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HERRSCHAFT/1588: Erst Front, dann ex - Europa wehrt tunesische Flüchtlinge ab (SB)



Bleiben die Touristen weg, gehen die Tunesier halt zu den Touristen. Ein paar tausend sind nun auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa gelandet. Nicht mit dem komfortablen Flieger oder an Bord eines krängungsresistenten Kreuzfahrtschiffs, sondern mit Jollen, Schlauchbooten und anderen leidlich wasserfesten Untersätzen. Allerdings wird ihnen von der EU nicht der gleiche Willkommensgruß entboten, mit dem umgekehrt jährlich mehrere Millionen europäische Touristen, die nach Tunesien reisen, um nordafrikanischen Quarzsand zwischen den Zehen zu spüren und sich so richtig bepuscheln zu lassen, empfangen werden. Statt dessen behandelt man die tunesischen Flüchtlinge wie einen Heuschreckenschwarm, der nach Europa eingefallen ist, um alles ratzekahl zu fressen.

Kommen nicht in Italien Wochenende für Wochenende zu jedem mittelmäßigen Fußballspiel der dritten Liga ähnlich viele Menschen zusammen, wie jetzt Flüchtlinge auf Lampedusa gestrandet sind, ohne daß dies nennenswerte logistische Probleme verursachte? Aber handelt es sich um Tunesier, ruft die italienische Regierung sogleich den Notstand aus. Innenminister Roberto Maroni fabulierte bereits einen "biblischen Exodus" und verlangte von der Europäischen Union 100 Millionen Euro, um die paar tausend Tunesier unterzubringen.

Sein deutscher Amtskollege, weitab vom Geschehen im eisigen Berlin, steht ihm von der Sache her in nichts nach. Man könne nicht die Probleme der ganzen Welt lösen, maulte Innenminister Thomas de Maizière, dessen Partei sich christlich schimpft, im ZDF-Morgenmagazin und lehnte die Aufnahme von tunesischen Flüchtlingen kategorisch ab. Sein Parteigenosse Hans-Peter Uhl, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, unterstellte gar unausgesprochen, daß die Flüchtlinge gar nicht wüßten, was sie täten, wenn sie ihrer Heimat den Rücken kehrten. Er behauptete glatt, es gebe "keinen Grund für Tunesier, das Land zu verlassen". (Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion - 15. Februar 2011)

Tausend "Wirtschaftsflüchtlinge" aufzunehmen brächte nichts, führte er weiter aus, aber wenn mehrere hunderttausend Touristen nach Tunesien reisten, wäre den Menschen dort "wirklich" geholfen. Uhls geniale Zukunftsperspektive für die tunesische Jugend: Sich vollumfänglich zur Bedienung der Touristen bereithalten. Diesen Wirtschaftszweig wiederzubeleben sei "von entscheidender Bedeutung".

Wie wäre es, wenn Uhl nach Lampedusa reiste und den Menschen von Angesicht zu Angesicht sagte: 'Geht doch zurück! Wir wollen euch hier nicht. Aber im Sommer, dann kommen wir zu euch, dann dürft ihr uns bedienen!'?

Damit dieses Verhältnis zwischen Herr und Diener, zwischen der privilegierten EU und der peripheren Produktionszone Tunesien, erhalten bleibt, wurde bereits die Europäische Grenzschutzagentur Frontex mobilisiert. Sie soll die weitere Entwicklung im Seegebiet zwischen Tunesien und Italien überwachen und dabei helfen, gegen die Flüchtlinge Front zu machen, um sie gegebenenfalls wieder nach Afrika zu expedieren. Dort sollen die Tunesier geordnete, das heißt ausbeutbare Produktionsverhältnisse schaffen, damit die Europäer weiterhin leckere, biologisch angebaute Datteln erhalten und der europäischen Industrie kostengünstig arbeitende Zulieferbetriebe in der Textil-, Elektronik-, Auto- und Flugzeugbaubranche zur Verfügung stehen.

An der Aufrechterhaltung dieser hierarchischen Ordnung wird seit der Kolonialzeit gearbeitet, da bilden Flüchtlinge allein schon mit ihren Überlebensansprüchen einen lästigen Störfaktor, der unverzüglich behoben werden muß. Hätte die tunesische Marine nicht reagiert, Flüchtlingsboote gerammt und Häfen abgeriegelt, um die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken, wer weiß, ob nicht demnächst Deutschland, Italien und die restliche EU im Maghreb "verteidigt" worden wären ...

16. Februar 2011