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HERRSCHAFT/1619: Arbeitsethos und sozialer Krieg ... mit Sarrazin zu den Gewinnern gehören (SB)



Er bereue nichts, gibt Thilo Sarrazin gegenüber der "Zeit" zu verstehen. Warum auch, möchte man angesichts des Erfolges seines vor einem Jahr erschienenen Buches "Deutschland schafft sich ab" fragen? Daß er sich gleichzeitig darüber beschwert, zu Unrecht mißverstanden und beleidigt worden zu sein, gehört zur Märtyrerrolle des Rufers in der Wüste wie das Abstreiten jedes Vorwurfs, in seinen Urteilen gegenüber der migrantischen Bevölkerung verallgemeinere er auf rassistische Art und Weise. Der SPD-Politiker hat die Taktik, mit verletzenden Aussagen aufzuwarten und sich dann, wenn er Gegenwind bekommt, als verfolgte Unschuld zu bemitleiden, im Rahmen seiner zahlreichen öffentlichen Auftritte so perfektioniert, daß sie ihm zur zweiten Natur seines demagogischen Raisonnements geworden ist.

Dabei hat Sarrazin allen Grund dazu, innerlich zu triumphieren. Nicht nur, daß er als Stimme der schweigenden revanchistischen Mehrheit Zuspruch von allen Seiten bekommt, der ehemalige Bundesbanker darf seine rassistischen Invektiven, ganz anders als der gemeine NPD-Funktionär, wie unlängst im Kulturmagazin Aspekte zur besten Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen von sich geben. Längst ist seine öffentliche Persona über die eines umstrittenen Autoren hinausgewachsen. Der in Gesprächen mit Journalisten niemals fehlende Verweis auf sein Buch wie dessen Präsentation vor vollen Häusern sind Katalysatoren einer neurechten Aggressivität, für die nicht etwa die Zeit, sondern die krisengeschüttelte Arbeitsgesellschaft überreif ist. Die notorische Klage, die meisten seiner Kritiker hätten ja nicht einmal sein Buch gelesen, lenkt von der simplen Tatsache ab, daß man den Mann nur bei einem seiner zu vielen Gelegenheiten geäußerten Worte nehmen muß, um den feindseligen Charakter seiner Mission zu erkennen.

Sarrazins Popularität ist der Legitimation eines Arbeitsethos geschuldet, dessen widersprüchlicher Charakter nicht an den gesellschaftlichen Bedingungen, die ihn hervorgebracht haben, dingfest gemacht, sondern der auf der Bahn sozialer Konkurrenz zur Sicherung herrschender Verhältnisse verstetigt werden soll. So dient der islamfeindliche Charakter seines auf die demografische Durchsetzungskraft völkisch bestimmter Gruppen der Gesellschaft abgestellten Diskurses ebensosehr der Diffamierung durch biologistische Nationalpathologien stigmatisierter Menschen, wie diese Stoßrichtung den sozialdarwinistischen wie imperialistischen Charakter seines Arguments überdeckt, Deutschland sei für die Zukunft des globalen Wettstreits schlecht gerüstet, weil die Zuwanderung aus Kulturen von geringerer Intelligenz und Entwicklung die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit untergrabe.

Damit macht Sarrazin den genuin rechten Diskurs neokonservativer Kulturkämpfer zur ideologischen Legitimation der sozialdemokratisch regulierten Arbeitsgesellschaft fruchtbar. Indem er die Produktivität zum ultimativen Maßstab individueller Vergesellschaftung erhebt, singt er ein Loblied auf die kapitalistische Verwertbarkeit abstrakter Arbeit, in der der Mensch lediglich als einer von mehreren Regelgrößen betriebswirtschaftlicher Kalkulation vorkommt. Indem er dieses Leistungsvermögen biologistisch und kulturalistisch begründet und verallgemeinert, etabliert er ein Bezichtigungskonstrukt, das das überflüssig gemachte Subproletariat nicht minder diffamiert, als in der Bundesrepublik lebende Musliminnen und Muslime für den Niedergang der Nation verantwortlich gemacht werden. Erstere allerdings zieht er mit letzeren auf seine Seite, kann sich der deutsche Langzeiterwerbslose doch durch besondere Anpassungsanstrengungen rehabilitieren, während bei "unproduktiven" Kulturfremden schon aus Mentalitätsunterschieden nicht davon auszugehen ist, daß sie ihre Integration in die deutsche Arbeitsgesellschaft erfolgreich vollziehen oder dies auch nur wollen.

