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HERRSCHAFT/1708: Wie "Halbstarke" zu wirklicher Stärke gelangen können ... (SB)



Wie "Halbstarke" führten sich die Mitglieder der griechischen Regierung auf, wenn sie "nach dem Motto 'Frechheit siegt' versuchen, Druck auszuüben", und darauf hofften, daß am Schluß alle froh seien, "wenn sie irgendwie zu irgendwas sich bereit erklären" [1]. Was der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich nach dem Treffen der Finanzminister der Eurozone am Donnerstag zur Verhandlungsstrategie Athens ins Mikrofon sagte, griff die beim Griechen-Bashing besonders rührige FAZ im heutigen Kommentar gerne auf: "Wie eine Gruppe Halbstarker toben sich die Griechen in Brüssel aus. Einerseits versetzen sie damit das bemüht kollegiale Aufsichtspersonal der Erziehungsanstalt Eurogruppe in Angst und Schrecken. Andererseits sorgen sie für einhellige Ablehnung. Warum machen sie das? Offenbar sind sie sicher, dass die Euroländer weiterzahlen, egal, was passiert". [2]

Damit legt das Frankfurter Leitmedium des deutschen Kapitals den Finger in eine Wunde, die wirklich weh tut. Die auf 320 Milliarden Euro aufgelaufene Staatschuld Griechenlands muß als Zahlungsforderung aufrechterhalten werden, nicht nur um einen Zusammenbruch der Gläubigerbanken zu verhindern, sondern die Glaubwürdigkeit des EU-europäischen Kreditgeldes insgesamt zu sichern. Dem Ärger über die "halbstarken" Hellenen liegt die Gewißheit zugrunde, daß gerade der immense Umfang des Minus, in dem sich der griechische Staat befindet, den Schuldnern eine Art negativer Handlungsmacht an die Hand gibt. Die von der Bundesregierung Anfang des Jahres ventilierte Option, Griechenland aus dem Euro ausscheiden zu lassen, weil dies aufgrund der angeblich positiven Entwicklung in der Eurozone verkraftbar wäre, diente zu nichts anderem, als die Luft aus einer Verhandlungsposition zu lassen, deren Stärke im Endeffekt auf dem fiktiven Charakter des Geldes beruht, das in das Geschäft mit der griechischen Schuld investiert wurde.

In einem Währungssystem, das über ein einziges Geld, aber national höchst unterschiedliche Möglichkeiten der Kreditaufnahme verfügt, haben die Gewinne aus dem zwischenstaatlichen Handel entsprechende Verluste auf der Seite der Abnehmer dieser Waren und Dienstleistungen zur Folge. Wo die Exporte aus der im Produktivitätsvergleich Griechenland weit überlegenen Bundesrepublik nur mit Hilfe hochverzinster Kredite bezahlt werden können, baut letztere nicht nur ihren Leistungsbilanzüberschuß aus, sondern häuft reale politische Macht über den Abnehmer ihrer Produkte an. Von daher führt die Behauptung, "die Griechen" hätten über ihre Verhältnisse gelebt und sich auf Kosten deutscher Unternehmer und Lohnabhängiger ein gutes Leben gemacht, planmäßig in die Irre. Zwar konnten sie aufgrund des Beitritts zum Euro zu günstigeren Bedingungen als zuvor einkaufen, fütterten gleichzeitig aber auch die Finanzwirtschaft, die die dazu erforderlichen Kredite gewährte, mit den darauf erhobenen Zinsen. Wäre die anwachsende Verschuldung Griechenlands nicht immanenter Bestandteil des Wachstumsmodells der Eurozone gewesen, dann hätte man beim Beitritt des Landes zum Euro genauer hingeschaut, anstatt sich später über das Vortäuschen falscher Wirtschaftsdaten zu beschweren.

Die Solvenz von Gläubigerstaaten wie der Bundesrepublik wird von den internationalen Kreditgebern durch die geringen Kosten quittiert, die für den Staat bei der Plazierung von Anleihen am Finanzmarkt entstehen. Eben diese Bonität wäre in Gefahr, wenn Griechenland sich für zahlungsunfähig erklärte. Dann müßten nicht nur deutsche Steuerzahler, sondern auch Krisenstaaten wie Spanien und Italien für die an Griechenland vergebenen Kredite einstehen. Das bedrohte alle an den dort ebenfalls etablierten Defizitkreisläufen beteiligten Akteure, also auch die Gläubiger dieser Länder.

