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HERRSCHAFT/1555: "Sozial ist, was Krieg schafft" ... Krisenmanagement der Arbeitsgesellschaft (SB)



Ein Mißverhältnis zwischen dem Anwachsen des Sozialhaushalts und des Kriegsbudgets beklagt der Tagesspiegel-Redakteur Malte Lehming. Vor "20 Jahren waren Verteidigungs- und Sozialhaushalt fast gleich groß. Im Haushaltsjahr 2010 indes entfallen auf die Verteidigung nur noch 31,1 Milliarden Euro, aufs Ressort Arbeit und Soziales aber schon 146,8 Milliarden Euro (Steigerung gegenüber dem Vorjahr: 14,8 Prozent, Tendenz steigend)" [1]. Nun müsse das Verteidigungsministerium sparen, und die Bundesrepublik laufe Gefahr, ihren Bündnispflichten in der NATO nicht mehr nachkommen zu können. Eine "ungebremste Aufblähung des Sozialstaats" lasse "eine Schwächung anderer nationaler Interessen erkennen", diagnostiziert Lehming und stellt damit eine Verbindung her, die in der Debatte um die angebliche Erhöhung des Regelsatzes für Hartz IV um fünf Euro nur selten gezogen wird.

Dabei liegt sie allemal nahe, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Der rohstoffarme, industriell hochentwickelte und exportorientierte Wirtschaftsstandort Deutschland ist auf die globale Durchsetzung kapitalistischer Verwertungsbedingungen auch mit militärischer Gewalt angewiesen, wie nach dem allzu offenherzigen Vorstoß des dafür abgestraften Altbundespräsidenten Horst Köhler mehrfach bestätigt wurde. Die für die Sicherung des Zugangs zu Absatzmärkten und Ressourcenlieferanten zuständige Bundeswehr ist ihrerseits ein Produktivfaktor der Arbeitsgesellschaft. Sie gibt Menschen mit schlechter Erwerbsaussicht eine Berufsperspektive, wie der überproportionale Anteil von Ostdeutschen vor allem in ihren niederen Rängen belegt, und versorgt die Rüstungsindustrie mit Aufträgen. An dieser staatlichen Subventionspraxis nehmen nicht einmal Marktfundamentalisten Anstoß, wird mit diesen Waffen doch die Eigentums- und Klassenordnung geschützt, die ihre Privilegien sichert.

Soziale Marktwirtschaft, wie sie Merkel und Co. verstehen, ist auch aus anderem Grund ohne Krieg nicht zu haben, wie der diesem programmatischen Begriffspaar inhärente Widerspruch belegt. "Sozial ist, was Arbeit schafft", so die Gleichung einer Akkumulationspraxis, die zu ihrer nicht von ungefähr unsichtbar bleibenden Unbekannten, dem Kapital, hin aufgelöst wird. Die Aneignung des Produkts der Arbeit erfolgt nicht nur durch die Abpressung des von den Produzenten erzeugten Mehrwerts, sondern auch durch die Ausgrenzung und Verelendung eines Subproletariats, dessen negative gesellschaftliche Partizipation auf die weitere Senkung der Arbeitskosten durchschlägt. Es handelt sich um eine Form ökonomischer Gewaltanwendung, der die militärische auf den Fuß folgt.

"Wertsteigerung durch Mangelproduktion" ließe sich die systematische Zerstörung von Lebenschancen in den Kriegsgebieten der NATO wie in den Standorten der Kapitalmacht, die das Kriegsbündnis mobil macht und von diesem verkehrsfähig gehalten wird, überschreiben. Das rapide Anwachsen der Sozialtransfers ist der Preis für die Sozialisierung von Verlusten, die einseitig auf den Schultern derjenigen, die nichts als ihr nacktes Leben zu verwerten haben, nur mit Zwangsmaßnahmen aufgetürmt werden können. Je kannibalistischer der an die Grenzen seiner territorialen und ökologischen Expansion stoßende Kapitalismus agiert, desto mehr Kosten fallen für die Stabilisierung der davon betroffenen Gesellschaften an.

