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HERRSCHAFT/1493: Geschichtspolitik am Beispiel DDR ... antikommunistische Immunabwehr (SB)



Die Feiern zum 20. Jahrestag der "friedlichen Revolution" in der DDR sind nicht als Ermutigung an die Bundesbürger zu verstehen, es den Leipziger Demonstranten gleichzutun. Die strikte Historisierung des Geschehens sorgt dafür, daß kein Gedanke daran aufkommt, die Tradition der Montagsdemos zum Forum demokratischer Streitbarkeit zu machen, als die sie bei der Einführung des Hartz IV-Regimes wiederaufgenommen wurde. Der ausschließlichen Verortung des Geschehens in einer Vergangenheit, in der die DDR-Bevölkerung zu einem "Volk" hochgejubelt wurde, dem man den darin erhobenen Souveränitätsanspruch noch vor Anschluß der DDR an die BRD durch den Wandel des Rufs "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk" austrieb, ist der ideologische Ertrag für die Zukunft der Bundesrepublik äquivalent. Diese hat unter allen Umständen unter antikommunistischem Vorzeichen zu stehen, und das ist nur mit der Bereitschaft der Bundesbürger zu erreichen, sich dem Konsens der angeblich sozialen Marktwirtschaft weiterhin anzuschließen.

So demonstrieren die Leipziger heute in einem imaginären Raum, in dem die zu überwindenden Verhältnisse durch Abwesenheit glänzen. Zwar ist viel vom Kampf gegen die brutale Staatsgewalt des SED-Regimes die Rede, doch bleibt dessen Gestalt bei allen Versuchen, es als diktatorische Funktionärsclique ins Bild zu setzen, konturlos. Die Tatsachen, daß die Regierung der DDR auch 1989 noch von vielen ihrer Bürger unterstützt wurde, daß ein Gutteil der gegen sie gerichteten Proteste keinesfalls darauf abzielte, sich übergangslos der bunten Warenwelt des Luxuskaufhauses BRD zu überantworten, daß die DDR ohne jene Blutströme implodierte, ohne die sich autokratische Regimes normalerweise nicht beseitigen lassen, bleiben zum Wohl einer Widerspruchsfreiheit unerwähnt, wie sie nur die Apologetik zivilreligiöser Doktrinen hervorbringen kann.

Die "friedliche Revolution" war alles andere als eine solche, schöpften ihre Triebkräfte doch aus dem Reservoir des im Kalten Kriegs angestauten Erledigungsdrucks, die bipolare Welt zugunsten der kapitalistischen Antipode aufzuheben. Ohne die äußeren Kräfte, derer sich die DDR zu erwehren hatte, hätte der Aufstand ihrer Bürger niemals eine Dynamik erreicht, die wie von selbst die angestrebte Reform des eigenen Staates zum Ziel seiner Auflösung überholte. Die Bewegung, die die notwendige Stärkung demokratischer Rechte anstrebte, erstarrte in der Rechtsform des Grundgesetzes und öffnete die DDR den sozialen und strukturellen Widersprüchen, die kapitalistischen Gesellschaften eigen sind. Die Umwälzung der Verhältnisse geriet zur Umwertung der sie bestimmenden Absichten, sprich der Rekrutierung der Menschen für die Übernahme der politischen und gesellschaftlichen Agenda der BRD mit all ihren Implikationen.

Der "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", den manche Demonstranten auf ihre Fahnen geschrieben hatten, schrumpfte auf die Größe des Dokuments, mit dem das Ende der DDR besiegelt wurde. Die Gefahr, daß das sozialistische Vermächtnis in reformierter Form auf die BRD abfärbte, wurde durch die schnelle Beendigung der Debatte um die konstitutionelle Neugründung der Republik abgewehrt. Zwar konnten es sich die Neubürger im gemachten Prokrustesbett der hierarchischen Sozialordnung eher nicht bequem machen, sie konnten sich aber auch nicht beschweren, hätten sie doch niemals etwas anderes als ein Leben in der BRD angestrebt.

Doch um die sogenannten Neubürger geht es auch 20 Jahre später nur in zweiter Linie. In Ostdeutschland sind die Meinungen, so polarisiert sie sein mögen, gut sortiert. Wer die Bundesrepublik, vorzugsweise im Kontext beruflichen Erfolgs, als Befreiung erlebte, tut dies meist heute noch, wer die neue Zeit als Einbruch einer Freiheit fürchtete, der das Primat der Eigenverantwortung Werkzeug qualifizierter Mehrwertabschöpfung ist, tut dies heute erst recht.

Die medialen Breitseiten, die der DDR seit Monaten eine Renaissance als furchterregender Wiedergänger bescheren, sind vor allem auf die in der BRD sozialisierte Bevölkerung gerichtet. Ihre erfolgreiche Infizierung mit dem Virus kommunistischer Bedrohung hat eine Immunabwehr errichtet, die angesichts der mit wachsender Verarmung wieder verlockender erscheinenden Möglichkeit, vielleicht doch einmal die Überwindung herrschender Verhältnisse ins Auge zu fassen, der ständigen Auffrischung bedarf. Um der Gefahr, mit der Glorifizierung des bürgerlichen Aufstands in der DDR den Zorn demokratischer Streitbarkeit in der BRD zu entfachen, nicht zu erliegen, muß ein Übertrag des angeblich autonomen Aufbruchs in der DDR auf die Inanspruchnahme der Freiheit, in der BRD die Systemfrage zu stellen, unter allen Umständen verhindert werden.

Dafür reicht es nicht aus, das Ansehen der DDR post mortem auf eine Weise zu beschädigen, als stünde die NVA vor den Toren. Der revolutionären Energie muß der Zahn ihres unbedingten Potentials gezogen werden, aus der immanenten Freiheit eines von staatlichen Sanktionen nicht zu erreichenden, da alles wagenden Mutes heraus zu handeln. Hätte die Staatsmacht der DDR mit Rückendeckung der Sowjetunion auf die ihr angelastete Weise agiert und sich gewaltsam gegen die protestierenden Bürger durchgesetzt, dann hätte die Situation kriegerisch eskalieren können, was auch Ende der 1980er Jahre in ein atomares Inferno hätte münden können. Da die Weichen im Kreml bereits anders gestellt waren und die Ostberliner Führung verdienstvollerweise vor dem ultimativen Waffeneinsatz zurückschreckte, kann man heute eine angebliche Revolution feiern, an der nichts revolutionär war, weil die Machtprobe nicht gewagt werden mußte.

Wenn man die Ereignisse vor 20 Jahren nicht als Konterrevolution, mit der die Errungenschaften einer von Kapitalmacht freien Gesellschaft aufgehoben wurden, bezeichnen will, dann bietet sich an, sie als Vorläufer jener bunten "Revolutionen" zu verstehen, in denen die Energie wachsender Unzufriedenheit von vornherein so kanalisiert wurde, daß sie zur Rekonfiguration staatlicher Herrschaft unter Ausschluß jener sozialen Veränderungen führt, die zu verwirklichen es eines Bruchs mit alten wie neuen Nutznießerns bedurft hätte. Für heutige Horizonte gesellschaftlicher Veränderung gewinnt dieser Schattenriß eines Aufbruchs Relevanz aufgrund all dessen, was in ihm unabgegolten bleibt.

9. Oktober 2009