche Krieg auf keinen Fall einem Ende zugeführt werden, das Russland strategischen Landgewinn und seiner Führung Zustimmung aus der eigenen Bevölkerung bescheren könnte.

Die Gnadenlosigkeit, mit der die Leiden der UkrainerInnen billigend in Kauf genommen werden, verraten etwas Generelles über den Umgang von Regierungen mit ihren Bevölkerungen - sie werden als eine Form von Humankapital betrachtet, das nicht nur mit Lohn- und Sklavenarbeit, sondern auch im Kriegsdienst zum freizügigen Verbrauch bereit steht. So herrscht auf allen Seiten der Front die stillschweigende Übereinkunft, dass das für Staat und Nation begeisterte Volk ein willfähriger Büttel derjenigen ist, die ihre Interessen auch über die Schwelle atomarer Massenvernichtung hinaus im Namen der jeweiligen Staatsprojekte durchsetzen.

Wären die Anliegen der mindestens drei Kriegsparteien ihrer jeweiligen kulturellen, geographischen und politischen Dimension enthoben, anhand derer aus strukturell austauschbarer nationaler Konkurrenz unversöhnliche Gegensätze gezimmert werden, dann wäre eine hochgradige Übereinstimmung in den strukturellen Bedingungen und legitimatorischen Praktiken dieser Staatsapparate zu erkennen. Im Endeffekt bekämpfen sich auf ukrainischem Territorium zwei Nationalismen, deren Unversöhnlichkeit von den Totalitätsansprüchen ihrer SachwalterInnen in den Führungsetagen der Regierungen und Ideologieschmieden genährt wird, ohne für das Gros der Menschen über die Frage hinaus, hinter welcher Fahne sie sich versammeln, viel übrig zu haben.

Das gilt nicht nur für Moskau und Kiew, das wird auch in London, Berlin, Washington und Warschau als unilaterale Weltauffassung gepredigt. KritikerInnen der Behauptung, in der Ukraine würden Freiheit und Demokratie gegen die großmächtigen Ambitionen eines Despoten namens Putin verteidigt, werden ohne Umstände unter dessen Gefolgschaft subsumiert, so sehr sie auch den rechtswidrigen und verbrecherischen Charakter seines Angriffskrieges betonen mögen. Die Freund-Feind-Dichotomie, die das Reklamieren von Meinungsfreiheit zu einer keiner mutwilligen Stigmatisierung standhaltenden Worthülse hat verkommen lassen, definiert den zeitgeschichtlichen Status außerhalb der Ukraine als den des Vorkrieges.


Der Krieg kehrt zurück

Dieser Status verschärft die ohnehin anwachsenden Belastungen, denen nun auch die Bevölkerungen Westeuropas ausgesetzt sind. Der Krieg, jahrzehntelang ferngehalten von den neokolonialistischen Metropolengesellschaften, kehrt nach Hause zurück und legt die Axt an die Wurzel der lieb gewordenen Gewohnheit, den Blutbädern im Globalen Süden zuschauen zu können, ohne selbst tangiert zu sein. Was noch für den ebenfalls europäischen Krieg um den Donbass seit 2014 stimmte, der hierzulande nur auf mäßiges Interesse stieß und dessen Beilegung vor allem von der Ukraine entgegen der Ziele des Minsker Prozesses verschleppt wurde, hat sich mit dem Einmarsch Russlands und der Ausweitung des Krieges auf die ganze Ukraine fundamental verändert.

Die Bevölkerungen der NATO werden für das Anliegen ihrer Regierungen in Haftung genommen, Europa den eigenen Ordnungsvorstellungen zu unterwerfen, obwohl die Existenz des Nordatlantikpaktes mit dem Ende der Sowjetunion eigentlich obsolet geworden war. Die Möglichkeit, an ihre Stelle regionale Sicherheitsabkommen treten zu lassen, die den militärischen und rüstungsindustriellen Aufwand des sogenannten Kalten Krieges stark reduziert hätten, stieß vor allem in Washington auf wenig Gegenliebe. Der globale Führungsanspruch der Vereinigten Staaten und damit auch die Rolle des Dollars als Weltgeld wären durch eine solche Entwicklung akut in Frage gestellt worden. Den TransatlantikerInnen in den Hauptstädten der EU oblag es daher, der Dominanz kriegerischer Ordnungspolitik auf dem westlichen Balkan wie weltweit zu neuer Geltung zu verhelfen.