Sollten die Sozialhaushalte zugunsten eines größeren Wehretats nicht mehr alimentiert werden, dann wird die Sicherung der Klassenordnung erst recht in die Hände der staatlichen Gewaltorgane gelegt. Die USA bieten ein adäquates Beispiel, wird das soziale Elend dort doch mit Repressions- und Aggressionspotentialen beherrschbar gemacht, deren Sachwalter und Profiteure angebliche Sachzwänge etabliert haben, die als diktatorischer Staat im demokratischen Staate fungieren. Die Rekrutierung einer großen Anzahl von Bürgern für Militär, Miliz, Polizei und Geheimdienst durchdringt die Bevölkerung zudem auf eine Weise, die einer Sozialstrategie der präventiven Aufstandsbekämpfung gleichkommt.

Die sozialpolitische Alimentierung wird ihren Adressaten nur gegönnt, weil sie der Aufrechterhaltung einer Akkumulationspraxis dient, die die Erbringer der Arbeit, auf der sie beruht, immer intensiver und schneller verbraucht. Je unerträglicher die Arbeits- und Lebensbedingungen der Betroffenen werden, desto mehr verfällt die Legitimation des Systems, das die staatlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen dieser Entwicklung stellt. Der aus der Verbilligung der Arbeit geschöpfte Ertrag ist in zerfallenden Staaten und zerrütteten Gesellschaften nur bedingt zu realisieren und zu nutzen. Wenn der sogenannte soziale Frieden nicht mit einer gewissen Umverteilung von oben nach unten erkauft werden soll, eröffnen sich Optionen eliminatorischer Art.

Wenn die angeblich unproduktiven humanen Faktoren selbst als Reservearmee überflüssig werden, weil es zu viele von ihnen gibt, dann bietet sich ihre vollständige Abschaffung an. Nichts anderes empfiehlt die neokonservative Doktrin der schöpferischen Zerstörung, die ihren Ursprung im Paradigma marktwirtschaftlicher Selbstregulation hat. Die um sich greifende Popularität sozialrassistischer Feindseligkeit unter Bundesbürgern und Europäern läßt ahnen, daß man sich auf dem Weg zu Lösungen dieser Art befindet. Der Krieg, von neurechten Bellizisten linker Genese als Mittel der sozialen Transformation längst wieder diskurs- und salonfähig gemacht, erhebt desto unverhohlener sein Haupt, je selbstverständlicher Standortkonkurrenz, Ressourcensicherung und demografische Faktoren als alternativlose Sachzwänge akzeptiert werden.

Wenn Lehming, der als exemplarisches Beispiel für die Argumentation neokonservativer Funktionseliten angeführt wird, die angemessene Versorgung erwerbsloser und arbeitsunfähiger Menschen als Gefahr für nationale Interessen anderer Art ausweist, dann betreibt er das Geschäft derjenigen, denen der demokratische und egalitäre Anspruch der Bundesrepublik stets Feigenblatt eines Klassenantagonismus war, der in seiner Destruktivität reguliert, aber nicht aufgehoben werden soll. Wenn diese Elite auf Kosten der Hungerleider noch mehr bewaffnet werden soll, als sie es ohnehin ist, dann vor dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels, der die Reste des sozialen Kompromisses überwindet. Die ihn bestimmenden Werte egalitärer, menschen- und bürgerrechtlicher Demokratie werden, wie am Beispiel der Sarrazin-Debatte zu studieren, so hartnäckig und verschleißintensiv gegen sich selbst gekehrt, bis sie, zum Schatten eines uneinlösbaren Anspruchs verkommen, gegenstandslos geworden sind.

Fußnote: [1] http://www.tagesspiegel.de/meinung/aufstand-der-hartz-iv-klickguerilla/1944284.html

30. September 2010