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HERRSCHAFT/1583: David Cameron - "muskulärer Liberalismus" anstatt Multikulturalismus (SB)



Mit seiner Absage an die "Doktrin des staatlichen Multikulturalismus" hat der britische Premierminister David Cameron wiederholt, was führende Politiker der Bundesrepublik wie auch Frankreichs bereits vor Monaten erklärt haben. Daß er die Forderung nach mehr "nationaler Identität" und der Ausbildung eines "muskulären Liberalismus" auf der Münchner Sicherheitskonferenz erhob, unterstreicht den aggressiven Charakter einer Vergewisserung angeblicher europäischer Werte, denen die von Cameron zum Ausgangspunkt seiner Forderung erklärte Bedrohung durch den "Terrorismus" muslimischer Art lediglich Trittbrett für eine umfassendere Ermächtigung sozialrassistischer Art ist. Schließlich ist es keine Neuigkeit, daß ein kriegführendes Land wie Britannien Konflikte produziert, die sich auch auf diese Weise entladen können. Nach zehn Jahren Terrorkrieg die Bedrohung des freien Westens durch den fundamentalistischen Islam aus dem Hut zu ziehen macht denn auch erst mit der Bestimmung einer gesellschaftlichen Zukunft Sinn, die über die Legitimation innerer wie äußerer staatlicher Aufrüstung hinausweist.

So erfolgt die Durchsetzung des neoliberalen Austeritätsregimes in Britannien auf massiv sozialfeindliche Weise und provoziert dementsprechende militante Reaktionen, wie die Demonstrationen britischer Studenten im Dezember gezeigt haben. Die Auseinandersetzungen mit der Arbeiterschaft des Landes und den verelendeten Erwerbslosen steht noch bevor. Sie gehört wie die Sozialkämpfe in den vom Austeritätsregime des neoliberalen Krisenmanagements besonders hart getroffenen EU-Staaten zu den in München thematisierten "sicherheitspolitischen" Herausforderungen ersten Ranges. Es ist kein Zufall, daß Cameron zwar für Werte wie Meinungsfreiheit, Demokratie und Bürgerrechte eintritt, das Thema soziale Gerechtigkeit jedoch nicht zu einer Kernforderung seiner liberalen Agenda erhebt.

Von daher richtet sich seine Forderung, das Gebot der Toleranz gegenüber der muslimischen Minderheit gegen die Pflicht, sich zu den liberalen Grundwerten der britischen Gesellschaft zu bekennen, einzutauschen, nicht erst im zweiten Schritt an die Adresse der eigenen Bevölkerung. Was hierzulande unter dem Titel der Integrationsdebatte die vorauseilende Unterwerfung unter das herrschende Leistungsregime verlangt, tritt anhand der Maßregelung ethnischer Minderheiten in den führenden europäischen Staaten als Leitdoktrin des EU-europäischen Verwertungsdiktats in Erscheinung. Muslime bilden an dieser Front den Punkt des geringsten Widerstands und werden auf exemplarische Weise attackiert, um die verschärfte Mobilisierung noch nicht kapitalisierter Lebensgarantien in das herrschende Akkumulationsregime mit dem Mittel der Klassenspaltung durchzusetzen.

Daß Camerons Kampfansage an die muslimische Minderheit auf einer Konferenz erfolgt, die längst nicht mehr nur der geostrategischen Expansion der NATO-Staaten, sondern in zunehmendem Maße auch der sozialtechnokratischen Zurichtung ihrer Bevölkerungen gewidmet ist, ist allerdings auch in außenpolitischer Hinsicht bedeutsam. In mehreren arabischen Staaten werden die Statthalter westlicher Hegemonie von den eigenen Bevölkerungen in die Defensive gedrängt, und dabei spielen die Organisationen des politischen Islam nur eine untergeordnete, wenn nicht gar kontraproduktive Rolle. Die Möglichkeit von Islamisten dominierter Regierungsbildungen wird von westlichen Regierungen und Medien jedoch wider besseren Wissens als größte aus dieser Entwicklung resultierende Gefahr an die Wand gemalt. Als seien die Autoren der Narrative bürgerlicher Herrschaftsicherung nicht in der Lage, den sozialen Charakter der Revolten in Tunesien, Ägypten, Jordanien und Jemen zu erkennen, wird die Leier der programmatischen Dichotomie zwischen dem zivilisatorischen Fortschrittsparadigma Europas und den angeblich aus religiöser Engstirnigkeit resultierenden Entwicklungsdefiziten der arabischen Staatenwelt stur weitergedreht.