Die kriegsökonomische Mobilisierung der EU-Gesellschaften im Wirtschaftskrieg gegen Russland ist jedoch nicht nur diesem Krieg geschuldet, sie ist auch Ausdruck einer Krise des Kapitals, die spätestens 2008 als Folge unzureichender Wertproduktion und finanzieller Überakkumulation für alle sichtbar in Erscheinung trat. Angetrieben durch die Innovationsoffensive der Digitalisierung aller Verwertungsprozesse erodierte die auf Lohnarbeit basierende Nachfrage, deren Verlust auch durch die Ausweitung der Finanzialisierung und Schuldenwirtschaft nicht aufgefangen werden konnte. Der Kapitalismus ist sich selbst zu produktiv geworden, um seine soziale und gesellschaftliche Reproduktion zu gewährleisten.

Zudem hat die Klimakrise gezeigt, dass die fossile Grundlage seiner Wertproduktion einen Berg an Kosten erzeugt, dessen stetig anwachsende Höhe jedes Wertwachstum als anwachsenden Verlust gegen sich selbst kehrt. Die moderne Version des Mythos des Sisyphos macht glauben, ökonomisches Wachstum ließe sich durch technologische Innovation von seiner stofflichen Verbrauchs- und Zerstörungsdimension entkoppeln. Dafür konnte bis heute nicht der Beweis angetreten werden. Markt und Kapital fachen den Brand der Welt weiter an, und die Hauptlast des fossilen Extraktivismus, der den dazu erforderlichen Brennstoff liefert, müssen die Menschen im Globalen Süden tragen. Die in der kapitalistischen Moderne gezündete Explosion industrieller Produktivkräfte greift auf die Grundlagen des Lebens selbst über, ohne dass den Menschen Besseres einfiele, als das Naturprinzip gegenseitiger Verstoffwechselung mit dem Abbrand in Jahrmillionen akkumulierter Brennstoffe in nie gekannte Dimensionen der Zerstörung zu katapultieren, also auch an den Grenzen der Nationen, Staaten und Kontinente blutig zur Anwendung zu bringen.

Mit der kriegsökonomischen Erzwingung grünkapitalistischer Regulative wird den vielen Menschen, die die Notwendigkeit einer Verbrauchsreduzierung prinzipiell einsehen, aber den Klassencharakter der Green Economy noch nicht auf eine Weise verdaut haben, mit der sich an den Klassenkompromiss des fordistischen Kapitalismus anknüpfen ließe, nicht minder Gewalt angetan. An sozialer Konkurrenz als grundlegendes Funktionsprinzip der Arbeitsgesellschaft wird festgehalten, auch wenn deren Reproduktion mangels lebenssichernder Arbeit immer mehr in Frage gestellt wird, es weniger zu verteilen gibt und Verbrauchsreduktionen als Umwelt- und Klimaschutzgründen unumgänglich werden. Was bislang schwer zu vermitteln war, wird unter dem Banner der NATO-Hegemonie mit neuer staatsbürgerlicher Motivation aufgeladen. Wer wollte noch die herrschende Eigentumsordnung in Frage stellen, wenn die Ausweitung des Krieges in der Ukraine auf Westeuropa droht und alles auf die Frage reduziert wird, wie Russland Einhalt zu gebieten sei?

Da Russland in der Ukraine auf weiteren Geländegewinn über die Donbass-Republiken und die Krim hinaus aus zu sein scheint, hat sich eine unheilige Kumpanei etabliert. Der Krieg produziert Handlungsnotstände am Band, davon profitieren alle Beteiligten, wie die weitere Militarisierung der NATO-Staaten und eine zukünftige Kriegspolitik belegen, die die Bundesregierung programmatisch als "Zeitenwende" bewirbt, obwohl der dafür beanspruchte Anlass keiner ist. Der langfristige Charakter der neuen Aufrüstungspolitik ändert am Verlauf des Krieges in der Ukraine nichts. Es geht um nichts Geringeres als die wiedererlangte militärische Handlungsfähigkeit des Weltkriegsverlierers Deutschland, die schon vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder als positives Ergebnis des Jugoslawienkrieges hervorgehoben und vom ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck als Pflicht zur "Verantwortungsübernahme" propagiert wurde.