Zu der Frage, ob es für den Menschen überhaupt wünschenswert wäre, sich dem Zwang zur fremdbestimmten Verwertung seiner Arbeitskraft zu unterwerfen und seine sozialen Beziehungen dem Diktat der Warenform unterzuordnen, dringt das Publikum Sarrazins schon deshalb nicht vor, weil das von ihm angebotene Schuldstigma, vor allem Muslime seien an "unserer" Misere schuld, auf zweckdienliche Weise polarisiert. So empfiehlt sich der SPD-Politiker als Krisenmanager im Ressort kapitalistischer Legitimationsproduktion, wo aus dem Arsenal kulturalistischer Bedrohungsszenarien geschöpft wird, um Ressentiments gegen eine von ethnischen und religiösen Ausschlußkriterien freie Politik wie jegliche Form linker Kapitalismuskritik zu schüren, die den anwachsenden Rassenhaß als Apologie herrschender Verhältnisse anprangert.

Sarrazin macht sich, ob er nun aus seiner Partei heraus kritisiert oder von rechten Genossen vor einem Parteiausschluß geschützt wird, so oder so für die Qualifizierung autoritärer Verfügungsgewalt im Maßnahme- und Notstandsstaat verdient. Die Unfähigkeit seiner bürgerlichen Gegner, seinen sogenannten Rechtspopulismus als integrales Element einer affirmativen Arbeitsdoktrin zu kritisieren, die die gesellschaftliche Reproduktion durch sozial bestimmte und rassistisch codierte Ein- und Ausschließungsprozesse organisiert, verhindert, daß die tendenzielle Faschisierung der sogenannten Mitte der Gesellschaft bloßgelegt wird. Die Mobilisierung seiner Unterstützer für die autoritäre Transformation von Staat und Gesellschaft dient ganz anderen Zielen, als die Privilegien eines vermeintlich ausmanövrierten Bürgertums wiederherzustellen.

Einen Monat nach dem Massaker, das der weiße Suprematist und Kreuzzügler Anders Behring Breivik an den Aktivistinnen und Aktivisten einer sozialdemokratischen Jugendorganisation angerichtet hat, bei der Rückschau auf ein Jahr Sarrazin-Debatte nicht danach zu fragen, ob der SPD-Politiker nicht eine geistige Nähe zu den theoretischen Elaboraten dieses Massenmörders erkenne, könnte den integrativen Charakter der Freund-Feind-Dichotomie Sarrazins nicht besser dokumentieren. Als Exponent einer neofeudalen Elitenherrschaft, deren honoriger Legalismus soziale Verelendung und gerechte Kriege produziert, genießt Sarrazin weit mehr Anerkennung, als die medialen und politischen Meinungsführer eingestehen wollen. Sie selbst sind an seiner Aufwertung zum Disputanten in einer seriösen gesellschaftlichen Debatte beteiligt, bedienen sie sich seiner doch zur reaktionären Zurichtung eines von der Erschütterung ihrer Lebenswelten verunsicherten Bürgertums auf unvermitteltere Formen der Unterwerfung und Ausgrenzung des sozialen Widerstands.

Breiviks Haß auf die kulturelle und marxistische Linke, sein entschiedener Wille, den von neokonservativen Geostrategen und fundamentalistischen Christen ausgerufenen Kampf der Kulturen ohne Rücksicht auf die eigene Person mittels einer Gewalttat von erschreckender Grausamkeit ins Stadium des offenen Bürgerkriegs zu versetzen, die umfassende theoretische Ausarbeitung einer dazugehörigen Doktrin, die Gemeinsamkeiten mit der hierzulande etablierten Islamfeindlichkeit wie der US-amerikanischen Doktrin des Terrorkriegs aufweist, sind Alarmsignale für eine Offensive von rechts, die aufgrund ihrer Integration in die administrative und ideologische Logik westlichen Hegemonialstrebens von ganz anderer Gefährlichkeit ist als der klassische Nazismus am rechten Rand. Die Mitte der Gesellschaft ist der Ort, an dem der politische Konsens formiert und der Vollzug auch drastischer Konsequenzen wie etwa die Einrichtung von Arbeitslagern, die Entrechtung linker Opposition oder das Führen von Eroberungskriegen legitimiert werden. Natürlich verwahrte sich Sarrazin strikt und empört dagegen, auch nur in die entfernte Nähe zur Tat eines Breivik, dem das Stigma eines "christlichen Terroristen" nicht umsonst erspart geblieben ist, gerückt zu werden. Die inhaltliche Verwandtschaft des beide antreibenden Ressentiments als solche zu benennen wäre im Falle muslimischer "Haßprediger" und "Terroristen", linksradikaler Intellektueller und militanter Aktivisten so selbstverständlich, wie es unter Biedermännern tabu ist.

siehe auch:
BERICHT/052: Dreikönigstreffen mit Sarrazin ... vom Diskurs zum Tribunal (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prber052.html

25. August 2011