So dient die Refinanzierung der griechischen Staatsschuld bis heute zum größten Teil der Stabilisierung der internationalen Gläubigerbanken und Finanzinvestoren. Selbst die von den sogenannten Rettungsschirmen ausgegebenen Kredite stellen ein Geschäft für die staatlichen Gläubiger dar, solange die Bedingungen des Schuldendienstes eingehalten werden. Die hierzulande verbreitete Ansicht, irgendwann müsse einmal Schluß damit sein, immer noch mehr vermeintlich gutes Geld ins bodenlose Faß der griechischen Staatschuld zu werfen, nährt den rassistischen Mythos einer deutschen Solidität, die von unzuverlässigen, leichtfertig mit Geld hantierenden Südländern bedenkenlos ausgebeutet wird.

Auch das angeblich so gute deutsche Geld erfreut sich keineswegs der damit suggerierten materiellen Deckung durch ein mit menschlicher Arbeit erwirtschaftetes Wertwachstum. Zwar ist die deutsche Staatsschuld mit rund 80 Prozent des BIP nur halb so groß wie die Griechenlands mit 160 Prozent des BIP, doch in beiden Fällen gilt, daß nicht die Rückzahlung den Wert des Kredits in Kurs hält, sondern lediglich die zuverlässige Bedienung der anfallenden Zinsen. Schulden als solche sind nicht das Problem, sondern der Verfall ihres nominellen Wertes und der dadurch zutage geförderte Mangel an materieller Deckung des zirkulierenden Geldes.

Wie die Niedrigzinspolitik der EZB und die mit dem Euphemismus der Quantitativen Lockerung überschriebene drastische Ausweitung der Geldmenge zwecks der Bereitstellung zinsgünstiger Liquidität für die Banken verraten, hat das Kapital auch acht Jahre nach Beginn der Weltwirtschaftskrise schwerwiegende Verwertungsprobleme. Unter dieser krisenhaften Bedingung mit Hilfe sogenannter Reformen - die immer umfassendere Inpflichtnahme der erwerbsabhängigen Bevölkerung durch Lohn- und Sozialkürzungen wie die Privatisierung und Kommodifizierung aller essentiellen Elemente der Daseinsfür- und -vorsorge - zugleich den Schuldendienst zu gewährleisten und die nationale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern kann, wie das Beispiel Griechenland zeigt, nur in der sozialen Katastrophe enden. Was in der sozialdarwinistischen Vorstellungswelt neoliberaler Ökonomen als "kreative Zerstörung" zu neuer Wettbewerbsfähigkeit auf niedrigerer Ebene nicht zuletzt durch Investitionen in einen Wiederaufbau verhilft, der gar nicht erst nötig wäre, wenn es zur gesellschaftlichen Sozialisierung der Vermögen und nicht der Schulden käme, erweist sich als systematische Zerstörung zur Sicherung etablierter Herrschaftsverhältnisse.

Daher entsteht die soziale Verelendung der Menschen nur sehr bedingt als sogenannter Kollateralschaden im Kampf um die Aufrechterhaltung des EU-europäischen Kreditsystems. Sie ist vielmehr der innere Zweck der Aufhäufung einer Schuld, die zum größten Teil das Ergebnis einer Kapitalakkumulation ist, die auf Grundlage der wundersamen Vermehrung des Geldes aus sich selbst heraus zustande kommt. Da das über Rechts- und Eigentumstitel, Nutzungsgebühren und Lizenzforderungen, Ressourcenausbeutung und Immobilienspekulation wie das Geschäft mit Börsenwerten und Schuldverschreibungen erwirtschaftete Geld den Wert der durch Erwerbsarbeit produzierten Güter und bereitgestellten Dienstleistungen je nach Schätzung um den Faktor 10 bis 20 überschreitet, ist es permanent von Entwertung bedroht. Die menschliche Arbeit als einzige Quelle eines Wertwachstums, das nicht auf der finanztechnischen Vervielfachung von Schulden beruht, hält immer weniger Schritt mit der Realisierung dieses Geldes durch eine zahlungsfähige Nachfrage, die den Konsum von Gütern und Dienstleistungen bezweckt. Um die Menschen dennoch dazu zu zwingen, ihre Lebenskraft und -zeit zu notdürftigen, ihre Reproduktion kaum mehr gewährleistenden Bedingungen zu verkaufen, wird das Kommando über die Arbeit durch die Not eines Mangels ermächtigt, der entsteht, wenn sich Lohnarbeit, wie die hohen Arbeitslosenraten in den EU-Krisenstaaten belegen, immer weniger rentiert.

