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HERRSCHAFT/1545: Die Linke ... immer noch nicht angekommen in der Postdemokratie (SB)



Bei der Wahl des Bundespräsidenten hat die Linke als einzige Partei inhaltlich Position bezogen und wurde dafür umgehend abgestraft. In den Anwürfen, immer noch nicht in der Bundesrepublik angekommen zu sein und sich notorisch der Regierungsfähigkeit zu verweigern, tritt nicht nur die Wut darüber zu Tage, daß die Linke die mehrheitlich gewünschte Wahl Joachim Gaucks vereitelt hat. Artikuliert wird vor allem, daß die viertstärkste Fraktion des Bundestags immer noch nicht so funktioniert, wie es das Herrschaftsmanagement der Republik vorsieht. Die Linke stellt sich, wenn auch unter Ächzen und Stöhnen, in zentralen Fragen der Politik wie der Fortsetzung des neoliberalen Austeritätskurses und der deutschen Kriegführung in Afghanistan quer. Indem sie die der parlamentarischen Anpassungsmechanik geschuldeten Aufweichungserscheinungen in Grenzen hält, bleibt sie ein Störfaktor, an dem sich manches journalistisches Mütchen kühlen läßt.

Wie ignorant gegenüber den Ansprüchen derjenigen Bundesbürger, die das System der repräsentativen Demokratie für einen Transmissionsriemen eigener Partizipation halten, muß man sein, um von den Abgeordneten und Delegierten der Linkspartei ernsthaft zu verlangen, mit der Stimme für Gauck gegen die eigenen politischen Überzeugungen zu handeln? Sich dadurch als verantwortungsbewußt und regierungsfähig zu beweisen, daß man eigene Kernauffassungen verleugnet, ist sinnfälliger Ausdruck einer postdemokratischen Symbolpolitik, der nichts so wertvoll ist wie der schöne Schein, wenn er nur hermetisch abgedichtet ist, so daß die Masse der Bevölkerung ihn nicht durchschaut. Das Public Viewing vor dem Reichstag, wo gelebte Demokratie als unterhaltsamer Event inszeniert wird, und die Debatten über das Tatoo der First Lady setzen die Norm einer politischen Kultur, der nichts fremder sein könnte als die entschiedene Parteinahme für die Unterdrückten und Ausgegrenzten.

Die Verfechter dieses autokratischen Politikverständnisses setzen, indem sie kübelweise Schmutzwasser über die Linkspartei ausgießen, eigene Privilegien durch, allerdings nicht mit dem offenen Visier ihres Klasseninteresses. Nachdem das Angebot zur Spaltung an den reformistischen Flügel auf nur geringe Resonanz stieß, ist man sich einig darüber, die Partei erneut als Schmuddelkind an den Pranger der Totalitarismusdoktrin zu stellen und ihr Nachsitzen in Sachen freiheitlich-demokratischer Leitdoktrin zu verordnen. SPD und Grüne, die Gauck aufs Tapet gehoben haben, sonnen sich derweil im Glanz eines gelungenen Coups, mit dem sie einerseits der Regierungskoalition und andererseits der linken Konkurrenz geschadet haben wollen.

Dabei ist noch gar nicht entschieden, wer sich in größerem Maße vor den Augen der Wähler blamiert hat. Indem die SPD einen rabiaten Antikommunisten hofierte, der sogar das Kreuz über die Entspannungspolitik Willy Brandts brach, obwohl sie maßgeblich teil hatte am Niedergang der DDR, haben dessen Enkel unter Beweis gestellt, daß es ihnen mit der Rückkehr zu sozialdemokratischen Idealen niemals ernst war. Die vermeintlich gelungene Diskreditierung der Linkspartei, die sich mit der Wahl Gaucks endgültig dem Dogma vom "Unrechtsstaat" DDR unterworfen hätte, kann sich gerade bei den Verlierern dieser Gesellschaft in eine Empfehlung verwandeln. Paradoxe Effekte dieser Art entgehen den im Wohlstand Angekommenen meist, funktioniert die Ausgrenzung der Unproduktiven und Versorgungsbedürftigen doch in beide Richtungen.

Die Linke hat in der Bundesversammlung Rückgrat bewiesen und mit Luc Jochimsen die einzige Alternative zu zwei in ihrem Bekenntnis zum Primat kapitalistischer Herrschaft identischen Kandidaten aufgeboten. Was ihr nun zum Vorwurf gemacht wird, reflektiert den Ärger darüber, daß es bei der öffentlichen Inszenierung der Demokratie noch einen unkalkulierbaren Rest an unverfügtem oppositionellen Handlungsvermögen gibt. Auch wenn die Linke in vielen kommunal- und landespolitischen Bereichen erfolgreich domestiziert wurde, kann sie bei hochsichtbaren Spektakeln wie diesem noch jene klare Kante zeigen, von der ein Franz Müntefering noch schwadronierte, als es in Anbetracht des Machtopportunismus der SPD nur noch peinlich war.

1. Juli 2010