Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1626: "... ihrem Gewissen unterworfen" - große Oper im Bundestag (SB)



Das Gewissen, dem ein Parlamentarier allein unterworfen sein soll, ist aus praktischem Grund ein Numinosum. Als Platzhalter einer dieser Instanz vermeintlich eingeschriebenen Moral besagt der prominente Grundsatz des Artikels 38, Absatz 1 des Grundgesetzes nicht mehr, als daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Mandatsträger eines Souveräns sind, der seinerseits so sehr durch Abwesenheit glänzt, als er auf dem Papier nämlichen Gesetzestextes beschworen wird. De facto sind die Parlamentarier, wenn man an die jüngste Abstimmung zum sogenannten Euro-Rettungsschirm denkt, der Bestandssicherung des Kapitals verpflichtet, so daß die mögliche Gewissensfrage, wieso das privatwirtschaftliche Kreditwesen nicht verstaatlicht wird, gar nicht erst gestellt wird.

Von daher kann dem Kommentator der Süddeutschen Zeitung, der die Gewissenspflicht der Abgeordneten am 4. Oktober als "schöne Legende" und "Beispiel für die Asymmetrie von Theorie und Praxis" bezeichnete, nicht einmal widersprochen werden. Dennoch läßt die Selbstverständlichkeit, mit der der vieldiskutierte Schlagabtausch zwischen dem Rettungsschirmkritiker Wolfgang Bosbach und Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in den bürgerlichen Medien als bloßes Problem der Etikette behandelt wird, tief blicken angesichts des ansonsten dort angeschlagenen hohen Tons unbedingter Gesinnungskonformität. Weichen etwa Abgeordnete der Linkspartei aus gutem Grund davon ab, wird die Heilige FdGO-Inquisition ebenso lautstark angerufen, als der Furor selbstgerechter Empörung schlagartig verebbt, wenn der konstitutionelle Anlaß der nach links eingeforderten Bekenntnispflicht bei der Disziplinierung einer bürgerlichen Fraktion das Klo hinuntergespült wird.

Weil man sich nicht mit der umfassenden politischen Konditionierung des angeblich unabhängigen Abgeordnetenmandats auseinandersetzen will, bringt man auf dessen Ruine performative Ersatzhandlungen von hohem Skandalwert zur Aufführung. So konnte der als Innenpolitiker gerne die Grenzen exekutiver Handlungsgewalt über die verbliebenen Garantien bürgerrechtlichen Schutzes hinaustreibende Bosbach sich unter wohlmeinender medialer Aufmerksamkeit als einsamer Streiter für parlamentarische Unabhängigkeit inszenieren. Wie es den Mitgliedern einer Bundestagsfraktion ergeht, denen die völlig unbegründete öffentliche Bezichtigung, sie verbreiteten antisemitisches Gedankengut, ebensowenig erspart bleiben darf, wie ihnen der Kommunismusvorwurf nicht zur Ehre gereichen soll, interessiert professionelle Abgeordnetenversteher hingegen keinen Deut. Viel lieber beteiligen sie sich an der Maßregelung einer systematisch in die ideologische Enge getriebenen linken Opposition, indem sie Vorwürfe wie den genannten kolportieren. Im Ergebnis geht es um nichts anderes als die Durchsetzung einer von Kapitalinteressen formierten Gesellschaft, was die Subordination parlamentarischer Willensbildung unter diese selbstredend voraussetzt. Die mit beschwingter Feder postulierte Asymmetrie zwischen Verfassungsanspruch und -wirklichkeit dient dabei nicht minder als Schild und Schwert dieser Interessen wie die Verharmlosung imperialistischer Aggression als "asymmetrische Kriegführung".

6. Oktober 2011