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HERRSCHAFT/1520: Im Vorgriff auf kommende Krisen den Maßnahmestaat stärken ... (SB)



Der Streit um den Ankauf womöglich illegal erlangter Steuerdaten aus der Schweiz ist allem Anschein nach beendet. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat sich für den Kauf der Daten entschieden und damit einem Rechtsverständnis den Zuschlag gegeben, das auch in den eigenen Reihen nicht von allen geteilt wird. Kritiker seiner Entscheidung wie der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, Siegfried Kauder, und der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, schützen zwar gute, rechtstaatliche Gründe vor, vertreten jedoch wie ihre Kollegen in der FDP schlechte Klientelinteressen. Kaum einer der Politiker, die den Staat der Hehlerei bezichtigen, ist bisher als ausgemachter Verfechter der Bürgerrechte aufgefallen. Sie befleißigen sich eines opportunistischen Legalismus, mit dem je nach Interessenlage mal für das Recht und mal für seine Beugung entschieden wird. Beim Überfall der NATO auf Jugoslawien, bei der Vertuschung von BND-Skandalen oder bei der Aushöhlung von Bürgerrechten durch Sicherheitsgesetze, die wiederholt vom Bundesverfassungsgericht verworfen wurden, wird im gleichen Brustton alternativloser Notwendigkeit für die Mißachtung verfassungsrechtlicher Prinzipien eingetreten, wie deren Gültigkeit in diesem Fall beschworen wird.

Die Gründe für den voluntaristischen Umgang mit exekutiven Maßnahmen bleiben in der aktuellen Debatte allerdings ungenannt. Sie liegen zuallererst im Widerspruch zwischen verfassungsrechtlichem Gleichheitsgebot und materieller Ungleichheit, die auf der Basis des Privateigentums gewährleistet wird. Wo das liberale Verfassungsrecht massive soziale Antagonismen in die Welt setzt, krankt alle darauf aufsetzende Rechtsprechung an dem immanenten Widerspruch zwischen moralischem Anspruch und gesellschaftlicher Realität. Wenn der Staat zur Rettung des Finanzkapitals Milliardensummen für "systemrelevante" Banken mobilisiert, verkommt der Steuerbetrug zu jener läßlichen Sünde, als die er desto mehr gehandhabt wird, je umfangreicher die dabei verschobenen Finanzmittel sind. Schon die höchst flexible Elle, nach der kleine und große Steuersünder strafrechtlich bemessen werden, reflektiert den Grundwiderspruch des Kapitalverhältnisses, die legale Ausbeutung von Lohnarbeit zur Sicherung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Die Begünstigung der Kapitalmacht durch die neoliberale Steuergesetzgebung tut ein übriges dazu, die Moral gesetzestreuer Ehrlichkeit und eherner Rechtspflicht als zweckopportunes Blendwerk zu durchschauen.

Die nun ausgebrochene Debatte um das Verhältnis von Legitimität - die Verfolgung von Steuersündern unter rechtlich fragwürdigen Bedingungen zwecks Sicherung der Einkünfte des auf Gemeinwohl verpflichteten Staates - und Legalität - die Durchsetzung rechtstaatlicher Prinzipien gegen das fiskalische Interesse - mündet, wie Schäubles Entscheidung belegt, folgerichtig in einen exekutiven Dezisionismus, mit dem je nach Interessenlage auch gegen die Bindekraft der Rechtsordnung dekretiert wird. Die davon ausgehende Gefahr für die Freiheit aller Menschen und nicht nur einiger Steuerflüchtlinge bleibt unausgesprochen, weil die das Kapital begünstigende Klientelpolitik nicht erlaubt, den zentralen gesellschaftlichen Konflikt zwischen arm und reich in direkten Zusammenhang mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und ihrer Rechtspraxis zu stellen. Die Frage des Ankaufs der Steuerdaten ist also alles andere als trivial, allerdings tragen die Argumente, mit denen sie öffentlich verhandelt wird, so sehr zur allgemeinen Verwirrung bei, daß der aufklärerische Anspruch demokratischer Politik einmal mehr auf der Strecke seiner angestrengt vermiedenen Überprüfung bleibt.

So wird der Handlungsraum, in dem der Staat selbstherrlich agieren kann, mit jedem Akt willkürlicher Durchsetzung exekutiver Maßnahmen größer. Er geht zu Lasten der dagegen gerichteten demokratischen und juristischen Kontrolle, indem, angeblich im gesamtgesellschaftlichen Interesse, Präzedenzfälle für einen Ausnahmezustand geschaffen werden, zu dem sich die angeblichen Sachzwänge unausweichlich aufaddieren, wenn die Sachwalter des Systemerhalts neuen Handlungsbedarf für die Bewältigung ihrem eigenen Tun geschuldeter Krisen reklamieren. Wer dieses allgemeine Interesse bestimmt, das den Übergang in staatsautoritäre Verfügungsformen legitimiert, stellt damit seine Unentbehrlichkeit für deren ideologische Absicherung unter Beweis. Es ist keineswegs erstaunlich, daß der Ankauf der Steuerdaten von einer besitzbürgerlichen Meinungshegemonie mehrheitlich befürwortet wird. Die Oberklasse der Kapitaleigner weiß, daß ihr ein starker, interventionistischer Staat auf lange Sicht mehr nützt als ein diskreditierter Marktliberalismus, der längst dazu übergegangen ist, seine Nutznießer in einer sich nach oben verjüngenden Freßkette zu kannibalisieren. Die formale Ermächtigung zu Notstandsmaßnahmen aller Art folgt dem Krisenbewußtsein auf den Fuß, wird die Gefahr einer sozialistischen Alternative doch um so bedrohlicher an die Wand gemalt, je naheliegender es ist, über sie nachzudenken.

2. Februar 2010