Abenddämerung Europas?

Die ökonomischen Einschränkungen und die Aussicht, von einem Atomkrieg in Mitleidenschaft gezogen zu werden, dessen Schwelle viel niedriger liegt als zur Zeit des sogenannten Kalten Krieges, unterwerfen die Bevölkerungen einer Ratio des Mangels und der Opferbereitschaft, die eigentlich eine wachsende Opposition zur herrschenden Kriegspolitik nahelegt. Zugleich werden die dabei freigesetzten Transformationsenergien dazu genutzt, soziale Kontrolle zu vertiefen, Klassengrenzen zu verwischen und die Atomisierung der Bevölkerung voranzutreiben. Die nationale Sache wird gegen die Hungernden und Flüchtenden des Südens gewendet, das wird auch für die Flüchtenden aus der Ukraine gelten, die bislang unter dem identitären Schutz stehen, als weiße EuropäerInnen zu "uns" zu gehören.

Auf keiner Seite der Front, weder in Russland noch in der EU noch im Globalen Süden haben die Menschen etwas in diesem Krieg zu gewinnen, dafür aber viel und vielleicht alles zu verlieren. Das gilt insbesondere für den Trikont, wo jede Erschütterung der minimalen Lebenssicherung an den Abgrund des Hungers und Todes führen kann. Ob jene VertreterInnen antikolonialer Bewegungen, die diesen weißen, europäischen Krieg als Chance zur Emanzipation von den SachwalterInnen kolonialistischer Ausbeutung und kapitalistischer Globalisierung begreifen, Recht behalten werden, ist vor allem eine Frage der Mobilisierung von unten. So sind die Regierungen subimperialer, in die Peripherie industrieller und finanzialisierter Wertproduktion gezwungener Staaten ihrerseits tief verstrickt in die Freihandelsstrukturen und Bündnissysteme kapitalistischer Reproduktion.

Von Vorteil für eine solche Entwicklung ist jedenfalls, dass die Basis jeglicher Produktion, die Erwirtschaftung materieller Güter durch menschliche Arbeit, wieder verstärkt in den Blick gerät. Das Problem zerreissender Lieferketten, von Krieg und Embargopolitik unterbrochener Handelsbeziehungen, das Fehlen eines tragfähigen Akkumulationsmodells nach der weltweiten Rationalisierung der Lohnarbeit durch die informationstechnische Innovationsoffensive und das klimaschutzbedingte Auslaufen fossiler Industrien werfen die Menschen zurück auf Formen der sozialen Reproduktion, deren Stärken in kollektiver Selbstorganisation, feministischem sozialen Widerstand und antikapitalistischer Mobilisierung liegen. Hier lässt sich etwa an die Aktivitäten der Gruppe E.A.S.T. (Essential Autonomous Struggles Transnational) anknüpfen. "Kämpfe um soziale Reproduktion sichtbar machen - innerhalb, gegen und über den Krieg in der Ukraine hinaus" [4] ist der Titel eines der Texte, die auf der Plattform Transnational Social Strike angeboten werden und auf einen dritten Weg unterhalb der in einen tödlichen Kampf verstrickten Lager der Kriegsparteien verweisen.

Fußnoten:
[1] https://www.russiamatters.org/analysis/causes-and-consequences-ukraine-crisis

[2] https://www.jungewelt.de/artikel/428745.krieg-und-kriegsgr%C3%BCnde-spezielle-spezialoperation.html

[3] a.a.O.

[4] https://www.transnational-strike.info/2022/06/21/kampfe-um-soziale-reproduktion-sichtbar-machen-innerhalb-gegen-und-uber-den-krieg-in-der-ukraine-hinaus/?fbclid=IwAR3xklbw5bjJrSV0qjT0QLZfgd09buD02idlExv7_lTeOKVXvKWIZa4sKos


27. Juni 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 175 vom 2. Juli 2022


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