Es liegt auf der Hand, daß mit diesem Ressentiment die Fortdauer autokratischer Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten und die Durchsetzung einer sich liberal maskierenden Konterrevolution betrieben wird. Sorgt das bewährte Feindbild islamistischer Gewalt im Innern für die zweckdienliche Kanalisierung sozialen Drucks und Legitimation sicherheitsstaatlicher Repression, so verstellt es im Äußern den Blick auf die neokolonialistischen Interessen der EU und USA in dieser zur Periphierie des HighTech-Kapitalismus degradierten Region. Verstiegen sich die dort lebenden Bevölkerungen auch nur dazu, den umfassend diskreditierten panarabischen Nationalismus wiederzubeleben, um eine demokratische Handlungsfähigkeit zu erlangen, die die ungleich schwieriger zu verwirklichende Aufhebung ökonomischer Unterdrückung in die Reichweite sozialer Selbstbestimmung rückte, dann hätten die NATO-Staaten ein weit größeres Problem als jenes, das sie unter dem Titel des Islamismus zur größten Bedrohung ihrer Gesellschaften erklären. Welche Rolle Religiosität als Agens gesellschaftlicher Transformation dabei auch immer spielte, was EU und USA vor allem fürchten, ist die politische Emanzipation der arabischen Staatenwelt, ist die Bildung regionaler Wirtschaftsräume und Bündnissysteme, die die Befreiung vom Kolonialismus nicht nur auf formalrechtliche, sondern auf materialistische Weise verwirklichte.

Die von führenden EU-Staaten betriebene Überwindung des Multikulturalismus als Ausdruck egalitärer, von Nationalismen, Kulturalismen und Ethnizismen befreiter Subjektivität dient mithin der Konsolidierung ihrer krisenhaft erschütterten Handlungsfähigkeit. Das angebliche Scheitern eines Lebens in der Diversität zahlloser Her- und Hinkünfte, das durch keine leitkulturelle Orientierung dazu zu nötigen ist, die Destruktivität sozialdarwinistischer Überlebensstrategien als notwendige Triebkraft der Produktivität zu akzeptieren, das keiner ethischen Norm bedarf, um zu wissen, was für jeden Menschen schlicht inakzeptabel ist, wird derzeit von den ägyptischen Demonstranten widerlegt. In ihrem Widerstand manifestiert sich eine Fähigkeit zu Solidarität und Selbstorganisation, die eben das verkörpert, was im zivilisatorischen Wertekodex lediglich als Anspruch formuliert wird, um in den Kategorien und Prozessen ökonomischer, administrativer und technologischer Verfügungsgewalt gegen sich selbst gekehrt zu werden.

Dieser Strategie der Herrschaftsicherung ist das Schüren des Konflikts zwischen dem eigenen und dem anderem, ist die Unterwerfung des Menschen unter den Zwang der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, unter ihre Innovations- und ihre Ausgrenzungsdynamik wesentlich. Was als Herausforderung herrschender Verhältnisse erkannt wird, wird mit allen Mitteln verworfen, um den produktiven Streit um die Praktikabilität alternativer oder revolutionärer Entwürfe im ersten Schritt zu unterbinden. So entlarvt das als fremd und feindlich markierte Ideologem das genuine Eigeninteresse an Okkupation und Expansion, wie der im Kern bestrittene Anspruch auf soziale Selbstbestimmung mit dem Vorwurf staats- und gesellschaftsfeindlicher Gesinnung nicht zu unterdrücken ist. Um der virulenten Widerständigkeit verelendeter Bevölkerungen entgegenzuwirken, bedarf es des Nachweises der Gefährdung bestehender Verhältnisse nicht, sind diese doch auf eine Weise repressiv, die ihre offensive Durchsetzung zwingend voraussetzt, wenn keine grundsätzliche Gesellschaftsveränderung riskiert werden soll.

9. Februar 2011