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HERRSCHAFT/1611: "Atomkraft nein Danke!" heißt immer auch "Atombombe nein Danke!" (SB)



Der Beschluß der schwarz-gelben Koalitionsregierung zum Ausstieg aus der Atomenergie wird von zwei sich ergänzenden Motiven getragen. Vordergründig wollen die beiden Parteien retten, was zu retten ist, und ihre sich abzeichnenden Wahlniederlagen in diesem Jahr einigermaßen in Grenzen halten. Große Teile der Bevölkerung lehnen die Atomenergie ab. Deshalb geben die Regierungsparteien nach dem Fukushima-GAU vor, sie hätten eine 180-Grad-Kehrtwende vollzogen - kein glaubwürdiger Standpunkt, hatten sie doch erst wenige Monate zuvor den rot-grünen Atomausstieg gekippt. Hintergründig will die Regierung nicht vollständig auf die Atomtechnologie verzichten. Das hat weniger mit der Sicherheit der Energieversorgung zu tun, als vielmehr mit den Möglichkeiten, die der einst von Robert Jungk bezeichnete Atomstaat zum Ausbau der administrativen Verfügungsgewalt bietet - heute würde der Philosoph und Publizist vermutlich vom Sicherheitsstaat sprechen.

Dem jüngsten Beschluß der Regierung zufolge soll auch das letzte Atomkraftwerk in Deutschland spätestens bis 2022 vom Netz gehen. Im Jahr 2018 wird überprüft, ob der Ausstieg bereits ein Jahr früher vollzogen werden kann. Angesichts rund eines halben Jahrhunderts Atomenergie in Deutschland könnte dieses Ausstiegsszenario beinahe akzeptabel erscheinen, wenn nicht der jetzige Beschluß so wenig endgültig sein muß wie der vor zehn Jahren von der Schröder-Fischer-Administration.

Eine Nachfolgeregierung könnte wieder zur Atomenergie zurückkehren, sofern sich die gesellschaftspolitischen Umstände ändern. Und das tun sie derzeit dramatisch. Die unausgestandene Finanz- und Wirtschaftskrise, der schwere wirtschaftliche Einbruch Japans als Folge von Erdbeben, Tsunami und mehrfachem Super-GAU, der Sturz arabischer Regierungen und Dauererhebungen in anderen Ländern dieser Region, der NATO-Krieg gegen Libyen ... und das alles vor dem Hintergrund der wachsenden globalen Nahrungsnot, des Klimawandels, des Verlusts an Biodiversität sowie der Verknappung des zentralen Katalysators der Industriealisierung, des Erdöls. Vorherzusagen, welche gesellschaftlichen Verhältnisse in zwei, fünf oder zehn Jahren in Deutschland und der Welt vorherrschen, erscheint ziemlich gewagt. Folglich wäre der Atomausstieg auch erst dann sicher, wenn das letzte Akw vom Netz geht, was bedeutet: Je früher, desto besser.

Für die Anti-Akw-Bewegung ist spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen, den Widerstand unverzüglich auf andere Länder zu erweitern und sich enger zu vernetzen. Denn was nutzte es, wenn in Deutschland keine Akws laufen, aber in den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz, Tschechien. Nicht weniger wichtig, müßte die Bewegung an jene grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen, die mit der Wachstumsideologie, den Produktionsverhältnissen, der entfremdeten Arbeit, dem profitorientierten Wirtschaften, kurzum, der Vergesellschaftung des Menschen und seiner Atomisierung zu tun haben, anknüpfen. Nur so ließe sich verhindern, daß Atomkraftwerke lediglich durch andere Energiegewinnungsformen, die womöglich ein zukünftiger, durch eine noch repressivere Mangeladministration gekennzeichneter Ökofaschismus mit sich bringen würde, ersetzt werden.

Gefährlich an der bisherigen Atompolitik der Regierung ist nicht allein die Verbreitung von radioaktiven Substanzen oder das Unfallrisiko, sondern vor allem die verantwortungslose Einstellung, solche Dinge wie Atomkraftwerke überhaupt in die Welt setzen zu dürfen. Mit dem bloßen Abschalten der Akws werden lediglich Symptome bekämpft. Das ist, wie bei einem Fieber, fürs erste unverzichtbar, aber sodann sollte es um einen grundsätzlichen Angriff gegen die Voraussetzung der Symptomatik, die menschenverachtende Denkweise, die überhaupt zur Einführung der Atomtechnologie geführt hat, gehen. Es sollte nicht vergessen werden, daß der Bau der Atombombe und der Wunsch, ein ultimatives Zerstörungspotential entfalten zu können, dem Bau des ersten der öffentlichen Stromversorgung dienenden Atomkraftwerks vorausging. "Atomkraft nein Danke!" heißt deshalb immer auch "Atombombe nein Danke!".

30. Mai 2011