Das mit dem Wahlsieg Syrizas artikulierte Aufbegehren der griechischen Bevölkerung ist denn auch eines der wenigen Zeugnisse EU-europäischer Demokratie, in der mehrheitlich gegen herrschende Interessen abgestimmt wurde. Diese Entscheidung ist gegen die systemstabilisierende und integrative Formierung des Wählerwillens durch die Vermittlungsfunktionen der Repräsentativen Demokratie so lange immun, als sich die neue griechische Regierung an die wesentlichen Versprechen ihres Wahlprogramms hält. Aus diesem Grunde halten Medien und Politik hierzulande geradezu begierig nach jedem möglichen Zeichen Ausschau, das das Einknicken Athens gegenüber den Forderungen der Gläubiger signalisieren könnte.

Eben dies könnten die von sozialdemokratischen Ex-Pasok-Politikern durchsetzte Regierungspartei Syriza und ihr der nationalen Bourgeoisie verpflichteter Koalitionspartner Anel tun. Damit bahnten sie einem sozial innovativen Krisenmanagement den Weg, das die herrschende Mangelverwaltung dem erreichten Stand sozialer Widersprüche anpaßte, anstatt diese gänzlich zu überwinden. Um eine solche Entwicklung zu verhindern und das Momentum dieser Konfrontation zwischen einer Verfügungsgewalt über die Arbeit, die in den Zahlungsforderungen des transnationalen Kapitals verankert ist und ohne die gesellschaftliche Macht des Privatbesitzes nicht durchzusetzen wäre, und dem Widerstand der internationalen Lohnabhängigenklasse nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, bedarf es einer streitbaren außerparlamentarischen Oppositionsbewegung gegen die Schuldenpolitik und Spardiktate in der ganzen EU und darüber hinaus.

Einer neofeudalen Herrschaft entgegenzutreten, die die Entwertungstendenz des Kapitalverhältnisses in ein Schuldenregime ummünzt, das wie ein Damoklesschwert über jedem Menschen hängt, der nicht über beträchtliches Privateigentum verfügt, birgt mehr Befreiungspotential, als es das vergebliche Abtragen dieser Schuld verheißen könnte. Schlimmer für die Sachwalter der herrschenden Ordnung als jedes "Toben" ist die solidarische und unaufhaltsame Bewegung von Menschen, die nichts zu verlieren haben als die mit allen suggestiven Mitteln eifrig geschürte Hoffnung, sie könnten der sozialen Verelendung oder der totalen Verwertung entkommen, wenn sie nur in der monadischen Existenz eines Marktsubjekts verharrten. Unterwerfung bietet Sicherheit, proklamiert die Sklavenmoral seit Jahrtausenden und hat Erfolg damit, wenn die Enge der Fessel noch ein wenig Raum zur Bewegung läßt.

Was zu nichts anderem führt, als am ausgestreckten Arm der bloßen Aussicht auf Besserung zu verhungern, ist eines der wirksamsten Mittel herrschender Ideologieproduktion. Indem die Menschen das unmittelbar Machbare jeder in Aussicht gestellten Lösung vorziehen, die ihnen abverlangt, eine wie auch immer geartete Schuld abzutragen, bevor sie sie in Anspruch nehmen können, legen sie die Axt an die Wurzel dieser Ideologisierung ökonomischer und staatlicher Gewalt. Indem sie ihre gesellschaftliche Isolation als Erzeuger und Verbraucher, als Spalt- und Zählprodukte des Geldwertes durchbrechen, um auf eine nicht mehr von Tausch und Nutzen bestimmte Weise zusammenzukommen, schaffen sie den Platz, auf dem sie ein Leben ohne Ausbeutung und Unterdrückung erkämpfen können.


Fußnote:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/euro-finanzministertreffen-griechen-haben-ueberhaupt-keinen.694.de.html?dram:article_id=311370

[2] http://www.deutschlandfunk.de/presseschau-aus-deutschen-zeitungen.433.de.html

13. Februar 2015


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